Prozess gegen Mehmet D. in Hamburg
»Ein fatales Signal«
Martin Dolzer, justizpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen BürgerInnenschaft
Mitte Mai hat vor dem Oberlandesgericht Hamburg der Prozess gegen Mehmet D., einen vermeintlichen Kader der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, begonnen. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 46-jährigen Kurden aus Bakûr (Nordkurdistan – den kurdischen Provinzen der Türkei) die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß § 129b StGB vor. Ihm werden jedoch keine konkreten Straftaten in der Bundesrepublik zur Last gelegt.
Beim § 129b StGB geht es ausschließlich darum, ob eine Organisation vom Justizministerium als terroristisch eingestuft wird. Dieser Paragraph wurde als Folgeinstrument des § 129a entwickelt, um auch politische Organisationen in der BRD verfolgen zu können, die lediglich im Ausland gegen dortiges Recht verstoßen oder gegen Verbündete der BRD Widerstand leisten. Für die PKK erteilte das Justizministerium die Ermächtigung zur Verfolgung gemäß § 129b im Oktober 2010. Seitdem wurden sieben kurdische FreundInnen von Oberlandesgerichten (OLGs) zu Freiheitsstrafen zwischen 2½ und 6 Jahren verurteilt. Darunter auch Ali Ihsan Kitay vom Hamburger OLG zu 2½ Jahren.
Bei den Prozessen gemäß §§ 129 und 129a StGB war es für die Gerichte noch erforderlich gewesen zu beweisen, dass die Ziele der PKK auch in Deutschland entweder auf die Begehung von Straftaten oder aber sogar »terroristischen« Taten (§ 129a) gerichtet waren. Das ist bei Prozessen gemäß § 129b belanglos. Deshalb hat das Gericht nicht mehr die Frage zu beantworten, ob die PKK in Deutschland Straftaten begeht. Die entscheidende Voraussetzung für eine etwaige Strafbarkeit ist die Frage, ob die PKK in der Türkei bzw. überall dort, wo sie bewaffnet kämpft, eine terroristische Vereinigung ist oder legitimen Widerstand leistet.
Der türkische Staat setzt seit weit mehr als dreißig Jahren, im Grunde genommen seit der Staatsgründung 1923, eine systematische rassistische Unterdrückungs- und Kolonialpolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung um. Die kurdischen Provinzen sind faktisch besetzt. Den KurdInnen wird in diesem Rahmen das Selbstbestimmungsrecht, das in völkerrechtlichen Verträgen wie z. B. der Charta der UN verankert ist, vorenthalten. Sicherheitskräfte und Militär begehen ständig Menschenrechtsverletzungen, praktizieren extralegale Hinrichtungen, systematische Folter sowie Kriegsverbrechen, wie z. B. einen Giftgaseinsatz unter der Leitung des jetzigen Generalstabschefs Necdet Özel im Jahr 1999 oder weitere Giftgaseinsätze bis 2011 – das hatten auch die RichterInnen des OLG Hamburg in einer rechtlichen Stellungnahme im Prozess gegen Ali Ihsan Kitay als erwiesen betrachtet.
Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention sind in der Türkei Alltag. Eine Vielzahl von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Berichte von Amnesty International sowie der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD und weitere Dokumente belegen das. In diesem Zusammenhang lässt sich von Staatsterrorismus sprechen. Trotzdem werden diejenigen, die sich im Exil für die Menschenrechte, die Rechte der KurdInnen und eine Demokratisierung der Türkei engagieren, immer noch gemäß § 129b verfolgt. Während die PKK sich seit Jahren für Gleichberechtigung, Frieden und Demokratie einsetzt, ist sie zudem in Europa noch immer auf der »par ordre du mufti« von der EU-Kommission beschlossenen EU-Terrorliste gelistet.
Mehmet D. soll als Gebietsverantwortlicher der PKK von Januar bis Juni 2013 die Region Mitte (Nordrhein-Westfalen) geleitet und dann bis Mitte 2014 für die Region Nord zuständig gewesen sein. Er sitzt seit Ende August 2014 in Untersuchungshaft. Bekannte des Beschuldigten kritisieren, dass mehrfach von Justizbeamten verweigert wurde, Kleidung abzugeben, und für Besuchsgenehmigungen zuständige Beamte des Landeskriminalamts (LKA) oft nicht erreichbar gewesen und dadurch einige mögliche Besuche verhindert worden seien.
Der Prozess begann mit einer Auseinandersetzung, weil das Gericht einen Vertrauensdolmetscher für Mehmet D. verweigert. »Der Dynamik des Verfahrens wird so keine Rechnung getragen. Es muss möglich sein, mit meinem Mandanten jederzeit ohne Prozessunterbrechung zu sprechen«, so Strafverteidiger Rainer B. Ahues. Der Vorsitzende Richter zeigte sich uneinsichtig. Das Gericht lässt auch weiterhin keinen Vertrauensdolmetscher zu.
Anwalt Ahues argumentierte in seinem Eröffnungsplädoyer, dass sich die Lage in den kurdischen Provinzen der Türkei, Syriens und Iraks seit 2011 stark verändert habe und immer deutlicher werde, dass die PKK eine stabilisierende Kraft sei. »Die PKK führt Friedensverhandlungen mit der türkischen Regierung, während sie zugleich im nordsyrischen Rojava demokratische Strukturen aufgebaut hat und gegen die Terrorbanden des Islamischen Staates (IS) und die Al-Nusra-Front kämpft«, so Ahues. Das Gericht sollte darauf dringen, dass das Bundesjustizministerium die 2011 gegebene Ermächtigung zur Strafverfolgung der PKK gemäß § 129b aufhebe. »In Rojava leben sämtliche Bevölkerungs- und Religionsgruppen friedlich zusammen. Hier zeigt sich die demokratische Ausrichtung der Organisation.« Das Festhalten am PKK-Verbot sei eine außenpolitisch sinnlose Handlung der Strafrechtspflege, durch den § 129b werde die Gewaltenteilung aufgehoben. Die Organisation solle auf Grundlage der jetzigen Realität neu bewertet werden, die Bundesanwaltschaft (BAW) gehe dagegen von Erkenntnissen aus dem Jahr 2004 aus. Rund dreißig ZuschauerInnen applaudierten.
Mehmet D. gab ebenfalls am ersten Prozesstag eine Prozesserklärung ab. Er beschrieb Menschenrechtsverletzungen und systematisches Unrecht der türkischen Regierung, Armee und Sicherheitskräfte seit 1990 und wie er selbst und seine Familie davon betroffen sind. »Die Regierung Erdoğan unterstützt offen den IS und die Welt schaut zu«, sagte er, um die reale Situation zu beschreiben. Immer wieder gab es Waffenlieferungen an den IS, der auch infrastrukturell und medizinisch in der Türkei versorgt wird. 2014 hätten türkische Armee und Polizei 48 Menschen bei Protesten gegen die Unterstützung der DjihadistInnen ermordet. Abdullah Öcalan habe Newroz 2013 zu Frieden und Demokratie aufgerufen. Trotz Provokationen und täglichen Militäroperationen halte die PKK weiter am Friedensprozess fest und habe seit 1993 neun einseitige Waffenstillstände ausgerufen. Der Kampf der PKK und ihrer Verbündeten gegen die Terrormiliz IS habe weltweit Anerkennung gefunden, auch im Europaparlament. Trotzdem stehe die Partei auf derselben Terrorliste wie der IS: »Das ist großes Unrecht«, erklärte Mehmet D.
Der Vorsitzende Richter Rühle sagte: »Sie haben aus Ihrer Einstellung keinen Hehl gemacht«, und fragte, ob Mehmet D. sich dazu bekenne, einen Sektor der PKK in Deutschland geleitet zu haben. Eine Zuschauerin hielt dem entgegen: »Wenn Sie hier nicht Unrecht, sondern Recht sprechen und die Realität anerkennen würden, wäre das sicher eine Option.«
An den folgenden Prozesstagen sagten Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) aus. Die RichterInnen befragten sie hauptsächlich dazu, ob Mehmet D. für die Organisierung von Festen wie dem Newrozfest, Kulturveranstaltungen und Demonstrationen wie der gegen die Ermordung von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris zuständig war – und ob er in Konflikten in der kurdischen Community vermittelt habe. Zudem war dem Gericht wichtig, inwieweit er in die bundesweiten und europaweiten Strukturen, die der PKK zugeordnet werden, eingebunden war. Darum, ob er irgendetwas Strafbares getan hat, geht es, wie gesagt nicht. Sämtliche völkerrechtlichen und politischen Aspekte werden bisher ausgeblendet. Das Gericht geht wohl davon aus, dass diese Aspekte in den bisherigen §129b-Verfahren ausreichend geklärt wurden. Der Dynamik der Situation im Mittleren Osten wird bisher auf keine Weise Rechnung getragen.
Mit mehreren Anträgen versuchte die Verteidigung zu verhindern, dass aktenweise vermeintliche Beweise im Prozess durch das sogenannte Selbstleseverfahren eingeführt werden. Das heißt, dass lediglich die RichterInnen, die BAW und Mehmet D. die Akten lesen, sie im Prozess jedoch nicht vorgetragen werden. Dadurch wird die Öffentlichkeit weitgehend vom Prozess ausgeschlossen und eine dynamische Diskussion des Inhalts der Akten verhindert. Die Anträge wurden meist abgelehnt.
Zudem wurde deutlich, dass die Beamten des BKA völlig asymmetrisch ermittelt haben. Offenbar wird seitens der Verfolgungsbehörde nicht im Ansatz versucht, den Konflikt in der Türkei und die Konflikte im Mittleren Osten zu verstehen. Stattdessen wird weiter einseitig die Deutung der PKK als Terrororganisation aufrechterhalten, der alleinig die Verantwortung für den Konflikt/die Konflikte zugeschrieben wird. Klar wurde auch, dass weiterhin Vorurteile und laienhaftes und zumeist veraltetes Halbwissen die Einschätzung der Situation prägen.
Bereits vor Beginn des Prozesses hatten etwa fünfzig UnterstützerInnen vor dem Gerichtsgebäude demonstriert. Immer wieder finden Kundgebungen für den kurdischen Politiker vor dem Untersuchungsgefängnis statt, die vom Bündnis Freiheit für Mehmet D. organisiert werden.
Als justizpolitischer Sprecher der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft fordere ich die Aufhebung des PKK-Verbots und die Freilassung aller ihrer in Deutschland inhaftierten Mitglieder. DIE LINKE erhebt dieselben Forderungen. Die PKK steht für Frieden und Demokratie. Die BAW betreibt mit diesem Prozess zudem eine asymmetrische Verfolgung und Außenpolitik mit den Mitteln des Strafrechts. Der Vorwurf der BAW, dass die Volksverteidigungskräfte (HPG) Anschläge, die auf Mord und Totschlag orientiert sind, durchgeführt hätten, entbehren jeglicher nachvollziehbaren Grundlage – völkerrechtlich gesehen handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen einer staatlichen Armee und KombattantInnen.
Dass statt fünf RichterInnen, wie normalerweise, nur drei die Kammer des OLG Hamburg im Prozess gegen Mehmet D. bilden, ist bei der Schwere des Vorwurfs respektlos. Es ist durch den bisherigen Prozessverlauf absehbar, dass das Gericht bemüht ist, den Prozess möglichst schnell zu Ende zu bringen. Es ist ein fatales Signal, dass die BAW einen solchen Prozess zu einem Zeitpunkt anstrengt, an dem die PKK im Mittleren Osten in der Auseinandersetzung mit den Terrorbanden des Islamischen Staates IS kämpft und dadurch hunderttausende ÊzîdInnen, ChristInnen und Angehörige weiterer Bevölkerungsgruppen vor Misshandlung und Ermordung schützt. Es ist ebenfalls verheerend, da in der Türkei erneut regierungsnahe Kräfte versuchen, durch Anschläge und Provokationen einen BürgerInnenkrieg herbeizuführen. Präsident R. T. Erdoğan heizte die Stimmung vor der Parlamentswahl in der Türkei mit aggressiver Rhetorik an. In den letzten Monaten hat das türkische Militär, trotz Friedensprozess seitens der PKK, immer wieder Militäroperationen durchgeführt. Auch der Islamische Staat wird noch immer offen unterstützt.
