Analyse der Wahlergebnisse vom 7. Juni
Die HDP ist ihrer Verantwortung gerecht geworden
Veysi Sarısözen, Journalist
Die Türkei hat die kritischste Parlamentswahl ihrer Geschichte abgehalten. Für die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die profaschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) gab es nur »quantitative« Ergebnisse. Die CHP verlor einige Stimmen, die MHP gewann einige. Die Position beider Parteien im türkischen Parlament hat sich damit nicht verändert. Im Gegensatz dazu erlebten die an der Macht stehende »islamistische und nationalistische« Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und die als Bündnis der kurdischen politischen Bewegung mit linken, sozialistischen, feministischen, grünen, linksliberalen und LGBT-Kräften angetretene Demokratische Partei der Völker (HDP) in qualitativer Hinsicht eine große Veränderung. Die seit dreizehn Jahren die Regierung stellende AKP verlor ihre absolute Parlamentsmehrheit, die HDP dagegen gewann mit der Überwindung der Zehnprozenthürde, die der 12.-September-Faschismus gegen die kurdische Gesellschaft in der Verfassung verankert hatte, 80 Sitze. Zweifellos zeigen der Abfall der AKP von 50 auf 40 % und die Überwindung der Wahlhürde mit 13 % durch die HDP nur eine Seite der Wahl vom 7. Juni.
Es gab noch etliche weitere Veränderungen: Zuvor war die AKP in den westlichen Provinzen Nordkurdistans ohne Konkurrenz gewesen. Insbesondere in den von sunnitischen und alevitischen Kurden gemeinsam bewohnten Provinzen unterstützten die sunnitischen Kurden die ihnen als »sunnitisch« bekannte AKP. In einigen Provinzen, wo die Kurden ihre Mehrheit aufgrund von Assimilation, Migration etc. eingebüßt hatten, war der türkische Bevölkerungsanteil gegenüber früher gestiegen. Die AKP erhielt auch in solchen Provinzen Nordkurdistans eine Stimmenmehrheit. Auf der anderen Seite unterstützte die gegen das staatliche »Sunnitentum« eingestellte und in den überwiegend von kurdischen Aleviten bewohnten kurdischen Provinzen lebende Mehrheit der Aleviten die »laizistische« CHP. Bei der Wahl vom 7. Juni kam es nun zu einer radikalen Änderung des Kräfteverhältnisses in ganz Nordkurdistan. Die HDP erlebte in den genannten AKP-beeinflussten Provinzen einen enormen Stimmenzuwachs und fügte der AKP in Kurdistan eine erhebliche Niederlage zu. Außer in fünf, sechs Provinzen erfuhr die HDP dort von der Bevölkerung eine achtzigprozentige Unterstützung. Die »fundamentalistisch-islamistische« Partei der Freien Sache (Hüda Par), die an der Seite der AKP heranwächst, hat mit nur wenigen Stimmen keine Unterstützung in der Bevölkerung gefunden. Die CHP gewann beispielsweise in Dêrsim (Tunceli), trotz sonst üblicher zahlreicher Stimmen, nicht einen einzigen Abgeordneten. Bekanntlich hatten AKP und Staatspräsident Erdoğan vor der Wahl erklärt, gestützt auf die durch Assimilation und Migration veränderte Bevölkerungszusammensetzung in den nordkurdischen Provinzen, dass nicht die HDP, sondern die AKP Kurdistan vertrete. Diese Behauptung rüttelte an der nationalen demokratischen Einheit der kurdischen Gesellschaft und wurde mit der Wahl klar widerlegt. In den kurdischen Provinzen, in denen die AKP immer noch über Einfluss verfügte, und in Nordkurdistan im Allgemeinen hat die HDP die AKP weit überholt. Die AKP konnte dort meist nur Stimmen aus dem Militär, der Polizei, der zivilen Bürokratie, der kleinen türkischen Minderheit und dem Dorfschützersystem gewinnen.
