Das konföderale System der Frauen in Kurdistan: KJK

Die Frauen als Avantgarde

Gönül Kaya, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung

Wir befinden uns in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Aus Sicht der Frau, der Natur, des Individuums und der Gesellschaft ist die Menschheit Zeugin von gewaltigen Zerstörungen, Massakern, Armut, Kriegen und ähnlichen Katastrophen. Dieselbe Menschheit bezeugt aber auch Menschen, die auf der Suche nach Freiheit und Demokratie sind. Die die auf Macht, Klasse, Sexismus, Nationalismus und Wissenschaftlichkeit beruhende Politik und Mentalität und das gesellschaftliche System hinterfragen. Die den Kampf für das Praktizieren eines alternativen Lebens führen. Diese Phase wird als Chaosintervall bezeichnet.1 Im Hinblick auf den Ausgang dieses Intervalls ereignet sich ein historischer Prozess.

Für einen Ausgang nach ihren eigenen Vorstellungen sind die Kräfte der kapitalistischen Moderne bemüht, die Angriffe und die Ausbeutung in allen möglichen Bereichen zu vertiefen, im ideologischen, technologischen, politisch-akademischen Bereich, in der Ökonomie, der Kultur, dem Sport. Nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung Anfang der 1990er hatten die modernen sumerischen Priester des kapitalistischen Systems Diskurse zu verbreiten versucht, die das Ende der Ideologien und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus propagierten. Sie präsentierten sich selbst als einzige und letzte Herrscher. Aus Sicht der Völker, der Frauen und aller Unterdrückten, die den Gegenpart zum kapitalistischen System bilden, drückt dieser Prozess eine bedeutende Phase der Veränderung und Transformation aus. Es wurde begonnen, Begriffe bzw. Konzepte wie Macht, Staat, Klassengesellschaft, Demokratie, Frauenfreiheit, Überwindung von Natur- und Umweltproblemen und das Modell des Nationalstaats zu hinterfragen. Ist es ausreichend, das kapitalistische System abzulehnen? Aus welchem Grund konnten keine Alternativsysteme aufgebaut werden? Was ist der Grund für die unterschiedlichen Entwicklungen der großen Revolutionen der Menschheit? Der Feminismus hat große Fortschritte erzielt, aber warum konnte das kapitalistische System nicht überwunden werden? Warum konnte die Radikalität im hinterfragenden Denken nicht in eine neue Lebensform und in den Aufbau eines neuen Systems transformiert werden? Solche und ähnliche Fragen haben das Entstehen von Alternativkräften zur kapitalistischen Moderne beschleunigt.

Eine dieser Kräfte, die sich auf der Suche befinden, hinterfragen und ein alternatives Gesellschaftssystem schaffen, ist die aufstrebende kurdische Freiheitsbewegung im Mittleren Osten. Bei ihrer Suche und in ihrem Hinterfragen hat sie sich nicht vom »Sozialismus« abgewendet. Ohne sich bei ihrer Methodik des Hinterfragens in den Fallstricken der Ideologen des kapitalistischen Systems zu verfangen, hat sie Fragen gestellt wie: Wo wurden Fehler gemacht? Welche Aspekte des Systems wurden reproduziert? Wie können diese Fehler überwunden werden? Auf der einen Seite verteidigt sie im Mittleren Osten und in Kurdistan mit der kurdischen Gesellschaft alle genozidgefährdeten Volksgruppen und bekämpft deshalb den türkisch-arabisch-persischen Nationalstaatskolonialismus. Auf der anderen Seite streitet sie viel mehr für ein Hinterfragen der Mentalität und des Lebens und für die Überwindung der auf Macht und Sexismus beruhenden Persönlichkeitsstrukturen im gegenwärtigen System.Leben in den Bergen Kurdistans