In Anbetracht dessen ist es höchste Zeit, dass die Bundesregierung ihre Zusammenarbeit mit einer Regierung wie der von Erdoğan/Davotoğlu auf den Prüfstand stellt und die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit mit ihr beendet. Um ein positives Signal für eine friedliche Entwicklung des Mittleren Ostens zu setzen, sollte zudem sofort die Verfolgungsermächtigung gemäß § 129b aufgehoben und die PKK als das eingeschätzt werden, was sie ist – eine Kraft, die für Gleichberechtigung, das friedliche Zusammenleben aller Bevölkerungs- und Religionsgruppen und eine partizipative Demokratie wirkt.
Die Aleviten und ihre Entscheidung für die HDP
Aktiv für eine gemeinsame Zukunft
Mehmet Sürmeli
Am 7. Juni findet eine der kritischsten Parlamentswahlen statt. Deswegen kritisch und wichtig zugleich, da ihr Ausgang für die Zukunft der Türkei entscheidend ist. Entweder geht die Türkei in eine radikale Demokratie über oder es herrscht ein oligarchischer »grüner« Faschismus mit der Gefahr eines Bürgerkrieges. An diesem Punkt können wir von einem Scheideweg für die den Staat weitgehend determinierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) sprechen.
Wenn die HDP (Demokratische Partei der Völker) als Alternativkraft zur AKP hier die Wahlhürde von zehn Prozent überwindet, wird die Türkei, zurzeit eine Republik ohne Demokratie, erstmalig in ihrer Geschichte eine ernsthafte Chance auf Demokratisierung erhalten. Aus diesem Grund ist die häufig verwendete Formulierung »Schicksalswahl« zutreffend.
Die kurdische Freiheitsbewegung, die Widerstand gegen den Faschismus des 12. Septembers [Militärputsch 1980] und die nachfolgenden oligarchischen, faschistischen und kolonialen Regime geleistet hat und leistet, hat wie ein Eisbrecher Bereiche eröffnet, in denen sich alle gesellschaftlichen Kreise und Unterschiedlichkeiten, die ausgegrenzt und verleugnet wurden, artikulieren können. So ist das Projekt der Republik als »ein Staat, eine Nation, eine Religion«, ein Resultat der praktizierten Vereinheitlichungspolitik, ausgehebelt worden. In den geschaffenen Freiräumen fordern alle gesellschaftlichen Kreise und Verschiedenheiten ihre Existenz als sie selbst und eine verfassungsrechtliche Garantie ihres Status, um jedweder Vernichtung, Verleugnung und Assimilation zu entkommen. Aus diesem Grund steht die Türkei an einem Scheideweg und die Wahlergebnisse sind daher entscheidend für ihr Schicksal.
Wo sollten dabei die Aleviten stehen und welche Aufgabe haben sie?
Jede gesellschaftliche Gruppe bildet ein Ganzes mit ihren Rechten, sowohl den individuellen als auch denen als Gemeinschaft, und agiert im Sinne der gemeinsamen Interessen. Wir können drei grundlegende Faktoren benennen, die ihr gemeinsames Wirken erklären. Erstens der Gemeinschaftssinn, zweitens die Organisations- und Aktionskraft, drittens das korrekte Verständnis von einem Bündnis. Wenn wir in diesem Rahmen, ohne im Rückblick auf die lange Historie einzugehen, die junge alevitische Geschichte betrachten, kommen wir zu folgendem Ergebnis:
Bis zum Dêrsim-Massaker (1937/38) waren die Aleviten nicht in die Regierung bzw. den Staat involviert. Sie hatten nicht zugelassen, dass die Herrschenden, z. B. die Osmanen, in ihre gesellschaftsinternen Strukturen intervenieren, und ihre Beziehungen entsprechend begrenzt. Sie hatten mit einem stark ausgeprägten alevitischen Bewusstsein in einem großen Gebiet, als Dêrsim-Linie anerkannt, in Stämmen sowie Glaubensgemeinschaften um einen Pir [religiöse Persönlichkeit] herum gelebt. Stamm und Glaubensgemeinschaft bildeten zum Schutz vor Angriffen eine Einheit. Bis zur Gründung der türkischen Republik (1923) konnte die alevitische Gesellschaft sich auf diese Weise verteidigen. Nach der Republikgründung änderte sich die Situation. Das kemalistische Regime betrachtete Dêrsim im Hinblick auf die kurdische Identität als auch den Glauben von Beginn als Gefahr und versuchte es mit dem Massaker 1937/38 zu zerstören. Auch wenn es aus heutiger Sicht damit erfolgreich war, sehen wir, dass es die »Reste der Schwerter«, die Widerstand leistende, oppositionelle Haltung nicht gänzlich ausmerzen konnte. Dem physischen Genozid von 1938 folgte das kulturelle Massaker, das sich in der Vertreibung der Führungspersonen von Glaubensgemeinschaften und Stämmen äußerte und vor allem kurdische Aleviten betraf. Es war die Phase, in der Atatürk und seine Partei CHP (Republikanische Volkspartei) regierten. Auch in der folgenden Periode, in der Ismet Inönü und Fevzi Çakmak die CHP führten, wurde das kulturelle Massaker vorangetrieben. Kurdische Aleviten sollten türkisiert und islamisiert, alevitische Türken islamisiert werden.
Nach den aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Veränderungen erzwang das internationale kapitalistische System den Übergang von einem faschistischen Einparteien- zu einem Mehrparteiensystem. Eine CHP-Abspaltung gründete daraufhin die Demokratische Partei (DP), was den Beginn des Mehrparteiensystems markierte. Zu dieser Zeit versprach die DP allen unterdrückten Gruppen Rechte und Freiheiten. So erhielt sie die Unterstützung vieler Kreise und ging zweimal als Wahlsiegerin hervor. Die Aleviten unterstützen sie für ihre gesellschaftlichen Interessen und im Glauben an eine demokratisch-freiheitliche Türkei. Doch die DP vergaß all ihre Versprechen und führte die Einheitspolitik der CHP, aus der sie entstanden war, fort. So änderte sich nichts für die alevitische Gesellschaft und sämtliche ihrer Hoffnungen zerschlugen sich.
Nachdem die DP durch einen Militärputsch entmachtet und die Türkei entsprechend den Interessen des internationalen Systems und der türkischen Oberschichten, Gesetzesänderungen inklusive, neustrukturiert worden war, organisierten sich erneut oppositionelle Kreise und es folgte eine linksgeprägte Phase mit revolutionären Bestrebungen. Die CHP versuchte mit einer Neustrukturierung und einer »sozial-demokratischen« Note dagegenzuwirken. Die Aleviten unterstützten gemäß ihren oppositionellen Bestrebungen, sich von der Repression zu lösen, die CHP und revolutionäre Bewegungen und wurden zu potentiellen Anhängern beider Richtungen. Bis dato hatten sie die CHP gewählt und so deren Fortbestand garantiert. Auch wenn die Aleviten Ende der 1960er eine von ihrer Identität und ihren eigenen Forderungen geprägte Partei gründeten (Einheitspartei (der Türkei), (T)BP) und ins Parlament einzogen, waren sie nicht erfolgreich und blieben daher noch stärker der CHP verbunden.
Was hat es den Aleviten gebracht?
Welches Niveau hat das zu Beginn des Jahrhunderts von der kemalistisch-faschistischen CHP-Regierung begonnene und andauernde Massaker erreicht? Es ließen sich noch mehr solcher Fragen stellen. Doch es gibt eine erlebte Geschichte. Bei allen gegen Aleviten gerichteten Massakern in den 1970er, 1980er, 1990er und 2000er Jahren regierte die CHP oder bildete einen Teil der Regierung. Hinzu kommt, dass die CHP sowohl programmatisch als auch de facto keinerlei Anstrengungen zum Schutz der Aleviten vor Massakern und für ihre freie Religionsausübung unternommen hat. In Bezug auf Religion als Pflichtfach, die Anerkennung des Alevitentums als eigenständige Glaubensgemeinschaft und die Situation des Amtes für Religionsangelegenheiten besteht kein Unterschied zwischen AKP und CHP.
Was jedoch sind die Gründe für diese »einseitige Liebe«? Erstens, jede Gesellschaft, die einem Massaker ausgesetzt ist, erfährt einen Bruch ihres Willens und Bewusstseins. Eigendynamik wird zerstört und der Widerstand schwindet. Gleiches will man nicht wieder erleben. Da ihre Vorreiterrolle, ihre Einheit, ihr Organisierungsgrad und ihre Handlungsfähigkeit geschwächt sind, löst sie sich in der sie zerstörenden Kraft auf bzw. wird aufgelöst. Zweitens, trotz all ihrer Schwächen, ihres Potentials und Existenzwillens unterstützt sie Parteien oder Organisationen, von denen sie ihre gesellschaftlichen Interessen vertreten glaubt (Unterstützung der DP und CHP durch die Aleviten). Das birgt ein Risiko, welches jedoch in Kauf genommen wird. Drittens, wenn die ihr am nächsten stehenden Organisationen und Parteien mit ihrem Programm, ihren Äußerungen, ihrer Sprache, ihrem Auftreten und ihrer Haltung nicht umfassend und glaubwürdig sind, gibt es Schwierigkeiten in der Zusammenführung. Viertens, in den vom Kapitalismus geprägten zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich die schichtbezogenen Unterschiede vertieft, gar polarisiert und systematisiert. Sämtliche Schwächen haben dazu geführt, dass die alevitische Gesellschaft in einer unangemessenen Position verblieben und zur Beisitzerin einer Partei wie der CHP geworden ist, die ihre Vernichtung angeordnet hat.
Politik und Haltung der CHP, der AKP und der anderen Systemparteien sind erneut auf das Hinhalten der Aleviten ausgerichtet. Primäres Ziel ist es, die alevitische Gesellschaft, der eine revolutionäre Dynamik innewohnt, von einem Zusammenschluss mit anderen revolutionären, demokratischen Kräften, allen voran den Kurden, fernzuhalten. Erstmalig in der Geschichte der Republik stehen die Aleviten so offen und entschlossen mit ihrer Identität und ihren Forderungen in der Politik und zeigen sich gemeinsam mit der HDP, der Vertreterin dieser politischen Linie.
Die alevitische Gesellschaft stand bis heute den Linken und der scheinbar linksorientierten CHP nahe. Mit der Schwächung des für die Massaker verantwortlichen Systems durch die kurdische Freiheitsbewegung zeigte sich, dass ein anderes Leben möglich ist. Dies führte dazu, dass die Mauern zwischen ihr und der alevitischen Gesellschaft eingerissen wurden, und es gab einen Neuanfang.
Dieser längst fällige Zusammenschluss wurde mit der aktuellen Wahl vollzogen. Damit wurde ein ernsthafter Schritt zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft unternommen. Die Aleviten sind bei dieser Wahl mit ihren eigenen Kandidaten, ihrer eigenen Identität und ihren Forderungen in den Reihen der HDP angetreten. Sie sind keine Beisitzer mehr und legen ihre Zukunft nicht mehr in fremde Hände. Ihrer Geschichte würdig sind sie in die politische Arena zurückgekehrt. Diese Rückkehr wird zusammen mit einem erfolgreichen Wahlergebnis dazu beitragen, dass die alevitische Gemeinde ihre Wunden heilen kann. Gemeinsam mit den revolutionären Kräften und den Kurden wird so eine freiheitliche, gleichberechtigte, geschwisterliche und friedliche Gesellschaft ermöglicht. In diesem Sinne wird die Haltung der Aleviten bei der Wahl einen maßgeblichen Einfluss auf die Zukunft der Türkei haben.
Es ist an der Zeit zu fragen, warum die Aleviten nicht bei der HDP sein sollen und warum man es nicht gemeinsam schaffen sollte.
Der Wahlerfolg der HDP
Allen Angriffen zum Trotz
Mako Qoçgirî
Der Hohe Wahlausschuss der Türkei (YSK, trk.: Yüksek Seçim Kurulu) hat zwar die offiziellen Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7. Juni noch nicht veröffentlicht (Stand 11.06.), doch es steht außer Frage, dass es vor allem eine Gewinnerin gibt: die Demokratische Partei der Völker (HDP).
