Über die Ränkespiele der stellvertretenden Kriegsparteien in Nordwestsyrien

Das Spiel der Al-Nusra-Front mit der FSA

Azîz Koyluglu

Nach der Besetzung der im Nordwesten Syriens liegenden Stadt Idlib durch die Al-Nusra-Front hat sich das Kräftegleichgewicht im BürgerInnenkrieg verschoben, was vor allem der Politik Saudi-Arabiens und der Türkei geschuldet ist. Seit geraumer Zeit fördern diese Staaten Gruppierungen wie Al-Nusra oder Ahrar al-Sham. Allerdings hatte die Unterstützung Saudi-Arabiens vor allem der Islamischen Front (Al-Dschabha al-Islamiya) und ihr nahestehenden Organisationen gegolten. Riad betrachtete die Al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham vielmehr als Gefahr für die saudischen Interessen. Doch war nach einer Zusammenkunft des saudischen Königs Salman mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan ein verändertes Agieren Saudi-Arabiens zu beobachten, das seine praktische Konkretisierung in der Gründung der Militärallianz »Eroberungsarmee« (Dschaisch al-Fatah) fand. Infolge dieses Militärbündnisses, mit Al-Nusra im Zentrum, wurden wichtige Gebiete im Nordwesten Syriens eingenommen, darunter große Teile der Stadt Idlib. Auch der überwiegend von KurdInnen bewohnte Norden Aleppos wurde zum Angriffsziel. Zeitgleich mit dieser Kräfteverschiebung ändert sich auch die Gesamtsituation in der Region.

Entgegen mancher Meinung zu Beginn des syrischen BürgerInnenkrieges sind sich mittlerweile sämtliche ExpertInnen, die das Geschehen in Syrien aus der Nähe betrachten, darüber einig, dass ein StellvertreterInnenkrieg geführt wird. Sowohl hinter dem syrischen Regime und sich zur Freien Syrischen Armee (FSA) gehörig fühlenden Gruppierungen wie auch hinter dem sogenannten Islamischen Staat (IS) und der Al-Nusra-Front stehen internationale Kräfte. Dieser Fakt wird von keiner Seite mehr bestritten.

Nachdem das neue Bündnis Dschaisch al-Fatah Idlib unter seine Kontrolle gebracht hatte, übernahm die islamistische Allianz auch das Dreieck Hama/Aleppo/Latakia. Etlichen BeobachterInnen zufolge soll dieses Vorgehen Aleppo anvisieren. Zwar war Dschaisch al-Fatah bestrebt, strategisch wichtige, für die Einnahme Aleppos notwendige Punkte um die Stadt herum zu besetzen, hat dieses taktische Ziel jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil kann von einer militärischen Stagnation in dieser Region gesprochen werden.

Zuordnung der Al-Nusra-Front im syrischen BürgerInnenkrieg

Inmitten des syrischen Aufstands galt Ar-Raqqah einst als Hochburg der Al-Nusra-Front. Dabei handelt es sich um die erste Stadt Syriens, aus der das Assad-Regime hatte vertrieben werden können. Ebenso stand Dair az-Zaur, zumindest teilweise, unter der Kontrolle von Al-Nusra, wie auch eine Reihe von Kleinstädten und Distrikten. Da es sich bei Al-Nusra um den syrischen Ableger von Al-Qaida handelt, haben Kräfte wie die EU und die USA sie nicht akzeptiert, in gewisser Weise jedoch geduldet. Die Al-Nusra-Front wurde als Unterstützerin im Kampf gegen das Assad-Regime gewertet. Allerdings wurden die Gebiete unter ihrer Kontrolle dem sogenannten Islamischen Staat übergeben.

Die Al-Nusra-Front ebnete dem Islamischen Staat den Weg

Wie sehr die Al-Nusra-Front sich auch dem Islamischen Staat gegenüber als feindlich darstellte, können wir in der Praxis doch sehen, dass sie ihm den Weg geebnet hat. Sie überließ ihm die Kontrolle über den Süden von Hesekê (Al-Hasaka) sowie die Provinzen Dair az-Zaur und Ar-Raqqah. Ebenso wurden ihm Distrikte wie Girê Spî (Tal Abyad), Cerablus (Dscharabulus), Al-Bab und Minbuc (Manbidsch) sowie strategisch bedeutende Grenzgebiete übergeben. Paradoxerweise hatte Al-Nusra die meisten dieser Gebiete nach langen und schweren Gefechten mit der FSA erobert. Daher stellt sich vielen BeobachterInnen die Frage, wann Dschaisch al-Fatah unter Führung von Al-Nusra Idlib und die anderen eroberten Gebiete wohl dem IS überlassen wird.