Die kurdische Freiheitsbewegung unter der Vorreiterschaft der PKK hat ihre radikalste Öffnung und Veränderung im inneren Kampf für eine gesellschaftliche Revolution im Bereich der Freiheit und Organisierung der Frau verwirklicht. Als grundlegenden Widerspruch betrachtet sie nicht den Klassenwiderspruch. Als Hauptwiderspruch werden das zwischen Frau und Mann errichtete Ausbeutungssystem, die zugehörige Mentalität und die Vergesellschaftung der von den Herrschenden aufgebauten machtbasierten Beziehungen gesehen. Und Sozialismus, Demokratie, Freiheit und Gleichheit sind an ein neues System gesellschaftlicher Beziehungen gebunden, das sich auf Gleichheit und Freiheit zwischen den Geschlechtern stützt.
Es lässt sich gegen das System rebellieren und starker Widerstand beweisen, ohne sich von den gegenwärtigen, vom patriarchalen System erzeugten Denkmustern von Frau und Mann zu befreien und die systemimmanenten Lebensgewohnheiten zu überwinden, doch eine alternative Gesellschaftsform wird so nicht geschaffen werden können. In dieser Hinsicht wurde der Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems, das auf der Freiheit der Frau beruht, ins Zentrum des Kampfes gestellt. Der Vordenker dieser Theorie, Abdullah Öcalan, hat mit dieser Herangehensweise den Menschen, die auf der Suche nach einer Alternative sind, sowie den Sozialisten dargelegt, von welcher Bedeutung die Freiheit der Frau ist.

In diesem Prozess der Veränderung und Transformation, der vor 1999 begann, hat die kurdische Frauenbewegung auf dieser Grundlage eine wichtige Intensivierung erfahren. Am 8. März 1998 wurde die Frauenbefreiungsideologie verkündet. Später wurden neben deren Prinzipien die »Theorie der Loslösung« sowie das »Projekt zur Transformation des Mannes« auf die Agenda gesetzt.

Dabei werden die beiden großen sexuellen Umbrüche, welche die Frauen in der Geschichte erlebt haben,2 und das dem folgende System hinterfragt. Diese beiden sexuellen Umbrüche haben die mentale, physische, ökonomische, gesellschaftliche und Willenskraft der Frau vernichtet. Dies dauert bis heute an und ist der längste Genozid in der Geschichte. Für die Schaffung eines alternativen Systems muss sich in diesem Jahrhundert dieses Mal ein Umbruch in der männlichen Mentalität und Lebensweise ereignen. Die konstruierten Frauen- und Männerrollen müssen überwunden werden. Die Frage danach, wie ein freier Mensch zu leben hat, wie ein Gesellschaftssystem aufzubauen ist, kann den Frauenfreiheitskampf auf eine neue Stufe befördern. Auf diese Weise können im Mittleren Osten und in Kurdistan die Frauenfrage und damit verbundene Lösungsformeln in den Vordergrund gerückt werden – was der Feminismus im Westen erfolgreich geschafft hat. Und die Lösung und Alternative ist es, bei der Frau und in der gesellschaftlichen Dimension Bewusstsein zu schaffen und, ohne das gegenwärtige System zu reproduzieren, ein neues gesellschaftliches System aufzubauen.

Um die ersten Schritte in diese Richtung besser zu organisieren, entwickelte die kurdische Frauenbewegung eine autonome Organisierung der Selbstverteidigung in den Reihen der Guerilla. Der im Jahr 1995 seine Gründung verkündende YAJK (Freier Frauenverband Kurdistans) hatte zum Ziel, die autonome Identität der Frau zu entwickeln. Daneben dauerten auch die Arbeiten zur Entwicklung der Frauenfreiheitsideologie an. Die Parteiwerdung der Frauen realisierte sich unter dem Namen PJA (Partei der Freien Frau, gegr. 2000). All dies zielte darauf ab, bei den Frauen – ob in den Kriegsgebieten, Städten, Dörfern oder Gefängnissen – Bewusstsein zu schaffen, sie zu organisieren und zu einer Kraft zu formen. Auf dieser Grundlage wird zum Aufbau eines alternativen Systems in Kurdistan Bildungsarbeit für die Frau zu allen Aspekten geleistet.