Mit etwas mehr als 13 % hat die HDP den Einzug ins türkische Parlament geschafft. Die Zehnprozentwahlhürde, ein Überbleibsel der faschistischen Verfassung der Militärdiktatur von 1982, um die Kurdinnen und Kurden des Landes aus dem Parlament zu halten, wurde deutlich genommen. Der Einzug der HDP bedeutet für die Türkei, dass nicht nur die KurdInnen den Eintritt in das parlamentarische System des Landes geschafft haben, sondern auch die VertreterInnen verschiedener anderer ethnischer und religiöser Gruppen, die bislang nicht die Möglichkeit hatten, ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig hat es mit der HDP eine linke und sozialistische Opposition ins Parlament geschafft; Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialistischer Parteien standen auf ihren vorderen Listenplätzen. Auch die Stimme der Frauen wird durch den HDP-Erfolg im neuen Parlament in Ankara lauter zu hören sein. 32 der voraussichtlich 80 Abgeordneten der HDP sind Frauen. Insgesamt haben 97 Frauen den Einzug ins Parlament geschafft, doch während der Frauenanteil der anderen Fraktionen nicht mehr als 15 % beträgt, erfüllt die HDP die sich selbst auferlegte 40%-Geschlechterquote.
Während die HDP als klare Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist, kann die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), trotz ihrem Stimmenanteil von mehr als 40 %, als Wahlverliererin bezeichnet werden. Die türkische Regierungspartei war mit dem Ziel einer verfassungsändernden Parlamentsmehrheit angetreten, um nach dem 07.06. ihr viel propagiertes Präsidialsystem für Staatspräsident Erdoğan einführen zu können. Dafür wären mindestens 367 Abgeordnete notwendig gewesen. Kurz vor der Wahl hatte sie ihr Mindestziel allerdings auf mindestens 330 Abgeordnete herunterkorrigiert. Mit dieser Anzahl hätte sie immerhin einen Verfassungsänderungsentwurf per Referendum bestätigen lassen können. Doch das schlussendliche Ergebnis stellt die Regierungspartei vor eine völlig andere Realität. Sie verfügt voraussichtlich über 258 Sitze und kann damit noch nicht einmal allein die Regierung stellen. Derzeit laufen die Diskussionen um mögliche Koalitionspartner. Weder ein Bündnis mit der Republikanischen Volkspartei CHP noch mit der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP scheint ausgeschlossen. Für die Regierungsbildung haben die Parteien nach der Wahl eine 45-tägige Frist. Kommt es binnen dieser zu keiner Koalitionseinigung, dürften noch im November Neuwahlen stattfinden.
Der Wahlerfolg der HDP macht deutlich, dass die AKP ihren Zenit überschritten hat. Besonders in den kurdischen Gebieten musste die Partei um Ministerpräsident Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan große Einbußen hinnehmen. Die HDP ist in insgesamt 14 Provinzen stärkste Kraft, aber auch im Westen der Türkei hat sie große Erfolge verbuchen können. So wurden in 10 Provinzen, in denen die Vorgängerparteien der HDP bislang nach keiner Wahl Abgeordnete hatten stellen können, dieses Mal HDP-KandidatInnen von der Bevölkerung ins Parlament entsandt. Das Ergebnis demonstriert, dass alle Versuche der AKP, die HDP unter die Wahlhürde zu drücken – denn die Regierungspartei war sich dessen durchaus bewusst, dass der Einzug der Demokratischen Partei der Völker ins Parlament ihren eigenen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen würde –, nicht nur gescheitert sind, sondern die HDP womöglich weiter gestärkt haben.
Die AKP hatte vor der Wahl gnadenlos auf Eskalation gesetzt und wollte geradezu einen BürgerInnenkrieg provozieren. Ziel dieser Taktik sollte es sein, der HDP das Image des »verlängerten Arms des Terrorismus« zu verleihen, um ihr so insbesondere im Westen der Türkei die Sympathien zu verscherzen. Trotz bestehenden Waffenstillstandes wurden zunächst die Militäroperationen der türkischen Armee verstärkt. Überall sollten bewaffnete Auseinandersetzungen mit der PKK provoziert werden. Den Höhepunkt der Militäraktionen stellte eine Operation Mitte April in der kurdischen Provinz Agirî (trk. Ağrı) dar. Dort wurden türkische Soldaten auf Befehl des Innenministeriums geradezu in den Tod geschickt. Nur ein Eingreifen der Zivilbevölkerung, die sich als lebende Schutzschilde in das Kampfgebiet bewegten, führte dazu, dass die Opferzahlen dieser Operation begrenzt blieben.
Auf die Militäroperationen folgten direkte Angriffe auf die HDP. In Adana und Mersin explodierten Mitte Mai Bomben in HDP-Büros. Nur durch Zufall kam es dabei zu keinen Toten. In Çewlîg (Bingöl) wurde Anfang Juni ein Wahlkampfmitarbeiter der HDP von sogenannten »unbekannten Tätern« mit dreißig Kugeln durchsiebt. Kurz darauf wurde in Erzirom (Erzurum) ein Wahlkampfauto der HDP niedergebrannt, aus dem sich der Fahrer in letzter Sekunde retten konnte, und ebenfalls in Erzirom wurde eine Wahlkampfveranstaltung der HDP von hunderten Faschisten angegriffen, während die Polizei sich, gelinde ausgedrückt, zurückhaltend verhielt. Schließlich gingen zwei Tage vor dem Wahltag auf der letzten HDP-Wahlkampfveranstaltung in Amed (Diyarbakır), an der hunderttausende Menschen teilnahmen, zwei Bomben hoch. Es kamen vier Menschen ums Leben und hunderte wurden verletzt.
Allen Angriffen zum Trotz rief die HDP ihre AnhängerInnenschaft stets zur Besonnenheit auf. Ziel dieser Angriffe war es, eine BürgerInnenkriegsatmosphäre zu schaffen, die bei der Bevölkerung das Bedürfnis nach einer starken Regierungspartei hervorrufen sollte. Doch die Reaktion der HDP und ihrer AnhängerInnen ließ auch diesen letzten Plan der AKP scheitern: »Auf keine Provokation einlassen und die Antwort am Wahltag geben« – das war die Devise der HDP und 13 % Stimmenanteil sprechen dafür, dass die Bevölkerung ihrer Aufforderung gefolgt ist und der AKP die richtige Antwort gegeben hat.
HDP: Der Weg zu einem freien Leben hat sich geöffnet
Nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrem Einzug ins türkische Parlament ist ihr Parteirat am 10. Juni zusammengekommen, um die Wahlergebnisse und die Provokationen in Kurdistan zu bewerten. Er verabschiedete die aus 15 Artikeln bestehende Abschlussresolution zum Wahlerfolg:
Die HDP ist in einer kritischen Phase als Partei zur Wahl angetreten und hat trotz der Zehnprozenthürde, ungleicher Wahlkampfbedingungen, einer Vielzahl von Angriffen, Bombenattentaten, versuchten Massakern gegen die Partei und ihre AnhängerInnen und Wahlmanipulationen mehr als 6 Mio. Stimmen erhalten; sie hat ihren Stimmenanteil gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Juni 2011 um 100 Prozent gesteigert und somit einen großen Erfolg errungen. Mit diesem Erfolg ist die Hoffnung auf eine demokratische, gleichberechtigte und freiheitliche Türkei von Neuem erblüht.
Mit der Überwindung der Wahlhürde durch die HDP am 7. Juni wurden zugleich die Hoffnungen Erdoğans begraben, ein Präsidialsystem zu errichten. Dadurch wurde der Übergang zu einem autoritären Regime vorerst gestoppt. Die AKP hat wesentlich an Kraft verloren und bekam nicht die Unterstützung der Bevölkerung, um allein eine Regierung zu bilden. Somit wurde ihre 13-jährige Alleinherrschaftszeit beendet. Im Gegenzug hat sich der Weg zu einem freien Leben geöffnet.
Diese Wahl ist gleichzeitig der Beweis für das Scheitern einer nach Hegemonie strebenden, expansionistischen und auf konfessioneller Spaltung aufbauenden Nah- und Mittelostpolitik der Regierungspartei. Die Errungenschaften der HDP mit dem Wahlsieg sind nicht nur ein Gewinn für die Völker der Türkei, sondern für alle Völker in der Region und im Mittleren Osten, die für Frieden, Demokratie, Gleichheit und Freiheit kämpfen. Mit der Revolution in Rojava und den Wahlerfolgen von SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien ist die Hoffnung der Werktätigen und der Unterdrückten gestiegen.
Die AKP, die den Lösungsprozess eingestellt hat und das Beharren unserer Völker auf einem nachhaltigen Frieden ausnutzt, hat in Provinzen wie Amed (Diyarbakır), Wan (Van), Agirî (Ağrı) und Colemêrg (Hakkâri) schwere Niederlagen erlitten. So wurde der AKP-Behauptung »Wir sind die politischen VertreterInnen der kurdischen Gesellschaft, nicht die HDP« eine Abfuhr erteilt. Die kurdische Gesellschaft hat bekräftigt, dass die HDP ihre politische Vertreterin im Parlament für ihren seit 35 Jahren andauernden Kampf um Gleichheit, Frieden und Freiheit ist.
Der »Lösungsprozess« hat nicht nur in den Provinzen Amed, Wan, Agirî, Colemêrg, sondern auch in großen westlichen Provinzen wie İstanbul, İzmir, Ankara, Antalya, Kocaeli und Bursa großen Anklang gefunden. Der Ruf nach Frieden ist vom Osten bis in den Westen, vom Süden bis in den Norden in allen Provinzen der Türkei erklungen. So wurde nochmals der Wille der Völker in der Türkei nach einem gemeinsamen Zusammenleben auf dem Boden der Werte der »großen Menschlichkeit« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] betont und der Weg für eine Lösung auf parlamentarischer Grundlage eröffnet.
In diesem Zusammenhang rufen wir als Parteirat der HDP den Staat und die neue Regierung, aus welchen Parteien sie auch immer bestehen sollte, dazu auf, den »Lösungsprozess« an dem Punkt fortzusetzen, an dem er gestoppt wurde. Wir fordern, die Isolation Herrn Öcalans sofort aufzuheben und die Gespräche mit dem Architekten des »Lösungsprozesses«, der in allen kritischen Zeiten auf dem Frieden beharrt und dem »Lösungsprozess« den Weg weist, wieder aufzunehmen. Wir bekunden, dass die HDP in diesem Punkt bereit ist, die ihr zufallende politische Verantwortung zu tragen.
Es ist von größter Bedeutung, dass 40 Prozent der aus der HDP-Liste Gewählten 32 Frauenabgeordnete sind. Für diesen großen Wahlerfolg der HDP waren die Frauen entscheidend und sind als treibende Kraft im Kampf um Gleichheit und Freiheit hervorgetreten. Der Aufruf zu einem »neuen Leben« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] hat gefruchtet und die Frauen haben ihr Gesicht der HDP und ihren Rücken Erdoğan zugewendet. Doch die Tatsache, dass lediglich die 40-prozentige Untergrenze der Geschlechterquote erreicht werden konnte, wird von der HDP selbstkritisch bewertet. Ziel wird es sein, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in Zukunft auf 50 Prozent zu steigern.
Die Wahl vom 7. Juni hat keiner Partei das Mandat zur alleinigen Regierungsbildung verliehen und macht die Bildung einer Koalitionsregierung notwendig. Die HDP wird bei der Arbeit zur Bildung einer neuen Regierung ihren Versprechungen im Wahlkampf treu bleiben und eine konstruktive Politik verfolgen. Jede Arbeit für eine Regierungsbildung, die im Sinne der Völker der Türkei ist und den politischen Prinzipien der HDP entspricht, wird von uns unterstützt. In diesem Rahmen sind wir auch bereit, unserer politischen Verantwortung gerecht zu werden. Aus diesem Anlass rufen wir auch Staatspräsident Erdoğan dazu auf, die Entscheidung der Völker zu respektieren und sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Grenzen zu bewegen, um die Atmosphäre im Land zu »normalisieren«.
Das neue Parlament und die neu zu bildende Regierung sollten ohne Zeitverzug die Arbeit für eine pluralistische, multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle sowie demokratische, freiheitliche, gleichberechtigte, soziale und ökologische Verfassung in Angriff nehmen.
Wir gedenken in allen Ehren all unserer Geschwister, die vor und nach der Wahl bei den durch die feindselige Rhetorik der AKP und des Staatspräsidenten angestachelten Angriffen gegen unsere Partei ihr Leben lassen mussten.
Obwohl die Wahl vorüber ist, werden wir Zeuge von Provokationen auf den Straßen Ameds und von politischen Morden, die an die 90er Jahre erinnern. Wir denken, dass diese Provokationen, Morde und versuchten Massaker durch die Hände einer »Spezialorganisation« verübt werden, um den Wahlerfolg der HDP zu schmälern. Ziel ist es, die Bevölkerung Ameds auf die Straßen zu treiben und somit »Chaos« zu schaffen, das einen Schatten auf die Legitimität der Wahlergebnisse werfen soll.
