Interview mit dem Gesundheitsminister von Kobanê

Das zerstörte und entvölkerte Kobanê auf dem Weg zum Wiederaufbau

Sabri Ürün von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V.

Das folgende Interview mit Dr. Nassan Ahmet, dem Gesundheitsminister des Kantons Kobanê in Rojava (Nordsyrien), wurde im Rahmen seiner mehrtätigen Besuchsreise in der Bundesrepublik Deutschland am 8. Mai 2015 in Düsseldorf von Sabri Ürün von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V. geführt.

Der Bevölkerung in Kobanê/Rojava gelang es in einem unvergleichlichen Widerstand, die brutalen Angriffe der Terroristen vom Islamischen Staat (IS) abzuwehren und den Großteil Kobanês von ihnen zu befreien. Der Kampf der Volks- und der Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) verdient großen Respekt, gerade im Vergleich zur Ohnmacht sowie Passivität sämtlicher anderer Akteure der Region und angesichts der Brutalität der IS-Söldnertruppen. Selbst unter diesen schwierigen Umständen hat die Bevölkerung Rojavas auch in Kobanê ihre revolutionären Errungenschaften verteidigen und sogar ausbauen können. Beschreiben Sie uns doch bitte kurz einleitend die Ziele des aufgebauten Kantonsystems und die Wege der Umsetzung mittels basisdemokratischer Räte an einigen veranschaulichenden Beispielen.Dr. Nassan Ahmet, Gesundheitsminister des Kantons Kobanê, mit politischen Vertretern in Gelsenkirchen. | Foto: Kurd-Akad

Das Kantonsystem basiert auf fünf Fundamenten. Eines der wichtigsten ist die Geschwisterlichkeit der Völker. Das heißt, dass die Araber, Armenier, Kurden, Turkmenen Rojavas friedlich miteinander leben. Wir wollen, dass innerhalb der demokratischen Autonomie alle Ethnien eine Rolle spielen. Beispielsweise besteht in allen drei Kantonen die Vorgabe, dass die Ministerstellvertreter aus anderen ethnischen oder konfessionellen Gruppen als der seinen oder ihren gewählt werden. Ein anderes Fundament sind die Frauenrechte. Wir haben in allen Bereichen eine paritätische Doppelspitze, d. h. eine gemeinsame Besetzung der Posten. Wir haben darüber hinaus eine vierzigprozentige Geschlechterquote eingeführt. In manchen Gremien liegt der Frauenanteil bei bis zu sechzig Prozent.

Ein weiterer Aspekt ist die religiöse Gleichberechtigung aller. Für alle im Kanton Kobanê vertretenen Religionen sind Gebetshäuser vorgesehen. Alle Religionen sollen in der Verwaltung vertreten sein. Wir nehmen die Gesellschaft als Referenz. Das heißt, alle gesellschaftlichen Gruppen treffen ihre Entscheidungen selbst und tragen sie dann an die Verwaltung heran. Das wird durch ein Rätesystem verwirklicht mit dem Ziel einer Dezentralisierung der Entscheidungsgremien. Die Beschlüsse werden von der Basis gefasst und an die Regierung weitergeleitet und nicht umgekehrt.

Im Kanton Kobanê haben sich 800 Vertreter aller gesellschaftlichen Ebenen (Frauen, Jugend, verschiedene Berufs-, aber auch Religionsgruppen) in einem Kongress zusammengefunden und aus 61 Delegierten eine Übergangsregierung gewählt.

Erklären Sie uns bitte die derzeitige militärische Lage in Kobanê. Inwiefern gibt es noch Kämpfe mit den IS-Einheiten?

Die Verteidigungseinheiten der YPG/YPJ bestehen aus Angehörigen der in Kobanê lebenden ethnischen Gruppen. In den YPG/YPJ gibt es Menschen arabischer, kurdischer, armenischer Herkunft sowie aus anderen Ländern. Die Verteidigungseinheiten beziehen ihre Stärke aus der Bevölkerung. Der Krieg dauert noch immer an. Im Süden und Osten gibt es ständig Gefechte und im Westen hin und wieder. Im Westen liegt der Fluss Firat (Euphrat) zwischen uns und dem IS.