Somit ist die im Grunde sowieso sinnlose »Diskussion«, wer wen in Nordkurdistan »vertritt«, sicher zu Ende. Abschließend hat die AKP zusammen mit ihrem Fall in die »Minderheit« den Status als erste Partei bei den Wahlen in Nordkurdistan verloren und die HDP ist mit dem Überwinden der Wahlhürde in der Gesamttürkei und dem Gewinn der großen Mehrheit in Nordkurdistan zur »ersten« Partei geworden. Dies ist das deutlichste Ergebnis dieser Wahl im Hinblick auf das Hauptproblem der Türkei, die kurdische Frage.
Es gibt noch ein weiteres Wahlergebnis mit »revolutionärer« Qualität, und zwar in horizontaler Dimension. Das HDP-Wahlprogramm, das sich auf die von ihr vertretene »geschlechterbefreite, ökologische und freiheitlich-kommunale Gesellschaft« stützt, hat alle Parteien in der Türkei, außer der MHP, beeinflusst. AKP und CHP, »männerdominiert«, waren unter dem Eindruck des Kampfes der HDP-Frauen gezwungen, eine bisher nicht gekannte Anzahl Kandidatinnen zu nominieren. Am Ende wurde eine Anzahl Frauen (97) gewählt, die das türkische Parlament bisher nicht gesehen hatte. Ohne Zweifel haben die HDP-Kandidatinnen mit 38 Prozent der Gewählten als demokratische Frauen die Vorreiterrolle für diese »Parlamentsabgeordneten-Bewegung« gespielt. Somit hat die »männlich dominierte Repräsentation« im türkischen Parlament ihre erste große Niederlage erlebt.
Neben diesem »Sieg der Frauen« wurde ein weiteres bedeutendes Ergebnis am Jahrestag des Genozids an den Armeniern und Assyrern erzielt. So sind alle Parteien, wieder außer der MHP, vom HDP-Programm der »demokratischen Nation« beeinflusst worden. Diejenigen, die die PKK-Guerillas als »Nachkommen von Armeniern« beleidigt und das Wort »Armenier« wie ein Schimpfwort benutzt hatten, sogar die historische Verantwortung für diesen Genozid tragen, waren nun gezwungen, gemeinsam mit armenisch-stämmigen Kandidaten zur Wahl anzutreten. Dass die HDP statt von den »Nationen der Türken, Kurden, Lasen, Armeniern« usw. von einer »demokratischen Nation« für alle Ethnien, Konfessionen und Sprachen spricht und auf ihrer Wahlliste êzîdische, armenische, assyrische Kandidaten aufstellte, war ein Schlag gegen die von »Assimilation und Völkermord« gekennzeichnete Geschichte und Praxis des türkischen Staates. Daneben sind auch noch die alevitischen HDP-Kandidaten zu nennen, die ihren Glauben offengemacht hatten und gewählt wurden. Im Gegensatz zum CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu, der sich lange Zeit geweigert hatte, seine alevitische Identität überhaupt offen anzusprechen.
Alles eben Genannte sind Wahlergebnisse vom 7. Juni, die einen qualitativen Unterschied zu vorherigen Wahlen ausmachen.
Mit den Ergebnissen dieser Wahl wurden auch für die nahe Zukunft der Türkei gefährliche Entwicklungen verhindert. Hätte die HDP die Wahlhürde nicht überwunden, wäre die Türkei innerhalb einiger Monate unaufhaltbar in Richtung eines diktatorischen Regimes im Sinne Erdoğans gegangen. Die Verfassung wäre auf der Grundlage eines »Präsidialregimes im türkischen Stil« geändert worden. In diesem Regime mit Erdoğan als »einzigem Chef« wäre die seit zweieinhalb Jahren andauernde Waffenruhe mit den bisherigen Kriegsvorbereitungen beendet, der Krieg gegen die PKK als größtem Hindernis für die militaristische Politik im Mittleren Osten mit dem Ziel ihrer Vernichtung begonnen und der HDP wie anderen früher schon mit massenhaften Festnahmen begegnet worden. Unter dem Eindruck des Sieges der YPG/YPJ in Kobanê gegen den von der AKP-Regierung unterstützten und mit Waffen ausgestatten Islamischen Staat (IS) hätte Erdoğan in der Krise seiner Mittelost-Politik die Türkei zusammen mit Saudi-Arabien und Katar in einen Konfessionskrieg gegen den Iran gezogen. Weil eine solche Orientierung die schonungslose Ausbeutung der Werktätigen bedingt und die lahmende Wirtschaft herausfordert, wären alle Kriegsausgaben und die ökonomische Krise auf die Werktätigen abgewälzt und deren Kampfmöglichkeiten zerschlagen worden. Alle möglichen Aufstände wären mit blutigen Polizeiangriffen, die selbst die gegen den Gezi-Widerstand überstiegen hätten, niedergeschlagen worden.