Ebenso wie die Bevölkerung von Amed vor der Wahl sich bei den Bombenanschlägen mit ihrem Leben gegen die Fallen und Provokationen stellte und trotz der Toten und hunderter Verletzter ihre aufrichtige Haltung wahrte, genauso wird sie sich auch nach der Wahl gegen die Provokationen stellen und ihre Haltung wahren.
Wir rufen den Staatspräsidenten und den Ministerpräsidenten auf, die andauernden Provokationen und Morde sofort zu stoppen, die Versuche, Chaos im Land zu erzeugen, zu beenden und das Land zu normalisieren. Auf der anderen Seite rufen wir alle ArbeiterInnen- und Massenorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Intellektuellen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, AkademikerInnen und alle, die für Frieden stehen, dazu auf, sich gegen diese Versuche zu positionieren.
Als Parteirat bedanken wir uns bei allen, die während der Wahl mit der HDP Bündnisse schlossen, den Wahlkampf unterstützten, materielle und immaterielle Unterstützung leisteten und sich solidarisch zeigten. Wir bedanken uns bei allen, die uns aus welchen Gründen auch immer ihre Stimme gegeben haben. Wir bedanken uns auch bei allen, die uns vielleicht nicht ihre Stimme gegeben, aber dennoch mit uns gefühlt und am Wahlabend mitgezittert haben. Wir begrüßen als HDP nochmals den Widerstand von Gezi und von Kobanê, der uns bei unserer Wahlkampfarbeit große Kraft und Motivation gegeben hat, und gedenken aller Gefallenen dieses Widerstands.
Mit dem Wahlerfolg der HDP wurde der Weg zu einem freien Leben eröffnet, das auf den Werten der »großen Menschlichkeit« aufbauen wird. Es ist nun an der Zeit, diesen Weg zu verbreitern, die Zahl der Menschen, die auf diesem Weg gehen, zu vermehren, die Einheit der Demokratie-, Friedens- und ArbeiterInnenkräfte der Türkei zu entwickeln und mit klaren Schritten in Richtung des Ziels einer demokratischen Herrschaft der Völker zu schreiten.
Der Hohe Wahlausschuss der Türkei (YSK, trk.: Yüksek Seçim Kurulu) hat zwar die offiziellen Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7. Juni noch nicht veröffentlicht (Stand 11.06.), doch es steht außer Frage, dass es vor allem eine Gewinnerin gibt: die Demokratische Partei der Völker (HDP).
Mit etwas mehr als 13 % hat die HDP den Einzug ins türkische Parlament geschafft. Die Zehnprozentwahlhürde, ein Überbleibsel der faschistischen Verfassung der Militärdiktatur von 1982, um die Kurdinnen und Kurden des Landes aus dem Parlament zu halten, wurde deutlich genommen. Der Einzug der HDP bedeutet für die Türkei, dass nicht nur die KurdInnen den Eintritt in das parlamentarische System des Landes geschafft haben, sondern auch die VertreterInnen verschiedener anderer ethnischer und religiöser Gruppen, die bislang nicht die Möglichkeit hatten, ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig hat es mit der HDP eine linke und sozialistische Opposition ins Parlament geschafft; Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialistischer Parteien standen auf ihren vorderen Listenplätzen. Auch die Stimme der Frauen wird durch den HDP-Erfolg im neuen Parlament in Ankara lauter zu hören sein. 32 der voraussichtlich 80 Abgeordneten der HDP sind Frauen. Insgesamt haben 97 Frauen den Einzug ins Parlament geschafft, doch während der Frauenanteil der anderen Fraktionen nicht mehr als 15 % beträgt, erfüllt die HDP die sich selbst auferlegte 40%-Geschlechterquote.
Während die HDP als klare Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist, kann die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), trotz ihrem Stimmenanteil von mehr als 40 %, als Wahlverliererin bezeichnet werden. Die türkische Regierungspartei war mit dem Ziel einer verfassungsändernden Parlamentsmehrheit angetreten, um nach dem 07.06. ihr viel propagiertes Präsidialsystem für Staatspräsident Erdoğan einführen zu können. Dafür wären mindestens 367 Abgeordnete notwendig gewesen. Kurz vor der Wahl hatte sie ihr Mindestziel allerdings auf mindestens 330 Abgeordnete herunterkorrigiert. Mit dieser Anzahl hätte sie immerhin einen Verfassungsänderungsentwurf per Referendum bestätigen lassen können. Doch das schlussendliche Ergebnis stellt die Regierungspartei vor eine völlig andere Realität. Sie verfügt voraussichtlich über 258 Sitze und kann damit noch nicht einmal allein die Regierung stellen. Derzeit laufen die Diskussionen um mögliche Koalitionspartner. Weder ein Bündnis mit der Republikanischen Volkspartei CHP noch mit der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP scheint ausgeschlossen. Für die Regierungsbildung haben die Parteien nach der Wahl eine 45-tägige Frist. Kommt es binnen dieser zu keiner Koalitionseinigung, dürften noch im November Neuwahlen stattfinden.
Der Wahlerfolg der HDP macht deutlich, dass die AKP ihren Zenit überschritten hat. Besonders in den kurdischen Gebieten musste die Partei um Ministerpräsident Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan große Einbußen hinnehmen. Die HDP ist in insgesamt 14 Provinzen stärkste Kraft, aber auch im Westen der Türkei hat sie große Erfolge verbuchen können. So wurden in 10 Provinzen, in denen die Vorgängerparteien der HDP bislang nach keiner Wahl Abgeordnete hatten stellen können, dieses Mal HDP-KandidatInnen von der Bevölkerung ins Parlament entsandt. Das Ergebnis demonstriert, dass alle Versuche der AKP, die HDP unter die Wahlhürde zu drücken – denn die Regierungspartei war sich dessen durchaus bewusst, dass der Einzug der Demokratischen Partei der Völker ins Parlament ihren eigenen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen würde –, nicht nur gescheitert sind, sondern die HDP womöglich weiter gestärkt haben.
Die AKP hatte vor der Wahl gnadenlos auf Eskalation gesetzt und wollte geradezu einen BürgerInnenkrieg provozieren. Ziel dieser Taktik sollte es sein, der HDP das Image des »verlängerten Arms des Terrorismus« zu verleihen, um ihr so insbesondere im Westen der Türkei die Sympathien zu verscherzen. Trotz bestehenden Waffenstillstandes wurden zunächst die Militäroperationen der türkischen Armee verstärkt. Überall sollten bewaffnete Auseinandersetzungen mit der PKK provoziert werden. Den Höhepunkt der Militäraktionen stellte eine Operation Mitte April in der kurdischen Provinz Agirî (trk. Ağrı) dar. Dort wurden türkische Soldaten auf Befehl des Innenministeriums geradezu in den Tod geschickt. Nur ein Eingreifen der Zivilbevölkerung, die sich als lebende Schutzschilde in das Kampfgebiet bewegten, führte dazu, dass die Opferzahlen dieser Operation begrenzt blieben.
Auf die Militäroperationen folgten direkte Angriffe auf die HDP. In Adana und Mersin explodierten Mitte Mai Bomben in HDP-Büros. Nur durch Zufall kam es dabei zu keinen Toten. In Çewlîg (Bingöl) wurde Anfang Juni ein Wahlkampfmitarbeiter der HDP von sogenannten »unbekannten Tätern« mit dreißig Kugeln durchsiebt. Kurz darauf wurde in Erzirom (Erzurum) ein Wahlkampfauto der HDP niedergebrannt, aus dem sich der Fahrer in letzter Sekunde retten konnte, und ebenfalls in Erzirom wurde eine Wahlkampfveranstaltung der HDP von hunderten Faschisten angegriffen, während die Polizei sich, gelinde ausgedrückt, zurückhaltend verhielt. Schließlich gingen zwei Tage vor dem Wahltag auf der letzten HDP-Wahlkampfveranstaltung in Amed (Diyarbakır), an der hunderttausende Menschen teilnahmen, zwei Bomben hoch. Es kamen vier Menschen ums Leben und hunderte wurden verletzt.
Allen Angriffen zum Trotz rief die HDP ihre AnhängerInnenschaft stets zur Besonnenheit auf. Ziel dieser Angriffe war es, eine BürgerInnenkriegsatmosphäre zu schaffen, die bei der Bevölkerung das Bedürfnis nach einer starken Regierungspartei hervorrufen sollte. Doch die Reaktion der HDP und ihrer AnhängerInnen ließ auch diesen letzten Plan der AKP scheitern: »Auf keine Provokation einlassen und die Antwort am Wahltag geben« – das war die Devise der HDP und 13 % Stimmenanteil sprechen dafür, dass die Bevölkerung ihrer Aufforderung gefolgt ist und der AKP die richtige Antwort gegeben hat.
HDP: Der Weg zu einem freien Leben hat sich geöffnet
Nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrem Einzug ins türkische Parlament ist ihr Parteirat am 10. Juni zusammengekommen, um die Wahlergebnisse und die Provokationen in Kurdistan zu bewerten. Er verabschiedete die aus 15 Artikeln bestehende Abschlussresolution zum Wahlerfolg:
- Die HDP ist in einer kritischen Phase als Partei zur Wahl angetreten und hat trotz der Zehnprozenthürde, ungleicher Wahlkampfbedingungen, einer Vielzahl von Angriffen, Bombenattentaten, versuchten Massakern gegen die Partei und ihre AnhängerInnen und Wahlmanipulationen mehr als 6 Mio. Stimmen erhalten; sie hat ihren Stimmenanteil gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Juni 2011 um 100 Prozent gesteigert und somit einen großen Erfolg errungen. Mit diesem Erfolg ist die Hoffnung auf eine demokratische, gleichberechtigte und freiheitliche Türkei von Neuem erblüht.
- Mit der Überwindung der Wahlhürde durch die HDP am 7. Juni wurden zugleich die Hoffnungen Erdoğans begraben, ein Präsidialsystem zu errichten. Dadurch wurde der Übergang zu einem autoritären Regime vorerst gestoppt. Die AKP hat wesentlich an Kraft verloren und bekam nicht die Unterstützung der Bevölkerung, um allein eine Regierung zu bilden. Somit wurde ihre 13-jährige Alleinherrschaftszeit beendet. Im Gegenzug hat sich der Weg zu einem freien Leben geöffnet.
- Diese Wahl ist gleichzeitig der Beweis für das Scheitern einer nach Hegemonie strebenden, expansionistischen und auf konfessioneller Spaltung aufbauenden Nah- und Mittelostpolitik der Regierungspartei. Die Errungenschaften der HDP mit dem Wahlsieg sind nicht nur ein Gewinn für die Völker der Türkei, sondern für alle Völker in der Region und im Mittleren Osten, die für Frieden, Demokratie, Gleichheit und Freiheit kämpfen. Mit der Revolution in Rojava und den Wahlerfolgen von SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien ist die Hoffnung der Werktätigen und der Unterdrückten gestiegen.
- Die AKP, die den Lösungsprozess eingestellt hat und das Beharren unserer Völker auf einem nachhaltigen Frieden ausnutzt, hat in Provinzen wie Amed (Diyarbakır), Wan (Van), Agirî (Ağrı) und Colemêrg (Hakkâri) schwere Niederlagen erlitten. So wurde der AKP-Behauptung »Wir sind die politischen VertreterInnen der kurdischen Gesellschaft, nicht die HDP« eine Abfuhr erteilt. Die kurdische Gesellschaft hat bekräftigt, dass die HDP ihre politische Vertreterin im Parlament für ihren seit 35 Jahren andauernden Kampf um Gleichheit, Frieden und Freiheit ist.
- Der »Lösungsprozess« hat nicht nur in den Provinzen Amed, Wan, Agirî, Colemêrg, sondern auch in großen westlichen Provinzen wie İstanbul, İzmir, Ankara, Antalya, Kocaeli und Bursa großen Anklang gefunden. Der Ruf nach Frieden ist vom Osten bis in den Westen, vom Süden bis in den Norden in allen Provinzen der Türkei erklungen. So wurde nochmals der Wille der Völker in der Türkei nach einem gemeinsamen Zusammenleben auf dem Boden der Werte der »großen Menschlichkeit« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] betont und der Weg für eine Lösung auf parlamentarischer Grundlage eröffnet.