In Kobanê haben wir den Großteil der 451 Dörfer von den IS-Besatzern befreien können. Die haben leider noch 45–50 Dörfer unter ihrer Kontrolle.
Die Angriffe auf Kobanê sind nicht nur gegen Kobanê selbst, sondern gegen die universellen Werte der Menschlichkeit und Demokratie gerichtet. Die Bevölkerung in Kobanê betrachtet es daher als ihre Aufgabe, diese grundlegenden Werte zu verteidigen. Diese Pflicht hat sie mit ihrem Widerstandswillen und -kampf erfüllt. Dabei wurde die Infrastruktur des Kantons größtenteils zerstört und das alltägliche Leben ist fast zum Erliegen gekommen. Nun liegt es an der internationalen Gemeinschaft, ihrer Verpflichtung zum Wiederaufbau und zum Schutz des Kantons Kobanê nachzukommen und damit ein Zeichen für die Zukunft der Region zu setzen.

Beschreiben Sie uns bitte die Situation der Flüchtlinge, wie sie Ihnen in und um Kobanê herum bekannt ist.

Die Flüchtlinge sind überall verteilt. Einige sind nach Nordkurdistan (Südosttürkei), ein kleiner Teil ist nach Südkurdistan (kurdische Autonomieregion im Nordirak), einige sind in die Kantone Afrîn und Cizîrê geflohen. Aber die meisten harren in Nordkurdistan aus. Dort kümmern sich die Städte, in denen die HDP (Demokratische Partei der Völker) die kommunale Verwaltung stellt, um die Flüchtlinge. Sie sichern deren Unterbringung, Gesundheits- und Lebensmittelversorgung und weitere Dinge. Zurzeit sind etwa 70 000 bis 80 000 Menschen nach Kobanê zurückgekehrt. Dessen Verwaltung versucht, ihren Alltagsbedürfnissen nachzukommen. Es muss für die Versorgung dieser Menschen dringend ein humanitärer Korridor zwischen uns und der Türkei geöffnet werden, da der Kanton Kobanê an den anderen drei Seiten vom IS umzingelt ist.

Leider war der Kanton, in dem Sie das Ministeramt innehaben, massiven Angriffen ausgesetzt. Wie weit geht die Zerstörung und wo liegt der dringliche Bedarf für den akuten, aber auch langfristigen Wiederaufbau?

Etwa achtzig Prozent der Infrastruktur, der Verwaltungsgebäude sowie der zivilen Häuser in der Stadt Kobanê (Ain al-Arab) sind komplett zerstört, ebenso Wasser- und Stromversorgung. Als der IS zurückgedrängt wurde, haben sie sehr viele Minen gelegt. Es gibt hunderte scharfe Minen und Bomben sowohl in Kobanê als auch in den umliegenden Dörfern. Dadurch kommt es oft zu Explosionen, häufig mit Toten oder Verletzten. Es liegen auch zahlreiche IS-Leichname unter den Trümmern. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich Krankheiten ausbreiten, da die Menschen gezwungen sind, ihr Trinkwasser aus den Brunnen zu schöpfen. Um diese Leichname aus den Trümmern zu bergen, benötigen wir Bergungsgeräte und -maschinen.

Erhalten Sie vor Ort internationale Unterstützung bzw. wie ist das Verhältnis zu den angrenzenden Nachbargebieten/-ländern?

Auf der einen Seite werden wir vom Islamischen Staat bedroht. Auf der anderen Seite haben wir beispielsweise vom Nachbarstaat Türkei bis jetzt keinerlei Unterstützung bekommen. Die Hilfen, die wir bisher erhalten haben, kamen von zivilen Organisationen aus Nordkurdistan. Der Zugang gespendeter Hilfsgüter aus Europa zu unseren Kantonen wird meist sogar von der türkischen Regierung verwehrt, d. h. Hilfskonvois werden nicht über die Grenze gelassen.

