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Kolonialisierung einer widerständigen Kultur: Epistemische Gewalt und Epistemizid als spezielle Kriegsstrategie in Kurdistan

  • April 8, 2025
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Ronya Winter, Bildungs- und Forschungskomitee der kurdischen Studentinnenarbeiten Deutschland Der Spezialkrieg und spezielle Kriegsführung zeigen sich in allen Dimensionen unseres Alltags in Rojava. Denn diese spezielle und psychologische

Kolonialisierung einer widerständigen Kultur: Epistemische Gewalt und Epistemizid als spezielle Kriegsstrategie in Kurdistan

Ronya Winter, Bildungs- und Forschungskomitee der kurdischen Studentinnenarbeiten Deutschland

Der Spezialkrieg und spezielle Kriegsführung zeigen sich in allen Dimensionen unseres Alltags in Rojava. Denn diese spezielle und psychologische Kriegsführung umfasst mehr als einen rein militärisch ausgetragenen Angriff. Die Methoden der Kriegführung haben sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen ausgeweitet und es wird versucht, vor allem die gesellschaftlichen Strukturen anzugreifen. Diese Form des Krieges greift vor allem die gesunde Mentalität – in Form von politischem und verantwortungsvollem Bewusstsein – in jedem einzelnen Individuum der Gesellschaft an. Es wird versucht dieses Bewusstsein zu verändern. Es ist eine Form der Kolonialisierung der Mentalität. Besonders die widerständige Haltung der kurdischen Gesellschaft, gegenüber den Angriffen der Ideologie der kapitalistischen Moderne, hat sie zu einem der Hauptangriffsziele gemacht. Diese widerständige Kultur rührt aus einer zehntausende Jahre alten Tradition der demokratischen Zivilisation, die in Mesopotamien ihren Anfang nahm. Die demokratische Zivilisation musste aber auch hier den drastischen und gewaltvollen Übergang zur Zentralzivilisation (kapitalistische Zivilisation von Herrschaft und Unterdrückung) erleben. Auch heutzutage sind Kurd:innen einem sehr grausamen Spezialkrieg ausgesetzt, der auf sehr unterschiedlichen Ebenen geführt und gelenkt wird. Dieser Krieg hat das Ziel, die gesellschaftlichen Strukturen zu schwächen, zu übernehmen und ins staatliche System der kapitalistischen Moderne einzugliedern.

Eine besondere Form der speziellen Kriegsführung, die wir weltweit gegenüber unterdrückten Völkern sehen können, ist die epistemische Gewalt und speziell der »Epistemizid«. Dieser Begriff wurde von dem portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos geprägt und beschreibt die systematische Auflösung und Auslöschung von Wissenssystemen innerhalb von Gesellschaften. Er selbst bezeichnet es als »Wissens-Mord«. Damit kann Epistemizid auf einer Ebene mit Genozid und der Auslöschung ganzer Völker und Gesellschaften beschrieben werden und lässt sich post- und dekolonialen Theorien zuordnen. Epistemologische Gewalt wiederum ist ein Begriff um Formen indirekter Gewalt in Zusammenhang mit der Produktion, Verbreitung und Anerkennung von Wissen zu beschreiben.

Um die Bedeutung und Folgen von epistemischer Gewalt besser zu erklären, ist es sinnvoll, die Art der speziellen und psychologischen Kriegsführung genauer zu beschreiben. Bevor wir uns der eigentlichen Thematik widmen, werden wir vor allem nochmal näher auf die Definition von Wahrheit und Erkenntnis eingehen, denn nur mit einem Verständnis der Ideologie der demokratischen Moderne lassen sich System und Wahrheit, staatliche Repression und gesellschaftliche Werte auseinander halten und voneinander differenzieren.

Was ist Wissen und woher beziehen wir solches?