- In diesem Zusammenhang rufen wir als Parteirat der HDP den Staat und die neue Regierung, aus welchen Parteien sie auch immer bestehen sollte, dazu auf, den »Lösungsprozess« an dem Punkt fortzusetzen, an dem er gestoppt wurde. Wir fordern, die Isolation Herrn Öcalans sofort aufzuheben und die Gespräche mit dem Architekten des »Lösungsprozesses«, der in allen kritischen Zeiten auf dem Frieden beharrt und dem »Lösungsprozess« den Weg weist, wieder aufzunehmen. Wir bekunden, dass die HDP in diesem Punkt bereit ist, die ihr zufallende politische Verantwortung zu tragen.
- Es ist von größter Bedeutung, dass 40 Prozent der aus der HDP-Liste Gewählten 32 Frauenabgeordnete sind. Für diesen großen Wahlerfolg der HDP waren die Frauen entscheidend und sind als treibende Kraft im Kampf um Gleichheit und Freiheit hervorgetreten. Der Aufruf zu einem »neuen Leben« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] hat gefruchtet und die Frauen haben ihr Gesicht der HDP und ihren Rücken Erdoğan zugewendet. Doch die Tatsache, dass lediglich die 40-prozentige Untergrenze der Geschlechterquote erreicht werden konnte, wird von der HDP selbstkritisch bewertet. Ziel wird es sein, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in Zukunft auf 50 Prozent zu steigern.
- Die Wahl vom 7. Juni hat keiner Partei das Mandat zur alleinigen Regierungsbildung verliehen und macht die Bildung einer Koalitionsregierung notwendig. Die HDP wird bei der Arbeit zur Bildung einer neuen Regierung ihren Versprechungen im Wahlkampf treu bleiben und eine konstruktive Politik verfolgen. Jede Arbeit für eine Regierungsbildung, die im Sinne der Völker der Türkei ist und den politischen Prinzipien der HDP entspricht, wird von uns unterstützt. In diesem Rahmen sind wir auch bereit, unserer politischen Verantwortung gerecht zu werden. Aus diesem Anlass rufen wir auch Staatspräsident Erdoğan dazu auf, die Entscheidung der Völker zu respektieren und sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Grenzen zu bewegen, um die Atmosphäre im Land zu »normalisieren«.
- Das neue Parlament und die neu zu bildende Regierung sollten ohne Zeitverzug die Arbeit für eine pluralistische, multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle sowie demokratische, freiheitliche, gleichberechtigte, soziale und ökologische Verfassung in Angriff nehmen.
- Wir gedenken in allen Ehren all unserer Geschwister, die vor und nach der Wahl bei den durch die feindselige Rhetorik der AKP und des Staatspräsidenten angestachelten Angriffen gegen unsere Partei ihr Leben lassen mussten.
- Obwohl die Wahl vorüber ist, werden wir Zeuge von Provokationen auf den Straßen Ameds und von politischen Morden, die an die 90er Jahre erinnern. Wir denken, dass diese Provokationen, Morde und versuchten Massaker durch die Hände einer »Spezialorganisation« verübt werden, um den Wahlerfolg der HDP zu schmälern. Ziel ist es, die Bevölkerung Ameds auf die Straßen zu treiben und somit »Chaos« zu schaffen, das einen Schatten auf die Legitimität der Wahlergebnisse werfen soll.
- Ebenso wie die Bevölkerung von Amed vor der Wahl sich bei den Bombenanschlägen mit ihrem Leben gegen die Fallen und Provokationen stellte und trotz der Toten und hunderter Verletzter ihre aufrichtige Haltung wahrte, genauso wird sie sich auch nach der Wahl gegen die Provokationen stellen und ihre Haltung wahren.
- Wir rufen den Staatspräsidenten und den Ministerpräsidenten auf, die andauernden Provokationen und Morde sofort zu stoppen, die Versuche, Chaos im Land zu erzeugen, zu beenden und das Land zu normalisieren. Auf der anderen Seite rufen wir alle ArbeiterInnen- und Massenorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Intellektuellen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, AkademikerInnen und alle, die für Frieden stehen, dazu auf, sich gegen diese Versuche zu positionieren.
- Als Parteirat bedanken wir uns bei allen, die während der Wahl mit der HDP Bündnisse schlossen, den Wahlkampf unterstützten, materielle und immaterielle Unterstützung leisteten und sich solidarisch zeigten. Wir bedanken uns bei allen, die uns aus welchen Gründen auch immer ihre Stimme gegeben haben. Wir bedanken uns auch bei allen, die uns vielleicht nicht ihre Stimme gegeben, aber dennoch mit uns gefühlt und am Wahlabend mitgezittert haben. Wir begrüßen als HDP nochmals den Widerstand von Gezi und von Kobanê, der uns bei unserer Wahlkampfarbeit große Kraft und Motivation gegeben hat, und gedenken aller Gefallenen dieses Widerstands.
- Mit dem Wahlerfolg der HDP wurde der Weg zu einem freien Leben eröffnet, das auf den Werten der »großen Menschlichkeit« aufbauen wird. Es ist nun an der Zeit, diesen Weg zu verbreitern, die Zahl der Menschen, die auf diesem Weg gehen, zu vermehren, die Einheit der Demokratie-, Friedens- und ArbeiterInnenkräfte der Türkei zu entwickeln und mit klaren Schritten in Richtung des Ziels einer demokratischen Herrschaft der Völker zu schreiten.
Über die Ränkespiele der stellvertretenden Kriegsparteien in Nordwestsyrien
Das Spiel der Al-Nusra-Front mit der FSA
Azîz Koyluglu
Nach der Besetzung der im Nordwesten Syriens liegenden Stadt Idlib durch die Al-Nusra-Front hat sich das Kräftegleichgewicht im BürgerInnenkrieg verschoben, was vor allem der Politik Saudi-Arabiens und der Türkei geschuldet ist. Seit geraumer Zeit fördern diese Staaten Gruppierungen wie Al-Nusra oder Ahrar al-Sham. Allerdings hatte die Unterstützung Saudi-Arabiens vor allem der Islamischen Front (Al-Dschabha al-Islamiya) und ihr nahestehenden Organisationen gegolten. Riad betrachtete die Al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham vielmehr als Gefahr für die saudischen Interessen. Doch war nach einer Zusammenkunft des saudischen Königs Salman mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan ein verändertes Agieren Saudi-Arabiens zu beobachten, das seine praktische Konkretisierung in der Gründung der Militärallianz »Eroberungsarmee« (Dschaisch al-Fatah) fand. Infolge dieses Militärbündnisses, mit Al-Nusra im Zentrum, wurden wichtige Gebiete im Nordwesten Syriens eingenommen, darunter große Teile der Stadt Idlib. Auch der überwiegend von KurdInnen bewohnte Norden Aleppos wurde zum Angriffsziel. Zeitgleich mit dieser Kräfteverschiebung ändert sich auch die Gesamtsituation in der Region.
Entgegen mancher Meinung zu Beginn des syrischen BürgerInnenkrieges sind sich mittlerweile sämtliche ExpertInnen, die das Geschehen in Syrien aus der Nähe betrachten, darüber einig, dass ein StellvertreterInnenkrieg geführt wird. Sowohl hinter dem syrischen Regime und sich zur Freien Syrischen Armee (FSA) gehörig fühlenden Gruppierungen wie auch hinter dem sogenannten Islamischen Staat (IS) und der Al-Nusra-Front stehen internationale Kräfte. Dieser Fakt wird von keiner Seite mehr bestritten.
Nachdem das neue Bündnis Dschaisch al-Fatah Idlib unter seine Kontrolle gebracht hatte, übernahm die islamistische Allianz auch das Dreieck Hama/Aleppo/Latakia. Etlichen BeobachterInnen zufolge soll dieses Vorgehen Aleppo anvisieren. Zwar war Dschaisch al-Fatah bestrebt, strategisch wichtige, für die Einnahme Aleppos notwendige Punkte um die Stadt herum zu besetzen, hat dieses taktische Ziel jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil kann von einer militärischen Stagnation in dieser Region gesprochen werden.
Zuordnung der Al-Nusra-Front im syrischen BürgerInnenkrieg
Inmitten des syrischen Aufstands galt Ar-Raqqah einst als Hochburg der Al-Nusra-Front. Dabei handelt es sich um die erste Stadt Syriens, aus der das Assad-Regime hatte vertrieben werden können. Ebenso stand Dair az-Zaur, zumindest teilweise, unter der Kontrolle von Al-Nusra, wie auch eine Reihe von Kleinstädten und Distrikten. Da es sich bei Al-Nusra um den syrischen Ableger von Al-Qaida handelt, haben Kräfte wie die EU und die USA sie nicht akzeptiert, in gewisser Weise jedoch geduldet. Die Al-Nusra-Front wurde als Unterstützerin im Kampf gegen das Assad-Regime gewertet. Allerdings wurden die Gebiete unter ihrer Kontrolle dem sogenannten Islamischen Staat übergeben.
Die Al-Nusra-Front ebnete dem Islamischen Staat den Weg
Wie sehr die Al-Nusra-Front sich auch dem Islamischen Staat gegenüber als feindlich darstellte, können wir in der Praxis doch sehen, dass sie ihm den Weg geebnet hat. Sie überließ ihm die Kontrolle über den Süden von Hesekê (Al-Hasaka) sowie die Provinzen Dair az-Zaur und Ar-Raqqah. Ebenso wurden ihm Distrikte wie Girê Spî (Tal Abyad), Cerablus (Dscharabulus), Al-Bab und Minbuc (Manbidsch) sowie strategisch bedeutende Grenzgebiete übergeben. Paradoxerweise hatte Al-Nusra die meisten dieser Gebiete nach langen und schweren Gefechten mit der FSA erobert. Daher stellt sich vielen BeobachterInnen die Frage, wann Dschaisch al-Fatah unter Führung von Al-Nusra Idlib und die anderen eroberten Gebiete wohl dem IS überlassen wird.
Das Spiel zwischen Al-Nusra und FSA
Das Gebiet um Aleppo wird von verschiedenen Gruppierungen kontrolliert. Nach der Übergabe der Kontrollgebiete um Dair az-Zaur und Ar-Raqqah an den Islamischen Staat war es lange Zeit still um die Al-Nusra-Front. In letzter Zeit steigerte die Al-Nusra-Front sowohl in Aleppo als auch im Gebiet um Azaz ihre Aktivität. Durch die aktive Unterstützung durch den türkischen Staat konnte die Al-Nusra-Front ihren Einfluss erneut stärken. Auch Gruppierungen wie Sultan Murat oder Sultan Muzafer, denen eine Nähe zur Türkei nachgesagt wird, erklärten der Al-Nusra-Front ihre Treue. Nach dem Angriff des IS auf Azaz konnten die örtlichen Gruppierungen, die zur FSA gehören nicht länger Widerstand leisten. Daher baten sie die Al-Nusra-Front um Unterstützung. Tatsächlich kämpfen gerade in der Region Einheiten des IS gegen Einheiten der Al-Nusra-Front. Da es bereits im Vorfeld zu ähnlichen kurzzeitigen Allianzen zwischen der Al-Nusra-Front und FSA-Gruppen gekommen war, in deren Folge die Al-Nusra-Front diese Gruppen liquidiert hat, stellt sich in Azaz die Frage nach der Entwicklung in dieser Region. Jedoch gilt an dieser Stelle hinzuzufügen, dass inzwischen kaum mehr charakterliche und ideologische Unterschiede zwischen den meisten FSA-Gruppen und islamistischen Gruppierungen wie der Al-Nusra-Front bestehen.
Der Krieg zwischen IS und Al-Nusra-Front
Haji Ahmed Kurdi, Generalkommandant der KurdInnen-Front (Enîya Kurdan, Dschabhat al-Akrad), bewertet IS und Al-Nusra wie einen »zweigeteilten Apfel«. Diese Äußerung verdeutlicht eher die Realität dieser beiden Kräfte. In der Region kommt es teilweise zu Gefechten zwischen der Al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat, dabei hat Erstere bisher nur militärische Niederlagen hinnehmen und sich aus den Kampfgebieten zurückziehen müssen. Es handelt sich bei den Differenzen der beiden Gruppen jedoch vielmehr um einen Kampf zwischen ihren Anführern Al-Baghdadi und Al-Jawlani um die Position des Kalifen. Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass sich der IS zunächst als zu Al-Qaida gehörig definiert hatte und erst infolge interner Diskrepanzen zur unabhängigen Organisation. Anschließend war es auch zu Streitigkeiten mit dem syrischen Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front gekommen, die in militärische Auseinandersetzungen mündeten.