Zurzeit sind die »Ärzte ohne Grenzen« in Kobanê tätig. Sie untersuchen die Menschen und unterstützen uns. »Medico international« hat uns auch während des Widerstands geholfen; eine Blutbank eingerichtet, Medikamente bereitgestellt und auch einen Krankenwagen gespendet. »Heyva Sor a Kurdistanê« (Roter Halbmond Kurdistan) war auch während der Gefechte vertreten und ist bis jetzt unterstützend aktiv.

Wenn Sie die Situation in Kobanê mit der in den anderen beiden Kantonen, also Afrîn und Cizîrê, beschreibend vergleichen ...

Um den Kanton Cizîrê gibt es täglich Gefechte mit dem Islamischen Staat, in Heseke (Al-Hasaka) sowie an der Grenze zum Irak ständig Angriffe des IS. Aber im Kanton selbst sind keine Gefechte zu verzeichnen, d. h. im Vergleich zu Kobanê ist es dort ruhiger. Afrîn ist umzingelt, an zwei Seiten von Al-Nusra-Islamisten und an zwei Seiten von der Freien Syrischen Armee (FSA). Der Zugang nach Heleb (Aleppo) von Afrîn aus ist erschwert. Früher brauchte man eine Stunde dorthin, momentan muss man Umwege fahren, so dass es bis zu zehn Stunden bis Heleb dauern kann. Die Lage in Afrîn ist auch etwas besser als in Kobanê, denn sie können sich über ihre Landwirtschaft selbst versorgen, haben außerdem Olivenfelder und können weiter ihrer Arbeit nachgehen.

Vor Kurzem gab es eine Solidaritätskonferenz in Nordkurdistan, in der Stadt Amed (Diyarbakır). Zu welchen Analysen und Ergebnissen hat sie geführt?

An der Konferenz beteiligten sich Menschen aus allen vier Teilen Kurdistans. Ihr Ziel war es, den Wiederaufbau von Kobanê zu unterstützen. Menschen aus verschiedenen Ethnien, Berufsgruppen, zivilen Institutionen, aber auch Journalisten und andere Persönlichkeiten waren vertreten. Die Konferenz ging über zwei Tage und nach ausführlichen Bewertungen und Diskussionen wurde ein Komitee mit Gewählten aus Kurdistan wie auch Europa gegründet. Es wurde beschlossen, in Europa eine internationale Konferenz für den Wiederaufbau Kobanês zu veranstalten. Dementsprechend wird es eine solche demnächst geben.

Frauen sind in der ganzen Region im besonderen Maße von Gewalt und Repression betroffen, wie in diesen Tagen in Mahabad in Ostkurdistan wieder deutlich wurde. Dort kam es nach dem Tod einer jungen kurdischen Frau, die sich durch ihre Selbsttötung vor einer Vergewaltigung gerettet hatte, zu Protesten. Schildern Sie uns bitte die Lage der Frauen in Kobanê während des Krieges.

Die Frauen in Kobanê sind zum Symbol des Widerstands geworden. Wir bezeichnen den Widerstand von Kobanê als Widerstand der Frauen. Sie haben mehrmals bewiesen, dass sie ohne zu zögern bereit sind, für ihre Werte und ihre Heimat zu kämpfen. Als der Kampf beispielsweise noch außerhalb der Stadt in den umliegenden Dörfern geführt wurde, kam es zur Umzingelung von sieben Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten durch die IS-Schergen. Diese Frauen haben ihren Stützpunkt bis zur letzten Munition verteidigt. Als sie keine Munition mehr hatten und die Angreifer sie gefangen nehmen wollten, haben sie sich mit ihren letzten Handgranaten selbst getötet. Ein anderes Beispiel ist Arîn Mîrkan. Sie sprengte sich selbst in die Luft, um den IS beim Versuch, Kobanê einzunehmen, aufzuhalten. Die Ereignisse in Mahabad sind ein weiteres Beispiel. Die junge Frau fiel aus dem vierten Stock, um sich der Vergewaltigung durch einen Geheimdienstoffizier zu entziehen. An dieser Stelle will ich sämtliche gewalttätigen Übergriffe auf Frauen, so wie beispielsweise diesen Vergewaltigungsversuch, auf das Schärfste verurteilen.