Die Überwindung der Wahlhürde durch die HDP und die Verhinderung der Möglichkeiten für die AKP, allein die Verfassung zu ändern und die Regierung zu stellen, hat mit der Abwehr der oben genannten möglichen Gefahren eine große Chance geschaffen.
»Chancen« bringen nur etwas, wenn sie »genutzt« werden. In dieser Hinsicht können wir nicht behaupten, dass die gefährliche Entwicklung vollends gestoppt worden sei. Denn die AKP und insbesondere die Gruppe um Erdoğan sind weit davon entfernt, die Wahlniederlage zu akzeptieren. Die AKP spielt nach der Wahl ein gefährliches Spiel, um von neuem an die Macht zu kommen. Sie ist dazu gezwungen. Denn seit ihrer Gründung bis heute nährt sie sich von ihrer 13 Jahre währenden Macht. Als die AKP 2002 an die Macht kam, verfügte sie im Staatsapparat über kein Militär, keine Polizei, Richter oder zivile Bürokratie. Aus diesem Grund verbündete sie sich dort mit verschiedenen Kreisen. Insbesondere mit dem Fethullah-Gülen-Orden, dem nach dem faschistischen Putsch des 12. September 1980 als »Export der Khomeini-Revolution« der Raum gegeben wurde, sich innerhalb des türkischen Staatsapparats zu organisieren. Gleichzeitig arrangierte sich die AKP mit den »liberalisierenden Konservativen« aus der Zeit Özals und sogar den liberalen Bürokraten. Heute sind die geschlossenen Bündnisse aufgelöst. Und die AKP verfügt immer noch nicht über eine mit ihr vollständig verbündete Bürokratie. Eine AKP, die nicht an der Macht ist, kann diesen Staatsapparat nicht beherrschen. Diese Partei war nicht als »ideologische« Partei gegründet worden. Sie wuchs als eine Clique, in der jeder andere Interessen verfolgte. Die unterschiedlichen Kreise in dieser Partei, die auch von den USA unterstützt wurden, hatten sich mit dem Ziel zusammengeschlossen, sich auf den Staat gestützt zu bereichern. Diese Kreise bleiben bei keiner AKP, die nicht an der Macht ist.
In der Opposition könnte die AKP ihr Medienmonopol nicht aufrechterhalten. Die ganzen an Kapitalgruppen gebundenen Medienorgane können sich ohne staatliche Unterstützung nicht halten. Und nicht zuletzt hat die AKP im Zuge ihrer in den letzten Jahren verfolgten Linie sowohl innerhalb des Staatsapparats als auch in der Öffentlichkeit eine unglaubliche Polarisierung gegen sich geschaffen, eine Polarisierung mit einem solchen gegenseitigen Hass wie nie zuvor in der politischen Geschichte der Türkei. Die Kader der AKP und insbesondere Erdoğans wissen sehr gut, dass ein Regierungsverlust für sie Verurteilung und Haft bedeutet.