Was bedeutet für uns Wahrheit? Wo beginnt sie und wo hört sie auf? Alternative Wissensquellen zu benutzen und darauf zu beharren, dass wir darin unsere eigene Wahrheit finden werden, ist essentiell um eine klare Haltung gegen die Ideologie und Mentalität der kapitalistischen Moderne leben zu können. Worauf läuft das genau hinaus? Als Grundbaustein für weitere Schritte müssen wir verstehen, wie und wo sich unsere Wahrheit von der des Systems der kapitalistischen Moderne unterscheidet und wo genau diese auf der anderen Seite immer wieder gezielt, mit der Absicht der Zerstörung, angegriffen wird. In der Geschichte wurden manche Wissenssysteme mit Gewalt durchgesetzt und andere wurden vernichtet. Diese Wissenssysteme besitzen unterschiedliche Methoden, um die Wahrheit zu beschreiben und beziehen sich auf unterschiedliche Erkenntnisse. »Episteme« als Begriff kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet nichts anderes als »Erkenntnis« oder »Wissen«. In der Geschichte gab es viele unterschiedliche Methoden und Wege, wie Gesellschaften sich das Leben und den Sinn dahinter erklären. Um Wahrheit zu verstehen gab und gibt es immer noch mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche Ansätze. Dabei lässt sich erkennen, dass vor allem in der kapitalistischen Moderne ein Großteil dieser Ansätze nicht mehr als wissenschaftlich fundiert angesehen wird. Damit einher geht ein immer größerer Fokus auf die Methode der positivistischen Wissenschaft. Die dogmatische Versteifung auf eine Erklärung vom Sinn des Lebens und dem Leben insgesamt mit der Methode der positivistischen Wissenschaft führt heutzutage immer mehr zu positivistischen Ansichten und Beschreibungen. Der Positivismus zerteilt eine große gesamtheitliche Wahrheit in viele kleine Teile. Manchen Teilen wird dabei mehr Wert zugesprochen, andere wiederum werden als unwichtig erklärt. Auch das Wissen als solches wird in richtig und falsch, wissenschaftlich belegbar und nicht belegbar, zerteilt. Dadurch verengt sich der Blick insgesamt.

Eurozentrismus als hegemoniale Denkstruktur

Herrschafts- und Machtapparate akkumulieren Wissen. Eurozentrismus ist ein universalistisches Wissensmodell und wird als alleinige Basis von Wissen dargestellt. Das lässt sich ganz einfach daran erkennen, welche Formen von Wissen als Wissenschaft bezeichnet werden können und welche nicht. Die Basis dafür bildet die Ideologie des Positivismus als einer der Grundpfeiler der kapitalistischen Moderne. Vor allem in Universitäten stellt sich die Frage der wissenschaftlichen Fundiertheit, sei es aus Texten, Diskussionen oder Erfahrungen. Einhergehend mit einer eurozentristischen und positivistischen Perspektive, in der eine extreme Trennung von Objekt und Subjekt vorherrscht, ist der Forschende und »Wissende« größtenteils ein weißer Mann, der wiederum das »Andere« erforscht, sei es die Frau oder andere Kontinente. Ein gutes Beispiel für den Eurozentrismus als hegemoniale Denkstruktur ist die Behauptung, dass Europa mit unaufhörlichem Fortschritt verbunden sei. Mit anderen Worten wird dadurch behauptet, dass Europa, als Zentrum der kapitalistischen Moderne, am fortschrittlichsten sei. Dabei lässt sich aber auch erkennen, wie durch Kolonialisierung eine selektive Aneignung von kulturellen Gütern vonstatten gegangen ist, wie sich Europa und die eurozentristische Mentalität als Zwangskultur auf der gesamten Welt auszubreiten versucht hat und wie Positivismus und Eurozentrismus zu den immer noch anhaltenden und heutzutage existierenden kolonialen Machtstrukturen gehören. Epistemologische Gewalt und auch Epistemizid sind in der alleinigen Anerkennung der Eurozentristischen Denkstruktur zu erkennen und werden dazu genutzt, hegemoniale Machtstrukturen aufrecht zu erhalten und auszubauen.

Der erste Epistemizid der Geschichte

Das Wissen der demokratischen Zivilisation und die damit verbundene erste Revolution der Frau beginnt im neolithischen Zeitalter. Gordon Childe beschreibt diese Revolution als eine, die in ihren Ausmaßen auf der gleichen Stufe der Revolution des 16. Jahrhunderts (Aufklärung) steht.