Bis ins Jahr 2005 arbeitete die kurdische Frauenbewegung weiter an der ideologischen Vertiefung für den Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems. Wichtige Aspekte, die hinterfragt werden, sind insbesondere die Geschichte des Patriarchats, die ungeschriebene Geschichte der Frau und das auf Herrschaft, Sexismus, Klassen und Staat beruhende System und die darauf gründende Mentalität. Ein weiteres grundlegendes Feld der Untersuchung und Recherche sind die Geschichte des Feminismus und die Erfahrungen vergangener Kämpfe. Im ideologischen Bereich wird der Bildung und Recherche großer Wert beigemessen. Mit der grundsätzlichen Feststellung, dass die Frauenfreiheitsideologie nicht nur auf die Freiheit eines Geschlechts abzielt, sondern eine gesellschaftliche Ideologie ist, werden Arbeiten zur gesellschaftlichen Veränderung und Transformierung durchgeführt. Es werden Bildungsmaßnahmen auf den Weg gebracht, welche die Frauenfreiheitsideologie vergesellschaften, Bewusstsein bei den Frauen schaffen und bei den Männern das patriarchale System brechen.

Im Jahr 2005 kam die kurdische Frauenbewegung zu dem Entschluss, das für die Freiheit Kurdistans unterbreitete System des Demokratischen Konföderalismus mit der Vorreiterrolle der Frau aufzubauen. Auf diesem historischen Kongress wurde entschieden, mit der Frauenorganisierung die Vorreiterrolle im alternativen gesellschaftlichen System anzustreben. Dafür wurde betont, dass in allen Bereichen die Organisierung der Frau verwirklicht werde: im ideologischen Bereich mit der PAJK (Partei der Freien Frau Kurdistans, gegr. 2004), im gesellschaftlichen Bereich mit den YJA (Verbände der Freien Frauen, gegr. 2004), im Bereich der Selbstverteidigung mit den YJA STAR (Einheiten der Freien Frauen STAR) und mit einer autonomen Organisierung für die jungen Frauen. Diese Organisierungsvarianten sollten in horizontaler Beziehung zueinander stehen und sich unter einem Dach zusammenschließen. Dieses Dach wurde der Hohe Frauenrat (KJB).

Von 2005 bis 2014 wurde das System der Organisierung kurdischer Frauen unter dem Dach des KJB verfolgt und bedeutende Arbeiten wurden vollbracht. Es wurde damit begonnen, in Kurdistan Frauenkommunen in Dörfern/Stadtteilen zu bilden, die Frauenräte und Frauenakademien in den Kommunen zu entwickeln und im ökonomischen Bereich Kooperativen aufzubauen. Entsprechend diesen Arbeitsfeldern wurden in Kurdistan und überall dort, wo kurdische Frauen leben, Bildungsmaßnahmen, Treffen und Aktionen durchgeführt. Es wurde zur Grundlage gemacht, dass die wichtigen Entscheidungen von unten getroffen werden.

Es wurde dafür gekämpft, dass die Aufklärungsarbeit für die Frauen nicht auf die »Akademikerinnen« begrenzt blieb und das Wissen mit der Frau und der Gesellschaft geteilt wird. Ein weiteres wichtiges Thema des Kampfes war der Widerstand gegen die vonseiten der Kolonialstaaten betriebene Politik der Gewalt, des Krieges und der Massaker gegen die Frauen sowie der Widerstand gegen die Gewaltanwendung und die damit verbundene Mentalität gegen die Frau innerhalb der Gesellschaft. In der Gesellschaft wurden Kampagnen organisiert und jegliche auf Macht und Massakern basierende patriarchale Politik unter dem Deckmantel von »Tradition/Religion/Gesetz« wurde bloßgestellt.

Ein nächster Vorstoß, der die gesellschaftliche Wahrnehmung betraf, war das »Kovorsitz-System«. Ziel hierbei ist nicht eine symbolische und bürokratische Gleichheit zwischen Frau und Mann in politischen Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es geht darum, gegen alle möglichen monistischen Perspektiven Pluralität auf der Grundlage freiheitlicher Prinzipien zu schaffen. Das Projekt des Kovorsitz-Systems wurde im gesellschaftlichen Bereich als »Projekt für ein freies, partnerschaftliches Leben« bestimmt.

Der klarste Ausdruck für den Kampf um Selbstverteidigung – als einem Kampfterrain im unter militärischer Besatzung und Ausbeutung stehenden Kurdistan – ist Rojava/Şengal (Sindschar) und Kobanê. Die von Frauen verschiedenster Ethnien aus Rojava zusammengesetzten Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) haben nicht nur für den Mittleren Osten, sondern für die gesamte Welt einen Kampf um Freiheit geführt. Die Ideologie, auf die sie sich stützen, ist das demokratische, ökologische und frauenbefreite Gesellschaftssystem und Paradigma.