Der Nimbus der Al-Nusra-Front: Dschaisch al-Fatah
Nach der Übereinkunft des türkischen Staates, Saudi-Arabiens und der islamistischen Gruppierung Ahrar al-Sham wurde eine Operation gestartet, deren Ziel ein Legitimationsgewinn für die Al-Nusra-Front ist. Das Fundament für dieses Vorhaben legte die Berichterstattung bestimmter türkischer Medien und des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera über Al-Nusra, und um deren Nähe zu Al-Qaida zu verdecken, wurde Dschaisch al-Fatah gegründet. Die soll als Teil der für ihre heterogene Struktur bekannten FSA präsentiert werden. Doch lässt sich durchaus prognostizieren, dass sich die Al-Nusra-Front nicht zu einem Teil von Dschaisch al-Fatah entwickeln, sondern umgekehrt Dschaisch al-Fatah vollständig in Al-Nusra aufgehen wird.
Keine moderaten Kräfte mehr in Syrien
Über ihre Beziehungen innerhalb der FSA forderte Dschaisch al-Fatah von der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition Luftangriffe auf IS-Stellungen in der Region Azaz. Örtlichen Angaben zufolge sollen derartige Angriffe im Osten von Azaz Anfang Juni erfolgt sein. Allerdings kommt dies einer Unterstützung von Al-Qaida gleich. Etliche BeobachterInnen halten die Vorgänge in Azaz für ein Schauspiel, in das auch die Anti-IS-Koalition mit einbezogen werden soll. Zwar gibt es in der Region noch Gruppen, die zur FSA gehören, faktisch jedoch mit keinerlei Einfluss. Einzig Ahrar al-Sham und Al-Nusra, die auch als Zwillingsorganisationen gewertet werden können, verfügen hier über Einfluss.
Die Al-Nusra-Front hat sich mit den Angriffen auf den IS in der Region Azaz gefestigt. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine Art Theater handelt. Nach der Liquidierung der anderen Gruppen lässt sich absehen, dass diese Region, wie zuvor schon mehrmals gesehen, dem IS übergeben wird. Das Spiel mit dem IS wird fortgesetzt werden.
Das syrische Regime
Seit geraumer Zeit verfolgt das syrische Regime in der Region eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite wird der IS in Ruhe gelassen. Es lässt sich sogar fast schon als Unterstützung des IS bezeichnen. Wie jüngst, als parallel zu den schweren IS-Angriffen auf Azaz das syrische Regime Luftangriffe auf die allesamt von Kurdinnen und Kurden bevölkerten Dörfer Hewş, Ehrez und Dir Cimêl flog. Es gewährt dem IS die Kontrolle über zahlreiche Gebiete. So sieht das Assad-Regime eine Kontrolle der Region Azaz durch den IS lieber denn durch die FSA. Weil der IS keine internationale Anerkennung bzw. Legitimation aufweisen kann.
Interview mit dem Gesundheitsminister von Kobanê
Das zerstörte und entvölkerte Kobanê auf dem Weg zum Wiederaufbau
Sabri Ürün von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V.
Das folgende Interview mit Dr. Nassan Ahmet, dem Gesundheitsminister des Kantons Kobanê in Rojava (Nordsyrien), wurde im Rahmen seiner mehrtätigen Besuchsreise in der Bundesrepublik Deutschland am 8. Mai 2015 in Düsseldorf von Sabri Ürün von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V. geführt.
Der Bevölkerung in Kobanê/Rojava gelang es in einem unvergleichlichen Widerstand, die brutalen Angriffe der Terroristen vom Islamischen Staat (IS) abzuwehren und den Großteil Kobanês von ihnen zu befreien. Der Kampf der Volks- und der Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) verdient großen Respekt, gerade im Vergleich zur Ohnmacht sowie Passivität sämtlicher anderer Akteure der Region und angesichts der Brutalität der IS-Söldnertruppen. Selbst unter diesen schwierigen Umständen hat die Bevölkerung Rojavas auch in Kobanê ihre revolutionären Errungenschaften verteidigen und sogar ausbauen können. Beschreiben Sie uns doch bitte kurz einleitend die Ziele des aufgebauten Kantonsystems und die Wege der Umsetzung mittels basisdemokratischer Räte an einigen veranschaulichenden Beispielen.
Das Kantonsystem basiert auf fünf Fundamenten. Eines der wichtigsten ist die Geschwisterlichkeit der Völker. Das heißt, dass die Araber, Armenier, Kurden, Turkmenen Rojavas friedlich miteinander leben. Wir wollen, dass innerhalb der demokratischen Autonomie alle Ethnien eine Rolle spielen. Beispielsweise besteht in allen drei Kantonen die Vorgabe, dass die Ministerstellvertreter aus anderen ethnischen oder konfessionellen Gruppen als der seinen oder ihren gewählt werden. Ein anderes Fundament sind die Frauenrechte. Wir haben in allen Bereichen eine paritätische Doppelspitze, d. h. eine gemeinsame Besetzung der Posten. Wir haben darüber hinaus eine vierzigprozentige Geschlechterquote eingeführt. In manchen Gremien liegt der Frauenanteil bei bis zu sechzig Prozent.
Ein weiterer Aspekt ist die religiöse Gleichberechtigung aller. Für alle im Kanton Kobanê vertretenen Religionen sind Gebetshäuser vorgesehen. Alle Religionen sollen in der Verwaltung vertreten sein. Wir nehmen die Gesellschaft als Referenz. Das heißt, alle gesellschaftlichen Gruppen treffen ihre Entscheidungen selbst und tragen sie dann an die Verwaltung heran. Das wird durch ein Rätesystem verwirklicht mit dem Ziel einer Dezentralisierung der Entscheidungsgremien. Die Beschlüsse werden von der Basis gefasst und an die Regierung weitergeleitet und nicht umgekehrt.
Im Kanton Kobanê haben sich 800 Vertreter aller gesellschaftlichen Ebenen (Frauen, Jugend, verschiedene Berufs-, aber auch Religionsgruppen) in einem Kongress zusammengefunden und aus 61 Delegierten eine Übergangsregierung gewählt.
Erklären Sie uns bitte die derzeitige militärische Lage in Kobanê. Inwiefern gibt es noch Kämpfe mit den IS-Einheiten?
Die Verteidigungseinheiten der YPG/YPJ bestehen aus Angehörigen der in Kobanê lebenden ethnischen Gruppen. In den YPG/YPJ gibt es Menschen arabischer, kurdischer, armenischer Herkunft sowie aus anderen Ländern. Die Verteidigungseinheiten beziehen ihre Stärke aus der Bevölkerung. Der Krieg dauert noch immer an. Im Süden und Osten gibt es ständig Gefechte und im Westen hin und wieder. Im Westen liegt der Fluss Firat (Euphrat) zwischen uns und dem IS.
In Kobanê haben wir den Großteil der 451 Dörfer von den IS-Besatzern befreien können. Die haben leider noch 45–50 Dörfer unter ihrer Kontrolle.
Die Angriffe auf Kobanê sind nicht nur gegen Kobanê selbst, sondern gegen die universellen Werte der Menschlichkeit und Demokratie gerichtet. Die Bevölkerung in Kobanê betrachtet es daher als ihre Aufgabe, diese grundlegenden Werte zu verteidigen. Diese Pflicht hat sie mit ihrem Widerstandswillen und -kampf erfüllt. Dabei wurde die Infrastruktur des Kantons größtenteils zerstört und das alltägliche Leben ist fast zum Erliegen gekommen. Nun liegt es an der internationalen Gemeinschaft, ihrer Verpflichtung zum Wiederaufbau und zum Schutz des Kantons Kobanê nachzukommen und damit ein Zeichen für die Zukunft der Region zu setzen.
Beschreiben Sie uns bitte die Situation der Flüchtlinge, wie sie Ihnen in und um Kobanê herum bekannt ist.
Die Flüchtlinge sind überall verteilt. Einige sind nach Nordkurdistan (Südosttürkei), ein kleiner Teil ist nach Südkurdistan (kurdische Autonomieregion im Nordirak), einige sind in die Kantone Afrîn und Cizîrê geflohen. Aber die meisten harren in Nordkurdistan aus. Dort kümmern sich die Städte, in denen die HDP (Demokratische Partei der Völker) die kommunale Verwaltung stellt, um die Flüchtlinge. Sie sichern deren Unterbringung, Gesundheits- und Lebensmittelversorgung und weitere Dinge. Zurzeit sind etwa 70 000 bis 80 000 Menschen nach Kobanê zurückgekehrt. Dessen Verwaltung versucht, ihren Alltagsbedürfnissen nachzukommen. Es muss für die Versorgung dieser Menschen dringend ein humanitärer Korridor zwischen uns und der Türkei geöffnet werden, da der Kanton Kobanê an den anderen drei Seiten vom IS umzingelt ist.
Leider war der Kanton, in dem Sie das Ministeramt innehaben, massiven Angriffen ausgesetzt. Wie weit geht die Zerstörung und wo liegt der dringliche Bedarf für den akuten, aber auch langfristigen Wiederaufbau?
Etwa achtzig Prozent der Infrastruktur, der Verwaltungsgebäude sowie der zivilen Häuser in der Stadt Kobanê (Ain al-Arab) sind komplett zerstört, ebenso Wasser- und Stromversorgung. Als der IS zurückgedrängt wurde, haben sie sehr viele Minen gelegt. Es gibt hunderte scharfe Minen und Bomben sowohl in Kobanê als auch in den umliegenden Dörfern. Dadurch kommt es oft zu Explosionen, häufig mit Toten oder Verletzten. Es liegen auch zahlreiche IS-Leichname unter den Trümmern. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich Krankheiten ausbreiten, da die Menschen gezwungen sind, ihr Trinkwasser aus den Brunnen zu schöpfen. Um diese Leichname aus den Trümmern zu bergen, benötigen wir Bergungsgeräte und -maschinen.
Erhalten Sie vor Ort internationale Unterstützung bzw. wie ist das Verhältnis zu den angrenzenden Nachbargebieten/-ländern?
Auf der einen Seite werden wir vom Islamischen Staat bedroht. Auf der anderen Seite haben wir beispielsweise vom Nachbarstaat Türkei bis jetzt keinerlei Unterstützung bekommen. Die Hilfen, die wir bisher erhalten haben, kamen von zivilen Organisationen aus Nordkurdistan. Der Zugang gespendeter Hilfsgüter aus Europa zu unseren Kantonen wird meist sogar von der türkischen Regierung verwehrt, d. h. Hilfskonvois werden nicht über die Grenze gelassen.
Zurzeit sind die »Ärzte ohne Grenzen« in Kobanê tätig. Sie untersuchen die Menschen und unterstützen uns. »Medico international« hat uns auch während des Widerstands geholfen; eine Blutbank eingerichtet, Medikamente bereitgestellt und auch einen Krankenwagen gespendet. »Heyva Sor a Kurdistanê« (Roter Halbmond Kurdistan) war auch während der Gefechte vertreten und ist bis jetzt unterstützend aktiv.
Wenn Sie die Situation in Kobanê mit der in den anderen beiden Kantonen, also Afrîn und Cizîrê, beschreibend vergleichen ...
Um den Kanton Cizîrê gibt es täglich Gefechte mit dem Islamischen Staat, in Heseke (Al-Hasaka) sowie an der Grenze zum Irak ständig Angriffe des IS. Aber im Kanton selbst sind keine Gefechte zu verzeichnen, d. h. im Vergleich zu Kobanê ist es dort ruhiger. Afrîn ist umzingelt, an zwei Seiten von Al-Nusra-Islamisten und an zwei Seiten von der Freien Syrischen Armee (FSA). Der Zugang nach Heleb (Aleppo) von Afrîn aus ist erschwert. Früher brauchte man eine Stunde dorthin, momentan muss man Umwege fahren, so dass es bis zu zehn Stunden bis Heleb dauern kann. Die Lage in Afrîn ist auch etwas besser als in Kobanê, denn sie können sich über ihre Landwirtschaft selbst versorgen, haben außerdem Olivenfelder und können weiter ihrer Arbeit nachgehen.
Vor Kurzem gab es eine Solidaritätskonferenz in Nordkurdistan, in der Stadt Amed (Diyarbakır). Zu welchen Analysen und Ergebnissen hat sie geführt?