Innerhalb des Wissenssystems matrizentrischer Gesellschafts­strukturen¹ während des Neolithikums wird davon ausgegangen, dass alles lebendig ist. Daraus lässt sich schließen, dass die Beziehungen zwischen Menschen sowie die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf der Grundlage eines ökologischen Ansatzes gefußt hat. Denn wenn alles lebendig ist, besitzt auch alles einen Wert. Außerdem gibt es dadurch keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, die bekanntlich erst mit dem ersten Geschlechterbruch und dem Ursprung des Patriarchats begonnen hat.² Genau hier lässt sich nach post- und dekolonialen Theorien das erste Mal innerhalb der Menschheitsgeschichte epistemologische Gewalt und sogar ein Epistemizid verorten. Abdullah Öcalan spricht in seinem Buch »Soziologie der Freiheit« davon, dass wir die Frau als älteste Kolonie betrachten können. Die Weltanschauung (Ideologie) sowie das Wissenssystem matrizentrischer Gesellschaften wird demnach seit mehr als 5000 Jahren kolonialisiert, umgedreht und ausgelöscht. Demnach hat der erste Epistemizid in Mesopotamien und Kurdistan stattgefunden. Denn genau hier lässt sich nach mythologischen Erzählungen der erste Geschlechterbruch und der Umschwung zur patriarchalen Weltordnung erkennen. Die Wiege der demokratischen Zivilisation beginnt hier und wird auch genau hier von der Macht und Unterdrückung der Zentralzivilisation überschattet. Hier beginnt die Vernichtung spezifischer Gesellschaftsstrukturen und die Vernichtung von Wissen und Werten um die neue hegemoniale Norm durchzusetzen. Vor allem der Angriff auf die Identität der Frau und damit einhergehend auf intuitives Wissen, Wissen matriarchaler Gesellschaftsstrukturen und matriarchaler Lebensformen ist eng verknüpft mit epistemologischer Gewalt. Dieser Angriff lässt sich innerhalb der Geschichte bis heute als tief verankerte Unterdrückungsform und Kolonialisierung der Mentalität und des Körpers beschreiben.

Epistemizid als spezielle Kriegsführung in Kurdistan

Auch heute verwenden hegemoniale Mächte epistemische Gewalt und »Epistemizid« um alternative Wissenssysteme anzugreifen und auszulöschen. Auch wenn die Bezeichnung Kolonie für heutige besetzte Gebiete im wissenschaftlichen Diskurs kaum noch verwendet wird, besteht Kolonialität gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen dennoch auf allen Kontinenten weiter. In Palästina und natürlich auch in Kurdistan. Es lässt sich weiterhin eine gezielte Wissensvernichtung erkennen. Wo Macht und Herrschaft bestehen, gibt es auch Gewalt. Dabei dürfen wir nicht einfach nur physische Gewalt und Angriffe betrachten, sondern vor allem auch »unsichtbare« und versteckte Formen, die oftmals nicht so leicht erkennbar sind. Die Auslöschung von Wissen und vor allem auch die darauf folgende Assimilierung von Völkern sind ein Teil von gewaltvollen Prozessen. Vor allem die psychologische und spezielle Kriegsführung zeigt sich in dieser Form der Gewalt. Epistemizid – also die Vernichtung von Wissen – führt hierbei zu einer angestrebten Kontrolle der Besatzer über die Weltanschauung und das Wissen der Kolonialisierten. Das Wissen ist demnach eines der wichtigsten kolonialen Eroberungsfelder. Denn politische und ökonomische Kontrolle kann ohne die Kontrolle der Mentalität niemals vollumfänglich abgeschlossen sein.

Als Bestandteil epistemologischer Gewalt haben wir anfangs schon die eurozentristische Hegemonie des Denkens und der Wissenschaft beschrieben. Um Wissens- und Gewaltmonopole aufrechtzuerhalten gibt es die Einteilung in Subjekt und Objekt. Das Objekt ist hierbei »das Andere«. Teil des eurozentristischen Machtmonopols ist die Gewalt gegen jene, die alternative Wissensquellen benutzen. Während die westlich-moderne Wissenschaft sich zur einzig gültigen Form der Wissensproduktion erklärt, werden andere Welterfahrungen und Wissensformen für nicht existent, irrelevant und ungültig erklärt. Alles, was von ihr nicht anerkannt wird, erscheint als eine Form des Unwissens oder als ein Mangel an Kultur. Damit einhergehend wird neben dem Epistemizid auch der Begriff des »Linguizids« genannt. Damit wird die systematische Auslöschung von Sprache beschrieben. Auch innerhalb der Sprachen ist durch die kapitalistische Moderne eine Monokultur entstanden. Es gibt einige auf der gesamten Welt anerkannte Sprachen, wie zum Beispiel Englisch, die in fast jedem Land der Welt im Bildungsplan stehen und mit denen wir uns überall verständigen können. Andere Sprachen jedoch werden ausgelöscht und verboten. Die kurdische Bevölkerung ist besonders in den letzten einhundert Jahren einer enormen Unterdrückungs- und Auslöschungspolitik ausgesetzt gewesen. Dabei wurde als Teil dieser Kriegsstrategie, speziell in Nordkurdistan und Westkurdistan (Rojava), die kurdische Sprache verboten und durch türkische oder arabische Sprachen ersetzt. Lange Zeit stand in Nord- und Ostsyrien Kurdisch nicht im Lehrplan der Schulen. Es wurde nur arabische Schrift und Sprache gelehrt. In Nordkurdistan hält diese Form der Gewalt immer noch an: Die kurdische Sprache ist an Schulen und in Institutionen verboten und wird im Lehrplan nicht mal erwähnt. Die damit einhergehende Zwangsassimilierung ist die Ursache für den Verlust vieler kulturellen Werte und Traditionen. Wissen, welches über Jahrtausende weitergegeben wurde, ist verschüttet worden und Stück für Stück verloren gegangen.Denn das Verbot der Sprache bedeutet vor allem auch eine Entfremdung von der eigenen Identität und Kultur und wird als Instrument epistemologischer Gewalt genutzt. Weiterhin lässt sich epistemologische Gewalt auch in der Hierarchie von wissengenerierenden Institutionen bzw. dem Anerkennen oder Aberkennen von deren Status erkennen. Zum Beispiel wurde 2017 die Rojava-Universität in Qamişlo gegründet. Da die autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien immer noch von vielen Staaten nicht anerkannt worden ist, wird auch der Abschluss des Studiums in Rojava vielerorts nicht anerkannt.