Kurz, eine AKP in der Opposition kann sich nicht verteidigen, nicht einmal ihre Existenz sichern. Das ist ein solch klares Bild, dass die Äußerung eines der AKP-Gründer und heutigen Vizeministerpräsidenten Bülent Arınc vom 10. Juni Eingang in die türkischen Medien fand: »Wir müssen die Macht sein, wir sind eine Partei, die der Macht bedarf.«
Ist es möglich, dass die AKP diese ganzen Ängste mit einer »Koalition« beseitigen kann? Nein. Denn keine Partei, die mit der AKP koalieren würde, könnte die bekannt gewordenen Korruptionsfälle vom vergangenen Dezember unberücksichtigt lassen. Sonst würde sie bei der nächsten Wahl abgestraft werden.
Wie kann die AKP zur Macht werden?
Sie hat ihre Absichten am 8. Juni mit den Titelzeilen in den ihr verbundenen Medien selbst enthüllt, mit der raschen Ausführung dieses ausgeheckten Plans drei Tage später in Amed (Diyarbakır) machte sie einen schweren Fehler. Die AKP-Medien verlautbarten einen Tag nach der Wahl das Ziel der AKP: »vorgezogene Neuwahlen« statt »Koalition«. Zwei Tage später führte sie mit einer blutigen Provokation in Amed vor, wie sie dieses Ziel mit der »Schaffung eines blutigen Chaos« erreichen wollte. Nachdem demokratische Medien wie Özgür Medya, Özgür Gündem, Yeni Özgür Politika, Med Nûçe TV, İMC TV, Hayat TV und TV 10 dieses gefährliche Spiel der AKP für »vorgezogene Neuwahlen« mit der Öffentlichkeit geteilt hatten, sind die AKP-Strategen zur »Verteidigung« übergangen. So äußerte auch Davutoğlu: »keine vorgezogene Neuwahl, sondern Koalition« und »wir werden ein Chaos nicht zulassen«.
Es ist eine Realität, dass der Plan der Regierung, mit Chaos zu vorgezogenen Neuwahlen zu kommen, genau im richtigen Moment aufgedeckt wurde und die kurdische Gesellschaft auf die Provokation der »tiefen AKP« in Amed nicht eingegangen ist und bewaffnete Auseinandersetzungen verhindert hat.
Nun liegt vor der Türkei eine kritische Phase der »Koalitionsbildung«. Die HDP und alle demokratischen Kreise haben die Initiative ergriffen. Die HDP ist ihrer Verantwortung in der Wahl gerecht worden, sie hat die Provokation von Auseinandersetzungen in Kurdistan verhindert, sie hat die demokratische nationale Einheit der Kurden gestärkt, die Wahlhürde überwunden und die AKP in die Minderheit gerungen. Nun haben die zwei »großen« Parteien der Wahl die Aufgabe und Verantwortung, die Türkei nicht ohne Regierung zu lassen. AKP und CHP sind gezwungen, auf der Grundlage der Regierungsbildung den Lösungsprozess und die Gespräche mit Öcalan weiterzuführen, die politische Vorherrschaft Erdoğans zu beenden und im Land und in der Region Frieden zu sichern. Ohne Zweifel tragen alle ins Parlament eingezogenen Parteien eine Verantwortung: als Ergebnis dieser historischen Wahl im türkischen Parlament als eine »konstituierende Versammlung« zu arbeiten. Eine solche »konstituierende Versammlung« muss sich unter Beteiligung aller Parteien und der Zivilgesellschaft dem Ziel der Demokratisierung der türkischen Republik und einer demokratischen Verfassung widmen.
Und zum Ende muss erklärt werden, dass alle Ergebnisse dieser Wahl vom 7. Juni hervorgegangen sind aus der Realisierung der vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vorbereiteten theoretischen und praktischen Linie, die von aufopferungsvollen Kadern verwirklicht wurde. Die Linie der Theorie der »demokratischen Nation, des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Republik und der demokratischen Autonomie« hat sich praktisch mit dem breiten Bündnis um die HDP, der HDP-Gründung selbst und der Entscheidung, als Partei anzutreten, vereint. Diese »Veränderung«, die nicht nur die Türkei, sondern den Mittleren Osten ändern wird, hat zudem die Menschen aus allen Teilen der Türkei erreicht.