Der KJB erklärte auf seinem Kongress im Jahr 2014, eine neue Etappe erreicht zu haben. So wurde der Übergang auf eine Organisierung nach dem konföderalen System verkündet, während der KJB noch eine Dachorganisation verkörpert hatte. Dieses konföderale System der Frau wurde Gemeinschaft der Frauen Kurdistans genannt – Komalên Jinên Kurdistan, KJK. KJK ist also nicht nur die Bezeichnung für eine Frauenorganisierung, sondern der Name für das System der Frau in der Aufbauphase.

Die kurdische Frauenbewegung hat als KJK bestimmt, in allen Bereichen sich selbst und das System aufzubauen. In Nord- und Südkurdistan, in West- und Ostkurdistan sowie im Ausland hat sie sich die Errichtung dieses Modells der Kommunen und Räte zum Ziel gesetzt. Dafür wird sie zuerst in Dörfern und Stadtteilen die Kommunen als Wurzeln des konföderalen Systems der Frau aufbauen. Die kommunale Lebensweise wird die Grundlage bilden. Denn das konföderale System nimmt diese Art zu leben zu seiner Grundlage. Kein Bereich darf ohne Organisierung bleiben. KJK bedeutet das kommunale Leben als klarster Ausdruck unserer Farbe. Das Ziel ist, dass jede Frau, egal welcher Nation, in allen Bereichen ihren Platz in den Kommunen und Räten einnimmt und über ihre eigenen Bedürfnisse selbst bestimmt. Dieses System ist die KJK.

Die KJK hat vier Phänomene als Widerpart definiert: Sexismus, Nationalismus, Fundamentalismus und Szientismus. Frauen aus jeder gesellschaftlichen Schicht und aus den verschiedensten Volksgruppen, die sich dem entgegenstellen, können mit ihrer eigenen Farbe, Sprache, ihrem Glauben und Willen im KJK-System Platz finden. Zur Flagge der KJK erläutern ihre Vertreterinnen: »Es wurde ein Flaggenmodell entwickelt, das die wesentlichen Besonderheiten des konföderalen Systems wiedergibt. Sie enthält beispielsweise einen Ölzweig, einen Stern und eine Sonne. Die Symbole tabuisieren wir nicht, sondern nehmen sie als Werte in die Hand. Alle Symbole, die wir ausgewählt haben, repräsentieren die Werte der Gesellschaft und unseres Kampfes. Der Ölzweig drückt die Kultur der Frau und die Arbeit aus. Aus der Mythologie und den Religionen ist die Nähe zwischen den Sternen und der Frau geläufig. Gleichzeitig handelt es sich beim Stern auch um ein Symbol für den Sozialismus. Die Sonne repräsentiert sowohl unsere Führung als auch das Licht.«

Die KJK ist das Freiheitssystem der Frau, das im Mittleren Osten und in Kurdistan ersteht. Die kurdische Gesellschaft begreift jeden Tag mehr, dass der Aufbau des Freiheitssystems der Frau die Garantie für ihr eigenes System der Freiheit ist. In diesem Sinne geht der Kampf um den Systemaufbau durch die KJK zusammen mit der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) weiter. Beide sind auf dem Weg zu universaler Dimension.


Fußnoten:

1) Vgl. Verteidigungsschriften A. Öcalans, »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, Köln 2010, S. 19: »In der Entwicklungsdialektik jedes Phänomens zeigt sich ein ›Chaosintervall‹, ein Zeitraum eines chaotischen Übergangs, das bei qualitativer Veränderung notwendigerweise auftritt. (…) Eine gradlinige Vorwärtsentwicklung aus dem Intervall heraus ist nicht immer möglich. (…) In menschlichen Gesellschaften nennt man derartige Intervalle ›Krisenzeiten‹.«

2) Das waren die Errichtung des Patriarchats und die Etablierung der monotheistischen Religionen; vgl. A. Öcalan: »Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau«, Köln 2014.