Die Frauen sind der Wegweiser für die Zukunft von Rojava und Kurdistan.

Sie führen in diesen Tagen [Mai 2015] Gespräche mit unterschiedlichen politischen Akteuren in Europa. In welchem Rahmen finden Ihre Besuche statt, welches Anliegen haben Sie und wie beurteilen Sie die Resonanz?

Wir haben viele Gespräche mit Parteien, Politikern, zivilen Institutionen, NGOs und Journalisten geführt. Sie waren positiv, denn momentan wird den Entwicklungen in Kobanê große Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wollten persönlich über die Situation in Kobanê berichten und uns auch persönlich nochmals bei allen bedanken, die uns während des Widerstands unterstützt und ihre Solidarität gezeigt haben. Es besteht auch ein großes Interesse, am Wiederaufbau von Kobanê mitzuwirken. Ich denke, dass wir demnächst die ersten positiven Ergebnisse erzielen werden.

Schließlich stellt sich uns in Europa Lebenden immer wieder die Frage, wie wir Sie konkret bei der Bewältigung der Nachkriegssituation und beim Wiederaufbau unterstützen können.

Die demokratischen zivilgesellschaftlichen Kräfte in Europa haben große Solidarität mit dem Widerstand von Kobanê gezeigt. Es gab entsprechend unzählige Demonstrationen, Veranstaltungen und Erklärungen. Menschen aus aller Welt beteiligten sich am Widerstand von Kobanê, damit ist er zu einem internationalen Widerstand geworden. Der Islamische Staat und andere islamistische Gruppen sind noch immer eine Bedrohung, nicht nur für Kobanê, sondern für die gesamte Menschheit.

Natürlich hoffen wir, dass diese Solidarität mit Kobanê nach der Befreiung weiter anhält. Durch aktive Solidarität und weitere Maßnahmen sollte vor allem auch Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden, um einen humanitären Korridor zu schaffen. Die größte Unterstützung für uns wäre daher das Ermöglichen eines solchen Korridors.

In Kobanê brauchen wir dringend Unterstützung in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die Kinder werden zurzeit in Zelten und Containern unterrichtet. Es gibt momentan kein Krankenhaus in Kobanê. Zwei von den ehemals vier Krankenhäusern wurden vom IS durch Selbstmordattentate vollkommen zerstört. Die anderen beiden sind etwa zur Hälfte zerstört. Die medizinischen Geräte sind entweder beschädigt oder vom IS gestohlen worden. Die Menschen in Kobanê leben ohne sauberes Wasser. Sie müssen ihr Trinkwasser Brunnen entnehmen, die wiederum verunreinigt sind. Es bedarf hier Wasserreinigungsanlagen.

Über die Internetseite www.helpkobane.com können sich alle solidarischen Menschen und Aktivisten über die Situation und den Bedarf in Kobanê informieren. Dort werden auch Projekte zum Wiederaufbau vorgestellt; außerdem sind Hinweise zu finden, wie man sich mit uns in Verbindung setzen und durch konkrete Unterstützung etwas zum Wiederaufbau beitragen kann.

Zum Schluss: Wir begrüßen ausdrücklich den geleisteten Widerstand und die revolutionären Errungenschaften in Rojava, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahren mühevoll erkämpft und geschaffen hat, und solidarisieren uns. Damit ist insbesondere Kobanê, aber auch ganz Rojava zu einem leuchtenden Beispiel für gelebten Widerstand und einen unaufhaltsamen Selbstbestimmungswillen geworden. Wir hoffen, dass Sie nun endlich nur noch friedliche Zeiten erleben und Ihre Revolution zum Vorbild für die gesamte Region wird.
Wir bedanken uns für das Gespräch.