An der Konferenz beteiligten sich Menschen aus allen vier Teilen Kurdistans. Ihr Ziel war es, den Wiederaufbau von Kobanê zu unterstützen. Menschen aus verschiedenen Ethnien, Berufsgruppen, zivilen Institutionen, aber auch Journalisten und andere Persönlichkeiten waren vertreten. Die Konferenz ging über zwei Tage und nach ausführlichen Bewertungen und Diskussionen wurde ein Komitee mit Gewählten aus Kurdistan wie auch Europa gegründet. Es wurde beschlossen, in Europa eine internationale Konferenz für den Wiederaufbau Kobanês zu veranstalten. Dementsprechend wird es eine solche demnächst geben.
Frauen sind in der ganzen Region im besonderen Maße von Gewalt und Repression betroffen, wie in diesen Tagen in Mahabad in Ostkurdistan wieder deutlich wurde. Dort kam es nach dem Tod einer jungen kurdischen Frau, die sich durch ihre Selbsttötung vor einer Vergewaltigung gerettet hatte, zu Protesten. Schildern Sie uns bitte die Lage der Frauen in Kobanê während des Krieges.
Die Frauen in Kobanê sind zum Symbol des Widerstands geworden. Wir bezeichnen den Widerstand von Kobanê als Widerstand der Frauen. Sie haben mehrmals bewiesen, dass sie ohne zu zögern bereit sind, für ihre Werte und ihre Heimat zu kämpfen. Als der Kampf beispielsweise noch außerhalb der Stadt in den umliegenden Dörfern geführt wurde, kam es zur Umzingelung von sieben Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten durch die IS-Schergen. Diese Frauen haben ihren Stützpunkt bis zur letzten Munition verteidigt. Als sie keine Munition mehr hatten und die Angreifer sie gefangen nehmen wollten, haben sie sich mit ihren letzten Handgranaten selbst getötet. Ein anderes Beispiel ist Arîn Mîrkan. Sie sprengte sich selbst in die Luft, um den IS beim Versuch, Kobanê einzunehmen, aufzuhalten. Die Ereignisse in Mahabad sind ein weiteres Beispiel. Die junge Frau fiel aus dem vierten Stock, um sich der Vergewaltigung durch einen Geheimdienstoffizier zu entziehen. An dieser Stelle will ich sämtliche gewalttätigen Übergriffe auf Frauen, so wie beispielsweise diesen Vergewaltigungsversuch, auf das Schärfste verurteilen.
Die Frauen sind der Wegweiser für die Zukunft von Rojava und Kurdistan.
Sie führen in diesen Tagen [Mai 2015] Gespräche mit unterschiedlichen politischen Akteuren in Europa. In welchem Rahmen finden Ihre Besuche statt, welches Anliegen haben Sie und wie beurteilen Sie die Resonanz?
Wir haben viele Gespräche mit Parteien, Politikern, zivilen Institutionen, NGOs und Journalisten geführt. Sie waren positiv, denn momentan wird den Entwicklungen in Kobanê große Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wollten persönlich über die Situation in Kobanê berichten und uns auch persönlich nochmals bei allen bedanken, die uns während des Widerstands unterstützt und ihre Solidarität gezeigt haben. Es besteht auch ein großes Interesse, am Wiederaufbau von Kobanê mitzuwirken. Ich denke, dass wir demnächst die ersten positiven Ergebnisse erzielen werden.
Schließlich stellt sich uns in Europa Lebenden immer wieder die Frage, wie wir Sie konkret bei der Bewältigung der Nachkriegssituation und beim Wiederaufbau unterstützen können.
Die demokratischen zivilgesellschaftlichen Kräfte in Europa haben große Solidarität mit dem Widerstand von Kobanê gezeigt. Es gab entsprechend unzählige Demonstrationen, Veranstaltungen und Erklärungen. Menschen aus aller Welt beteiligten sich am Widerstand von Kobanê, damit ist er zu einem internationalen Widerstand geworden. Der Islamische Staat und andere islamistische Gruppen sind noch immer eine Bedrohung, nicht nur für Kobanê, sondern für die gesamte Menschheit.
Natürlich hoffen wir, dass diese Solidarität mit Kobanê nach der Befreiung weiter anhält. Durch aktive Solidarität und weitere Maßnahmen sollte vor allem auch Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden, um einen humanitären Korridor zu schaffen. Die größte Unterstützung für uns wäre daher das Ermöglichen eines solchen Korridors.
In Kobanê brauchen wir dringend Unterstützung in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die Kinder werden zurzeit in Zelten und Containern unterrichtet. Es gibt momentan kein Krankenhaus in Kobanê. Zwei von den ehemals vier Krankenhäusern wurden vom IS durch Selbstmordattentate vollkommen zerstört. Die anderen beiden sind etwa zur Hälfte zerstört. Die medizinischen Geräte sind entweder beschädigt oder vom IS gestohlen worden. Die Menschen in Kobanê leben ohne sauberes Wasser. Sie müssen ihr Trinkwasser Brunnen entnehmen, die wiederum verunreinigt sind. Es bedarf hier Wasserreinigungsanlagen.
Über die Internetseite www.helpkobane.com können sich alle solidarischen Menschen und Aktivisten über die Situation und den Bedarf in Kobanê informieren. Dort werden auch Projekte zum Wiederaufbau vorgestellt; außerdem sind Hinweise zu finden, wie man sich mit uns in Verbindung setzen und durch konkrete Unterstützung etwas zum Wiederaufbau beitragen kann.
Zum Schluss: Wir begrüßen ausdrücklich den geleisteten Widerstand und die revolutionären Errungenschaften in Rojava, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahren mühevoll erkämpft und geschaffen hat, und solidarisieren uns. Damit ist insbesondere Kobanê, aber auch ganz Rojava zu einem leuchtenden Beispiel für gelebten Widerstand und einen unaufhaltsamen Selbstbestimmungswillen geworden. Wir hoffen, dass Sie nun endlich nur noch friedliche Zeiten erleben und Ihre Revolution zum Vorbild für die gesamte Region wird.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
nur im Internet: Die erste internationale Konferenz im Europaparlament: »Die Krise im Mittleren Osten, Iran und die Kurden«
Demokratische Selbstverwaltung auch für den Iran
Rede von Haj-Ahmadi Rahman , PJAK, Europäisches Parlament, Brüssel, 4. Juni 2015Die erste internationale Konferenz im Europaparlament: »Die Krise im Mittleren Osten, Iran und die Kurden«
Zuerst im Auftrag der Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK) herzliche Grüße an alle Konferenzteilnehmer. Wir hoffen, dass diese Konferenz zu einem erfolgreichen Ausgangspunkt für entsprechende Aktivitäten werden wird.
Liebe Teilnehmer!
Während wir diese Konferenz abhalten, hat im Mittleren Osten vor dem Hintergrund des Dritten Weltkriegs die Entwicklung eines politischen Prozesses begonnen. Nun zeigen sich sowohl Krisen als auch Auswege deutlicher als je zuvor. Der neue Mittlere Osten als Folge der Konflikte verschiedener soziopolitischer Kräfte nimmt eine neue Form an. Gleichzeitig wird die Islamische Republik Iran aufgrund ihres Strebens nach Vorherrschaft, des interventionistischen Programms der kapitalistischen Weltmächte und der Bewegungen aus dem Spektrum demokratischer Kräfte im Iran zunehmend zum Mittelpunkt der brandheißen Veränderungen im Mittleren Osten.
Gerade jetzt hat die Bildung eines demokratischen Forums für Diskussionen über sozialpolitische Fragen im Iran, insbesondere über akute Fragen zu Identität und Verschiedenheit der im Iran lebenden Volksgruppen, historische Bedeutung. Wenn es einen solchen Raum gibt, der durch unterschiedliche Ideen und Strategien entwickelt werden kann, dann können ernsthafte Schritte unternommen werden, um diese Krise und die schwierigen Themen zu lösen. Eine solche Konferenz zu veranstalten ist der Versuch, einen demokratischen Raum für den Dialog und Diskussionen zu schaffen; wir glauben, dass uns dies neue Türen öffnen kann. Aus kurzen Nachrichten und Kommentaren zur Situation im Iran erkennen wir, dass alle liberalen demokratischen Kräfte einschließlich der Kurden, Araber, Belutschen, Aserbaidschaner und anderen Volksgruppen, die unterdrückte Religionsvielfalt wie Yaresan, Baha'i, Christen, Zoroastrier ebenso wie die verschiedenen Kräfte und linken Sozialisten, Feministen, Anarchisten und das ganze soziale und politische Spektrum, das Freiheit, Gleichheit und Demokratie fordert, mit der harten Sicherheitspolitik der Islamischen Republik Iran konfrontiert sind. Der Mangel an der für das Zusammenbringen aller Kräfte jeder Nation, Kultur und Glaubensrichtung des Iran erforderlichen Integration lässt die Islamische Republik die akuten sozialpolitischen Fragen auf einseitige und ausbeuterische Art und Weise behandeln. Das Ergebnis ist eine Situation, mit der die Menschen des Iran zu kämpfen haben: kultureller Völkermord, fehlende Meinungs- und Organisierungsfreiheit, Hinrichtungen politischer Gefangener, von der Regierung entfesselter Terror gegen die Gesellschaft, vor allem gegen den Widerstand der Völker; damit sind sie heute konfrontiert.
Wenn wir zu den Wurzeln der Probleme der Menschen des Iran zurückgehen und viele solche Phänomene berücksichtigen wollen, müssen wir die adäquate Art und Weise entwickeln, um das globale System und seine Natur zu verstehen. Der Iran ist eine »Komponente«, die nur im »gesamten« Weltsystem verständlich wird. Es ist offensichtlich, dass unser Zeitalter durch das kapitalistische System geprägt ist. Das globale kapitalistische System beeinflusst alle Bereiche des öffentlichen Lebens, das heißt jedoch nicht, dass es unbesiegbar wäre. Gründe, um jeglichen Kampf gegen die Regierungstyrannei der letzten hundert Jahre endlich zu einem guten Ende zu bringen, können in einigen Fällen zusammengefasst werden:
- Die Stressfaktoren Nationalismus und Krieg, die nur der »Teile und herrsche«-Politik der imperialistischen Mächte gedient haben.
- Der Kern sozialer und politischer Bewegungen spielte schon immer eine wichtige Rolle bei der Förderung der demokratischen und Befreiungskämpfe, aber ohne Abwehrmechanismen gegen die Zentralregierung blieben sie meist wehrlos und wurden unterdrückt.
- Das Fehlen eines alternativen Modells, in dem die Gemeinschaft als politischer Aktivist auftritt und sich von machtorientierten und regierungsnahen Strömungen befreit. In demselben Maße, in dem der monopolistische Nationalstaat schon immer Heiligtum und Besonderheit war, wurde die Gesellschaft ihrer Selbstverwaltung beraubt.
- Die Zentralregierung hält demokratische und identitätssuchende Bewegungen für gefährlich, ebenso die mannigfaltige iranische Opposition; die gemeinsame Grundlage ist der Nationalismus. Demokratische und identitätssuchende Kräfte der Völker des Iran, darunter Kurden, Araber, Belutschen, Aseris, Turkmenen, Gilaks, Mazen etc., bilden ein lokales Demokratiefeld und können den Weg für eine demokratische Politik im Iran öffnen.
- Direkte Angriffe der Islamischen Republik Iran zur Beseitigung des linken politischen Spektrums standen im Einklang mit der Positionierung des Liberalismus gegen die Idee des Sozialismus. Mit der Förderung der falschen Vorstellung, dass Individualrechte und liberale Demokratie drängende soziale Probleme lösen könnten, versuchte der Liberalismus die sozialistische Bewegung zu schwächen oder zu beseitigen. Währenddessen ist das gesellschaftliche Demokratiemodell sozialistischer Natur. Es ist offensichtlich, dass es des Modells der Demokratie bedarf, in dem ein Gleichgewicht zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft herrscht, weil es berücksichtigt, dass Individuum und Gesellschaft einander ergänzen und ohne die Existenz und Freiheit des einen die Existenz und Freiheit des anderen nicht möglich sind.
- Der Charakter jedes Nationalstaats, vor allem der Zentralregierung des Iran, ist streng patriarchal. Trotz ihrer Beteiligung an sozialen und politischen Bewegungen verfügen Frauen über keine entsprechende Position. Ein Demokratiemodell, in dem Frauen nicht praktisch und intellektuell aktiv sein können, kann nicht als perfekte Demokratie und Lösung betrachtet werden. Eine radikale Demokratie, die akute soziale und politische Fragen des Iran lösen will, muss frei von Klassen- und Geschlechterorientierung sein.
Liebe Teilnehmer der Konferenz!