Eine Folge jahrzehntelang anhaltender epistemischer Gewalt gegen die kurdische Sprache und Kultur sind vor allem psychologische Auswirkungen. Zum Beispiel besteht bei einigen Kurd:innen immer noch Scham für die eigene Muttersprache oder Formen verinnerlichter Minderwertigkeit gegenüber den Besatzungsmächten Türkei, Iran, Syrien oder Irak. Damit einhergehend wurde Epistemizid in Kurdistan immer mit dem Erlernen einer Zwangskultur verbunden, denn genau dadurch entsteht eine besonders starke Entfremdung von eigenem Wissen. Sich nicht selbst entwickeln zu können bedeutet gleichzeitig eine Zerstörung des eigenen Selbstbewusstseins und die Entfremdung von der eigenen Identität. In »Soziologie der Freiheit« beschreibt Abdullah Öcalan die Wichtigkeit des Selbstseins und die der Harmonie mit der eigenen Identität mit diesen Worten: »Ich glaube, dass der Mensch die Summe der Wirklichkeit darstellt, die sich zeitlich – soweit es die Wissenschaft erklärt – vom angenommenen Urknall vor mindestens fünfzehn Milliarden Jahren bis heute, und räumlich über das gesamte Universum erstreckt. Das spüre und weiß ich. In diesem Sinne ist Selbsterkenntnis gleichbedeutend mit Kenntnis über die gesamte Zeit und das gesamte Universum.«

In der Türkei wurde lange behauptet, dass es Kurd:innen gar nicht gäbe. Damit wurden die Kurd:innen nicht nur radikal ausgeschlossen, sondern die Existenz eines ganzen Volkes abgesprochen. Genau deswegen können wir Epistemizid auch als Versuch der Auslöschung einer ganzen Gesellschaft beschreiben und sehen darin Ansätze genozidaler Politik. Die Zerstörung eines Wissensparadigmas durch hegemoniale Kulturen hat das Ziel, ein Wissenssystem als minderwertig und zurückgeblieben darzustellen und das Hegemoniale als dominant, überlegen und modern. Kurdistan als nicht existent zu erklären und dessen Status in der internationalen Gemeinschaft nicht anzuerkennen, ist der bis heute anhaltende Prozess der »Epistemizid«-Politik gegenüber dem kurdischen Volk.

 

 

¹ Matrizentrische Gesellschaftsstrukturen meint solche, die um Mütter herum organisiert sind.

² Abdullah Öcalan verortet den ersten Geschlechterbruch in der vor-zivilisatorischen Zeit und beschreibt ihn als Prozess der Etablierung der ersten und längsten andauernden Hierarchie, des Patriarchats, durch die organisierte Kraft eines Bündnisses von Schamanen, erfahrenen Alten und starken Männer. »Was hier usurpiert wurde, waren die Frau selbst, ihre Kinder, ihre Verwandten und all ihre materiellen und kulturellen Werte.« (aus: »Befreiung des Lebens – Die Revolution der Frau« von Abdullah Öcalan)