Die Aleviten und ihre Entscheidung für die HDP

Aktiv für eine gemeinsame Zukunft

Mehmet Sürmeli

Am 7. Juni findet eine der kritischsten Parlamentswahlen statt. Deswegen kritisch und wichtig zugleich, da ihr Ausgang für die Zukunft der Türkei entscheidend ist. Entweder geht die Türkei in eine radikale Demokratie über oder es herrscht ein oligarchischer »grüner« Faschismus mit der Gefahr eines Bürgerkrieges. An diesem Punkt können wir von einem Scheideweg für die den Staat weitgehend determinierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) sprechen.

HDP-Kundgebung in Wan | Foto: DIHAWenn die HDP (Demokratische Partei der Völker) als Alternativkraft zur AKP hier die Wahlhürde von zehn Prozent überwindet, wird die Türkei, zurzeit eine Republik ohne Demokratie, erstmalig in ihrer Geschichte eine ernsthafte Chance auf Demokratisierung erhalten. Aus diesem Grund ist die häufig verwendete Formulierung »Schicksalswahl« zutreffend.

Die kurdische Freiheitsbewegung, die Widerstand gegen den Faschismus des 12. Septembers [Militärputsch 1980] und die nachfolgenden oligarchischen, faschistischen und kolonialen Regime geleistet hat und leistet, hat wie ein Eisbrecher Bereiche eröffnet, in denen sich alle gesellschaftlichen Kreise und Unterschiedlichkeiten, die ausgegrenzt und verleugnet wurden, artikulieren können. So ist das Projekt der Republik als »ein Staat, eine Nation, eine Religion«, ein Resultat der praktizierten Vereinheitlichungspolitik, ausgehebelt worden. In den geschaffenen Freiräumen fordern alle gesellschaftlichen Kreise und Verschiedenheiten ihre Existenz als sie selbst und eine verfassungsrechtliche Garantie ihres Status, um jedweder Vernichtung, Verleugnung und Assimilation zu entkommen. Aus diesem Grund steht die Türkei an einem Scheideweg und die Wahlergebnisse sind daher entscheidend für ihr Schicksal.

Wo sollten dabei die Aleviten stehen und welche Aufgabe haben sie?

Jede gesellschaftliche Gruppe bildet ein Ganzes mit ihren Rechten, sowohl den individuellen als auch denen als Gemeinschaft, und agiert im Sinne der gemeinsamen Interessen. Wir können drei grundlegende Faktoren benennen, die ihr gemeinsames Wirken erklären. Erstens der Gemeinschaftssinn, zweitens die Organisations- und Aktionskraft, drittens das korrekte Verständnis von einem Bündnis. Wenn wir in diesem Rahmen, ohne im Rückblick auf die lange Historie einzugehen, die junge alevitische Geschichte betrachten, kommen wir zu folgendem Ergebnis:

Bis zum Dêrsim-Massaker (1937/38) waren die Aleviten nicht in die Regierung bzw. den Staat involviert. Sie hatten nicht zugelassen, dass die Herrschenden, z. B. die Osmanen, in ihre gesellschaftsinternen Strukturen intervenieren, und ihre Beziehungen entsprechend begrenzt. Sie hatten mit einem stark ausgeprägten alevitischen Bewusstsein in einem großen Gebiet, als Dêrsim-Linie anerkannt, in Stämmen sowie Glaubensgemeinschaften um einen Pir [religiöse Persönlichkeit] herum gelebt. Stamm und Glaubensgemeinschaft bildeten zum Schutz vor Angriffen eine Einheit. Bis zur Gründung der türkischen Republik (1923) konnte die alevitische Gesellschaft sich auf diese Weise verteidigen. Nach der Republikgründung änderte sich die Situation. Das kemalistische Regime betrachtete Dêrsim im Hinblick auf die kurdische Identität als auch den Glauben von Beginn als Gefahr und versuchte es mit dem Massaker 1937/38 zu zerstören. Auch wenn es aus heutiger Sicht damit erfolgreich war, sehen wir, dass es die »Reste der Schwerter«, die Widerstand leistende, oppositionelle Haltung nicht gänzlich ausmerzen konnte. Dem physischen Genozid von 1938 folgte das kulturelle Massaker, das sich in der Vertreibung der Führungspersonen von Glaubensgemeinschaften und Stämmen äußerte und vor allem kurdische Aleviten betraf. Es war die Phase, in der Atatürk und seine Partei CHP (Republikanische Volkspartei) regierten. Auch in der folgenden Periode, in der Ismet Inönü und Fevzi Çakmak die CHP führten, wurde das kulturelle Massaker vorangetrieben. Kurdische Aleviten sollten türkisiert und islamisiert, alevitische Türken islamisiert werden.

Nach den aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Veränderungen erzwang das internationale kapitalistische System den Übergang von einem faschistischen Einparteien- zu einem Mehrparteiensystem. Eine CHP-Abspaltung gründete daraufhin die Demokratische Partei (DP), was den Beginn des Mehrparteiensystems markierte. Zu dieser Zeit versprach die DP allen unterdrückten Gruppen Rechte und Freiheiten. So erhielt sie die Unterstützung vieler Kreise und ging zweimal als Wahlsiegerin hervor. Die Aleviten unterstützen sie für ihre gesellschaftlichen Interessen und im Glauben an eine demokratisch-freiheitliche Türkei. Doch die DP vergaß all ihre Versprechen und führte die Einheitspolitik der CHP, aus der sie entstanden war, fort. So änderte sich nichts für die alevitische Gesellschaft und sämtliche ihrer Hoffnungen zerschlugen sich.