Wir als PJAK bieten ein alternatives Modell zur Lösung der Probleme der Menschen im Iran. Dieses alternative Modell gründet auf der Theorie der »demokratischen Nation« und hat eine konföderale demokratische Struktur. Der praktische Ausdruck dieses Modells ist das System der Demokratischen und Freien Gesellschaft in Ostkurdistan (KODAR), das die PJAK nach einem Jahrzehnt Kampferfahrung etablieren will und wozu nun weitere Aktivitäten unternommen werden, um Demokratie und Freiheit in Ostkurdistan und im Iran zu vervollkommnen.
Der zentralistische Nationalstaat Iran hat immer versucht, die zahlreichen ethnischen, religiösen und kulturellen Identitäten und das breite Spektrum ideologischer und politischer Gruppen durch Druck und Unterdrückung einzuschränken und alle in eine mononationale Struktur zu zwängen. Diese mononationale Struktur kann als »Nationalstaat« bezeichnet werden. Eine Nation unter der Ägide der Zentralregierung hat ihren politischen Willen verloren und keine interne Kontrollmacht mehr. Die demokratische Nation, die wir für eine Alternative halten, ist eine Nichtregierungs-Nation, die aus gesellschaftlicher Vielfalt besteht, wobei das gesamte Spektrum und die Vielfalt der Gesellschaft Selbstverwaltungs- und Kontrollmacht besitzen. Demokratischer Konföderalismus ist eine durch die demokratische Nation geschaffene Form politischer Verwaltung.
Demokratischer Konföderalismus ist ein großzügiger Rahmen für die Annäherung der zivilgesellschaftlichen Gruppen, Gemeinschaften und Einzelpersonen, die sich freiwillig auf der Grundlage der Solidarität und der Werte von Freiheit und Gleichheit zusammenfinden. Wir definieren diese Freiheit und Gleichheit auf der Grundlage der Achtung der Unterschiede. Wir betrachten alle kulturellen, religiösen, sprachlichen und ethnischen Unterschiede als Bereicherung und als wertvollen Faktor zur Förderung der Demokratie. Das ist es, was die unterdrückten Menschen im Iran brauchen. Diese Menschen tragen seit Jahren die Wunden der Assimilation, Verleugnung, Zerstörung von Kultur und des fehlenden politischen Status. Wir betrachten die radikale Demokratie des Volkes als Mittel zur Heilung dieser Wunden und Leiden. Im Gegensatz zu der strikten Zentralisation der Regierung, die danach trachtet, die Gesellschaften und multiidentitäre Zivilisten zu marginalisieren, zu assimilieren oder auszulöschen, bietet das Modell des demokratischen Konföderalismus allen Menschen die freie, gleiche und freiwillige Partizipation. Dieses Modell ist ein effizientes und bestmögliches System für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und sozialer Identitäten, die Tausende von Jahren zusammen verbracht haben und auch viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Einer durch die despotische iranische Staatsgewalt geschwächten Regierungsnation wird durch die Bildung der Gemeinschaft demokratischer Nationen die Kraft verliehen, die Selbstverwaltung all der ihr eigenen Mannigfaltigkeit zu ermöglichen. Trotz der Aufhebung der bürgerlichen, politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und Selbstverteidigungsrechte der iranischen Bevölkerung glauben wir, dass ihr der Status demokratischer Selbstverwaltung Existenz und Freiheit garantieren kann. Wir schlagen zwei Methoden zur Umsetzung dieses Modells vor:
- Eine demokratische Lösung für die Probleme der Bevölkerung des Iran durch politische Öffnung, um eine demokratische Verfassung mit der offiziellen Anerkennung des Status der »demokratischen Selbstverwaltung« der iranischen Bevölkerung zu erzielen. Es gibt keinen anderen Weg für die Koexistenz der multinationalen Gesellschaft und der Zentralregierung des Iran unter einem politischen Dach. In diesem Zusammenhang haben wir gesagt, wenn die Regierung die kurdische Frage auf friedlichem Wege lösen will, ist die Anerkennung des Status der demokratischen Selbstverwaltung für die Kurden Ostkurdistans eine unabdingbare Voraussetzung.
Zweifellos bedeuten das Insistieren der Regierung des Iran auf der Aufrechterhaltung von Zentralismus und straffer Nationalstaatskonstruktion und ihre mangelnde Flexibilität im Umgang mit den Problemen der Menschen ihr Insistieren auf der Nichtlösung der Fragen. - Wenn die Zentralregierung darauf beharrt, die Probleme der Bevölkerung ungelöst zu lassen, verstehen wir die Einrichtung einer einseitigen demokratischen Selbstverwaltung als legitimes Recht einer jeden Volksgruppe und Nation. Demokratische Selbstverwaltung ist genau die Verwirklichung des Prinzips des »Rechts der Nationen auf die eigene Selbstbestimmung« auf demokratische und nichtstaatliche Weise. In diesem Fall wird die legitime Selbstverteidigung gegen staatliche Angriffe angewendet werden. Dem kulturellen Kontext und der sozialgeschichtlichen Struktur in verschiedenen Regionen des Iran entsprechend könnten das Kantonsmodell oder demokratische Staaten als Vorbild dienen und die Demokratische Union könnte zwischen ihnen gebildet werden.
Es ist wichtig, auf beide genannten Fälle, die den demokratischen Ansatz zur Problemlösung darstellen, vorbereitet zu sein. Laut PJAK entspricht es dem politischen Bewusstsein der iranischen Bevölkerung, eine solche Lösung durch Bewegungen, Organisationen und Parteien zu realisieren. Wir werden diese Methode der demokratischen Nationen im Rahmen von KODAR in Ostkurdistan anwenden und schlagen ein solches Modell für andere Menschen im Iran vor. Wir verstehen dieses Modell als ein alternatives und glauben, dass das Beharren auf traditionellen und nationalistischen Methoden nur den Menschen schaden wird. Unsere Lösung der demokratischen Nation ist offen und empfänglich für alle Unterschiedlichkeiten und Identitäten. Diese Eigenschaft kann in den Bewegungen des iranischen Volkes institutionalisiert werden. Wir glauben, dass dem Übergang vom derzeitigen Verhalten zur notwendigen Annäherung an die demokratische Kampagne der Boden bereitet werden kann. Unsere Konferenz kann die Konferenz des »demokratischen und genossenschaftlichen Hauses« der Menschen im Iran und der verschiedenen ideologischen und politischen Strömungen sein, die im Bereich Freiheit und Demokratie aktiv sind.
Während dieser Konferenz wird festgehalten, dass der Mittlere Osten Schauplatz für Blutvergießen und Konflikte ist. Bisher verfügen weder die Kräfte der kapitalistischen Welt noch der regionale konservative Nationalstaat, einschließlich des Iran, über das Projekt oder einen Plan zur Problemlösung und ihr Handeln hat nur zu den akuten Problemen geführt. Krisen breiten sich aus und bedürfen einer neuen Strategie für einen radikalen Ausweg. Wir nennen diese politische Strategie »dritter Weg«. Das bedeutet, sich weder dem autoritären, nach Hegemonie trachtenden und repressiven Nationalstaat des Mittleren Ostens zu beugen noch der aggressiven und kriegstreiberischen Politik der kapitalistischen Kräfte zu unterwerfen. Besonders wir als PJAK begründen diese Strategie in Ostkurdistan und dem Iran.
Das Streben nach Hegemonie in der Region führt zur Bildung von solchem multistaatlichen Terrorismus wie dem von ISIS und zu Kriegen unter religiös-nationalistischem Deckmantel, die alle Regierungen und Völker erfasst haben. In Ermangelung einer weiteren demokratischen Lösung im Iran besteht jederzeit die Gefahr, dass dieser auf eine Situation wie im Irak und in Syrien zusteuert. Daher ist eine Beschleunigung der Demokratiebewegung im Iran von entscheidender Bedeutung.
Es ist klar, dass die Islamische Republik durch das Insistieren auf ihrer faschistischen und menschenfeindlichen Politik gegen die Völker jenseits ihrer Grenzen zu einer ernsthaften Bedrohung für die Völker des Iran und der Region geworden ist. So wie die Formierung von Antifaschismus und der Widerstandsfront wie in Kobanê gegen den multistaatlichen Terrorismus wie den ISIS ist der einzige Weg gegen den Faschismus der Islamischen Republik Iran die Verstärkung der demokratischen Solidaritätsfront der Menschen. Das einzige Gegenmittel gegen Fundamentalismus, Faschismus und Tyrannei ist das »lokale, regionale und globale Modell der Demokratie«. Wir glauben, dass die historische Realität und die große Erfahrung der politischen Kämpfe der Menschen im Iran ein Beispiel für Demokratie bringen können. Weil das Risiko des Aufkommens neuer Arten von ISIS, Hisbollah und anderen Stützpfeilern des Stellvertreterkrieges besteht und es zu Völkermord und der Tragödie des Dritten Weltkriegs kommen kann, sollte die Gelegenheit wahrgenommen werden, einen ernsthaften Schritt im demokratischen Kampf zu unternehmen. Die Islamische Republik Iran hat immer versucht, die inneren Angelegenheiten, einschließlich der Fragen der Kurden, Araber, Belutschen, Baha'i, Frauen und anderer Aspekte, unsichtbar zu machen. Verschleiert ihre ebenfalls bestehende ISIS-Identität, versteckt ihr faschistisches und autoritäres Gesicht hinter der Legitimation der internationalen Konzessionsgeber-Diplomatie und versucht auf diese Weise, Opposition und revolutionäre Kräfte unwirksam zu machen. Angesichts einer solchen Situation rufen wir alle politischen Bewegungen des Iran auf, eine demokratische Allianz zu bilden.
Die PJAK glaubt, dass das genannte demokratische Modell einen gemeinsamen Schirm für alle freien Völker bildet, einschließlich der Kurden, Araber, Belutschen, Aseri, Turkmenen, Gilaks, Mazen und Perser. Dieses demokratische Modell ist ein gemeinsames Haus für Yaresan, Baha'i, Christen, Juden, Zoroastrier, Sunniten und Schiiten. Unser demokratisches Modell betrachten wir als sicheres Zuhause für Armenier, Assyrer, Chaldäer, Sabäer und historische Identitäten im Iran, die als »Minderheit« vom Aussterben bedroht sind ist. Dieses demokratische Modell ist die historische Antwort auf die Forderung der Frauen des Iran nach Freiheit. Dieses demokratische Modell ist ein herrliches Feld, um all die Elemente demokratischer Moderne zu präsentieren, einschließlich der Sozialisten, Feministen, Ökologen, kulturellen Bewegungen sowie religiösen und ideologischen Strömungen antiautoritärer und antikapitalistische Natur. Das von der PJAK als Lösung vorgeschlagene Modell demokratischer Nationen ist offen für Pluralismus, weil es mit demokratischer Politik kompatibel ist, daher könnte eine Vielfalt zivilpolitischer Institutionen hineinpassen ohne das Problem der Unterschiedlichkeit bei Rasse, Nationalität, Religion, Sprache und Kultur; das bedeutet, dass die demokratische Politik, an die wir glauben, uns allen die Einheit neben Vielfalt gibt. Als den Menschen des Iran werden die verschiedenen Identitäten aller geschützt werden, und wir werden eine demokratische Allianz erreichen für einen gemeinschaftlichen Kampf zur Lösung unserer Probleme.
Die PJAK ist der Ansicht, dass der Geist der demokratischen Konvergenz, um den unermüdlichen Widerstand und Kampf der Menschen zum Tragen zu bringen, zuerst innerhalb der demokratischen Bewegungen und Institutionen erzeugt werden muss. Wir glauben, dass die zivilpolitischen Organisationen, die bestrebt sind, demokratische Forderungen der Identitäten, Nationalitäten und Kulturen im Iran zu erfüllen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten mehr denn je vereinigen müssen. Nur mit einem solchen Vorgehen lassen sich die Krise, das Leiden und die Tragödien verlassen, mit denen unser Volk konfrontiert war, und lässt sich versprechen, zu Demokratie und Freiheit zu führen.
Abschließend erwähnen wir noch einmal, dass unsere Konferenz ein wichtiger Schritt auf diesem Weg der Veränderung ist und zu einem neuen Kapitel führen kann. Mit dieser Hoffnung noch einmal aufrichtige Grüße von der PJAK.
Partei für ein Freies Leben in Kurdistan ─ PJAK
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Die Konferenz wurde organisiert von der Gruppe der Kurdischen Freundschaft im Europaparlament, dem Nationalkongress Kurdistan KNK und der Ostkurdistankommission.