Das Spiel zwischen Al-Nusra und FSA

Das Gebiet um Aleppo wird von verschiedenen Gruppierungen kontrolliert. Nach der Übergabe der Kontrollgebiete um Dair az-Zaur und Ar-Raqqah an den Islamischen Staat war es lange Zeit still um die Al-Nusra-Front. In letzter Zeit steigerte die Al-Nusra-Front sowohl in Aleppo als auch im Gebiet um Azaz ihre Aktivität. Durch die aktive Unterstützung durch den türkischen Staat konnte die Al-Nusra-Front ihren Einfluss erneut stärken. Auch Gruppierungen wie Sultan Murat oder Sultan Muzafer, denen eine Nähe zur Türkei nachgesagt wird, erklärten der Al-Nusra-Front ihre Treue. Nach dem Angriff des IS auf Azaz konnten die örtlichen Gruppierungen, die zur FSA gehören nicht länger Widerstand leisten. Daher baten sie die Al-Nusra-Front um Unterstützung. Tatsächlich kämpfen gerade in der Region Einheiten des IS gegen Einheiten der Al-Nusra-Front. Da es bereits im Vorfeld zu ähnlichen kurzzeitigen Allianzen zwischen der Al-Nusra-Front und FSA-Gruppen gekommen war, in deren Folge die Al-Nusra-Front diese Gruppen liquidiert hat, stellt sich in Azaz die Frage nach der Entwicklung in dieser Region. Jedoch gilt an dieser Stelle hinzuzufügen, dass inzwischen kaum mehr charakterliche und ideologische Unterschiede zwischen den meisten FSA-Gruppen und islamistischen Gruppierungen wie der Al-Nusra-Front bestehen.

Der Krieg zwischen IS und Al-Nusra-Front

Haji Ahmed Kurdi, Generalkommandant der KurdInnen-Front (Enîya Kurdan, Dschabhat al-Akrad), bewertet IS und Al-Nusra wie einen »zweigeteilten Apfel«. Diese Äußerung verdeutlicht eher die Realität dieser beiden Kräfte. In der Region kommt es teilweise zu Gefechten zwischen der Al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat, dabei hat Erstere bisher nur militärische Niederlagen hinnehmen und sich aus den Kampfgebieten zurückziehen müssen. Es handelt sich bei den Differenzen der beiden Gruppen jedoch vielmehr um einen Kampf zwischen ihren Anführern Al-Baghdadi und Al-Jawlani um die Position des Kalifen. Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass sich der IS zunächst als zu Al-Qaida gehörig definiert hatte und erst infolge interner Diskrepanzen zur unabhängigen Organisation. Anschließend war es auch zu Streitigkeiten mit dem syrischen Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front gekommen, die in militärische Auseinandersetzungen mündeten.

Der Nimbus der Al-Nusra-Front: Dschaisch al-Fatah

Nach der Übereinkunft des türkischen Staates, Saudi-Arabiens und der islamistischen Gruppierung Ahrar al-Sham wurde eine Operation gestartet, deren Ziel ein Legitimationsgewinn für die Al-Nusra-Front ist. Das Fundament für dieses Vorhaben legte die Berichterstattung bestimmter türkischer Medien und des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera über Al-Nusra, und um deren Nähe zu Al-Qaida zu verdecken, wurde Dschaisch al-Fatah gegründet. Die soll als Teil der für ihre heterogene Struktur bekannten FSA präsentiert werden. Doch lässt sich durchaus prognostizieren, dass sich die Al-Nusra-Front nicht zu einem Teil von Dschaisch al-Fatah entwickeln, sondern umgekehrt Dschaisch al-Fatah vollständig in Al-Nusra aufgehen wird.

Keine moderaten Kräfte mehr in Syrien

Über ihre Beziehungen innerhalb der FSA forderte Dschaisch al-Fatah von der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition Luftangriffe auf IS-Stellungen in der Region Azaz. Örtlichen Angaben zufolge sollen derartige Angriffe im Osten von Azaz Anfang Juni erfolgt sein. Allerdings kommt dies einer Unterstützung von Al-Qaida gleich. Etliche BeobachterInnen halten die Vorgänge in Azaz für ein Schauspiel, in das auch die Anti-IS-Koalition mit einbezogen werden soll. Zwar gibt es in der Region noch Gruppen, die zur FSA gehören, faktisch jedoch mit keinerlei Einfluss. Einzig Ahrar al-Sham und Al-Nusra, die auch als Zwillingsorganisationen gewertet werden können, verfügen hier über Einfluss.

Die Al-Nusra-Front hat sich mit den Angriffen auf den IS in der Region Azaz gefestigt. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine Art Theater handelt. Nach der Liquidierung der anderen Gruppen lässt sich absehen, dass diese Region, wie zuvor schon mehrmals gesehen, dem IS übergeben wird. Das Spiel mit dem IS wird fortgesetzt werden.

Das syrische Regime

Seit geraumer Zeit verfolgt das syrische Regime in der Region eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite wird der IS in Ruhe gelassen. Es lässt sich sogar fast schon als Unterstützung des IS bezeichnen. Wie jüngst, als parallel zu den schweren IS-Angriffen auf Azaz das syrische Regime Luftangriffe auf die allesamt von Kurdinnen und Kurden bevölkerten Dörfer Hewş, Ehrez und Dir Cimêl flog. Es gewährt dem IS die Kontrolle über zahlreiche Gebiete. So sieht das Assad-Regime eine Kontrolle der Region Azaz durch den IS lieber denn durch die FSA. Weil der IS keine internationale Anerkennung bzw. Legitimation aufweisen kann.