Nachdem die DP durch einen Militärputsch entmachtet und die Türkei entsprechend den Interessen des internationalen Systems und der türkischen Oberschichten, Gesetzesänderungen inklusive, neustrukturiert worden war, organisierten sich erneut oppositionelle Kreise und es folgte eine linksgeprägte Phase mit revolutionären Bestrebungen. Die CHP versuchte mit einer Neustrukturierung und einer »sozial-demokratischen« Note dagegenzuwirken. Die Aleviten unterstützten gemäß ihren oppositionellen Bestrebungen, sich von der Repression zu lösen, die CHP und revolutionäre Bewegungen und wurden zu potentiellen Anhängern beider Richtungen. Bis dato hatten sie die CHP gewählt und so deren Fortbestand garantiert. Auch wenn die Aleviten Ende der 1960er eine von ihrer Identität und ihren eigenen Forderungen geprägte Partei gründeten (Einheitspartei (der Türkei), (T)BP) und ins Parlament einzogen, waren sie nicht erfolgreich und blieben daher noch stärker der CHP verbunden.

Was hat es den Aleviten gebracht?

Welches Niveau hat das zu Beginn des Jahrhunderts von der kemalistisch-faschistischen CHP-Regierung begonnene und andauernde Massaker erreicht? Es ließen sich noch mehr solcher Fragen stellen. Doch es gibt eine erlebte Geschichte. Bei allen gegen Aleviten gerichteten Massakern in den 1970er, 1980er, 1990er und 2000er Jahren regierte die CHP oder bildete einen Teil der Regierung. Hinzu kommt, dass die CHP sowohl programmatisch als auch de facto keinerlei Anstrengungen zum Schutz der Aleviten vor Massakern und für ihre freie Religionsausübung unternommen hat. In Bezug auf Religion als Pflichtfach, die Anerkennung des Alevitentums als eigenständige Glaubensgemeinschaft und die Situation des Amtes für Religionsangelegenheiten besteht kein Unterschied zwischen AKP und CHP.

Was jedoch sind die Gründe für diese »einseitige Liebe«? Erstens, jede Gesellschaft, die einem Massaker ausgesetzt ist, erfährt einen Bruch ihres Willens und Bewusstseins. Eigendynamik wird zerstört und der Widerstand schwindet. Gleiches will man nicht wieder erleben. Da ihre Vorreiterrolle, ihre Einheit, ihr Organisierungsgrad und ihre Handlungsfähigkeit geschwächt sind, löst sie sich in der sie zerstörenden Kraft auf bzw. wird aufgelöst. Zweitens, trotz all ihrer Schwächen, ihres Potentials und Existenzwillens unterstützt sie Parteien oder Organisationen, von denen sie ihre gesellschaftlichen Interessen vertreten glaubt (Unterstützung der DP und CHP durch die Aleviten). Das birgt ein Risiko, welches jedoch in Kauf genommen wird. Drittens, wenn die ihr am nächsten stehenden Organisationen und Parteien mit ihrem Programm, ihren Äußerungen, ihrer Sprache, ihrem Auftreten und ihrer Haltung nicht umfassend und glaubwürdig sind, gibt es Schwierigkeiten in der Zusammenführung. Viertens, in den vom Kapitalismus geprägten zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich die schichtbezogenen Unterschiede vertieft, gar polarisiert und systematisiert. Sämtliche Schwächen haben dazu geführt, dass die alevitische Gesellschaft in einer unangemessenen Position verblieben und zur Beisitzerin einer Partei wie der CHP geworden ist, die ihre Vernichtung angeordnet hat.

Politik und Haltung der CHP, der AKP und der anderen Systemparteien sind erneut auf das Hinhalten der Aleviten ausgerichtet. Primäres Ziel ist es, die alevitische Gesellschaft, der eine revolutionäre Dynamik innewohnt, von einem Zusammenschluss mit anderen revolutionären, demokratischen Kräften, allen voran den Kurden, fernzuhalten. Erstmalig in der Geschichte der Republik stehen die Aleviten so offen und entschlossen mit ihrer Identität und ihren Forderungen in der Politik und zeigen sich gemeinsam mit der HDP, der Vertreterin dieser politischen Linie.

Die alevitische Gesellschaft stand bis heute den Linken und der scheinbar linksorientierten CHP nahe. Mit der Schwächung des für die Massaker verantwortlichen Systems durch die kurdische Freiheitsbewegung zeigte sich, dass ein anderes Leben möglich ist. Dies führte dazu, dass die Mauern zwischen ihr und der alevitischen Gesellschaft eingerissen wurden, und es gab einen Neuanfang.

Dieser längst fällige Zusammenschluss wurde mit der aktuellen Wahl vollzogen. Damit wurde ein ernsthafter Schritt zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft unternommen. Die Aleviten sind bei dieser Wahl mit ihren eigenen Kandidaten, ihrer eigenen Identität und ihren Forderungen in den Reihen der HDP angetreten. Sie sind keine Beisitzer mehr und legen ihre Zukunft nicht mehr in fremde Hände. Ihrer Geschichte würdig sind sie in die politische Arena zurückgekehrt. Diese Rückkehr wird zusammen mit einem erfolgreichen Wahlergebnis dazu beitragen, dass die alevitische Gemeinde ihre Wunden heilen kann. Gemeinsam mit den revolutionären Kräften und den Kurden wird so eine freiheitliche, gleichberechtigte, geschwisterliche und friedliche Gesellschaft ermöglicht. In diesem Sinne wird die Haltung der Aleviten bei der Wahl einen maßgeblichen Einfluss auf die Zukunft der Türkei haben.

Es ist an der Zeit zu fragen, warum die Aleviten nicht bei der HDP sein sollen und warum man es nicht gemeinsam schaffen sollte.