Interview mit Dr. Radha D‘Souza über die Hamburger Konferenz

Der »kleine« Aufbau eines »großen« Lebens

Elif Sonzamancı, Yeni Özgür Politika, 12.06.2015

Dr. Radha D‘Souza ist eine indische Schriftstellerin und nahm als Referentin an der zweiten Hamburger Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern«, 3.–5. April 2015, an der Universität in Hamburg teil. Sie arbeitet zur Politik in Ostasien und antikapitalistischem Widerstand. Wir sprachen mit ihr über ihre Eindrücke auf der Konferenz, die Politik in Ostasien, die kurdische Freiheitsbewegung, Rojava und über ihre Gedanken zum antikapitalistischen Widerstand im Allgemeinen.

Auf der Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern II« wurde Kritik geübt am gegenwärtigen System und es wurde breit über Alternativen zur Neuen Weltordnung, über Ökologie, Demokratie und Frauenrechte diskutiert. Was für ein Gefühl war es, Teilnehmerin einer solchen Konferenz zu sein? Über welche Themen teilten Sie Ihre Erfahrungen mit den Konferenzteilnehmern?Auf der zweiten Hamburger Konferenz: Die Kapitalistische Moderne herausfordern II

Eigentlich ist das Ziel der Konferenz das, was wir alle brauchen. Alle dort besprochenen Themen waren wichtig. Diese Diskussionen müssen fortgesetzt werden. Zu dem, was ich auf der Konferenz gesprochen habe ... Ich wollte kurz erläutern, dass der sich mit der kapitalistischen Moderne entwickelnde Industrialismus unvereinbar ist mit der Demokratie. Ich sage das, weil der Entwicklungsverlauf des modernen Industrialismus über eine Expansion der Maßstäbe fortschreitet. Wenn wir beispielsweise moderne Staudämme betrachten – wie der Ilısu einer ist –, dann erklärt die Wissenschaft, dass mit Staudämmen in solch großem Maßstab mehr Energie gewonnen werden kann. Das wird dann als moderne Industrialisierung dargestellt. Doch im Rahmen eines solch großen Projekts wird auch eine Vielzahl von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Gleichzeitig schaden diese Projekte der Natur in großem Maßstab. Nun setzt so ein Projekt große Investitionen voraus. Wenn in diesem Zusammenhang viel Geld benötigt wird, kommen die Weltbank, die Kapitaleigner und Unternehmen ins Spiel. Mit einem großen Projekt wird auch eine große Bürokratie zur Notwendigkeit. Umso größer das Projekt wird, umso mehr verlieren die Menschen vor Ort die Kontrolle darüber. Demokratie an einem Ort bedarf dessen, dass die Menschen über die Kontrolle über ihr eigenes Leben verfügen. Projekte im kleinen Maßstab vereinfachen wiederum die Kontrolle.

Aus diesem Grund gab ich auf der Konferenz das Beispiel einer tamilischen Philosophin, die zur Zeit der Antike gelebt hatte. Die Frauenphilosophin namens Auvaiyyar sagte »baue klein und lebe groß«. Für ein großes Leben braucht es eigentlich mehr gemeinschaftliches Leben als Geld. Sie betonte, dass ein ästhetisches, ökologisches, natürliches und künstlerisches Leben nötig sei. Wenn das alles im Leben eines Menschen enthalten ist, wird dieser sich zufrieden fühlen. Denn wenn das der Fall ist, findet die ganze Welt Leben in dir. Die großen Bürokratien im gegenwärtigen industriellen System führen dazu, dass wir uns selbst klein fühlen. Das einzelne Individuum hat heute keine Bedeutung mehr. Angesichts der ganzen großen Organisationen kann dem einzelnen Individuum keine Bedeutung mehr zugesprochen werden. Aus diesem Grund können viele von uns dem Leben keinen Sinn mehr abringen.

Denken Sie, es ist möglich, gegen dieses System, das das Kapital heiligt, den Menschen bis auf die Basis entwertet und das Kapital an die Spitze der Ordnung setzt, eine Systemalternative aufzubauen, die den Menschen zur Grundlage nimmt und sich auf eine demokratische Gestaltung stützt? Wo sind in diesen Diskussionen die Begriffe Wissenschaft und Recht einzuordnen?

Die Konferenz brachte zuletzt Kritik aus sehr verschiedenen Perspektiven zusammen. Für die Entwicklung einer Alternative muss das alles diskutiert werden.

Ich habe in einem Aspekt auf einige Dinge hingewiesen und mein Thema mit dem Punkt des Maßstabs eingeleitet. Das hängt zusammen mit der Frau, der Natur und der Kultur. Wir wissen ein wenig, was am gegenwärtigen System nicht gut läuft, und können eine Kritik formulieren. So wissen wir im Allgemeinen auch, was wir ablehnen. Doch dabei ist wichtig: Wir können noch viel besser darlegen, was wir wollen. Denn die Menschen sind nicht nur gegen eine Sache, sondern kämpfen auch für eine Sache. Meiner Meinung nach müssen wir zwei grundlegende Dinge beachten, wenn wir etwas auf die Agenda setzen: die moderne Wissenschaft und das moderne Recht. Bei der Betrachtung der Geschichte wirft beispielsweise jede Revolution eine Frage auf. Der Kapitalismus ging als Ergebnis der Revolution, die sich gegen den Feudalismus in Europa entwickelt hatte, hervor. Der europäische Feudalismus leistete Widerstand sowohl gegen die Theokratie als auch gegen die Religion. Wissenschaft und Recht entstanden gegen die Kirche und Theokratie. Die Bauern hatten hier eine wichtige Funktion und die Revolution wurde eine sozialistische. In sozialistischen Revolutionen in Russland und einigen Orten Europas wurde daran geglaubt, die Welt zu verändern, indem die Mittel des Kapitalismus, Wissenschaft und Recht, genutzt und die Macht von den Kapitalisten auf die Arbeiter übertragen werden. Man glaubte, die Welt zu verändern, wenn statt der Kapitalisten die Arbeiter über all diese Werkzeuge verfügen würden. Ohne Zweifel hat das einen Beitrag dazu geleistet. An manchen Orten kehrte Frieden ein, es wurden Schritte gemacht beim Thema Gerechtigkeit, doch diese sozialistischen Revolutionen sind nach einer gewissen Zeit gescheitert. Denn eigentlich haben sie auch nicht die Ausbeutung hinterfragt. Die Moderne entwickelte sich selbst über die Ausbeutung. Beispielsweise wollte die chinesische Revolution – die auch unter der Avantgarde der Bauern entstand – eine demokratische Revolution gestützt auf das Volk entwickeln. Zum ersten Mal auf der Welt hatten Bauern vom Land eine solche Sache hervorgebracht. Auch sie erlebten Probleme bei der Zielsetzung von groß angelegten Projekten.

Bei Projekten in großem Maßstab erlebten sie den Widerspruch, ihre eigenen Kommunen fortzuführen. Weil der dabei aufgetretene Widerspruch nicht adäquat analysiert wurde, ist China an die Moderne herangerückt.

Aus diesem Grund müssen wir, wenn die kapitalistische Moderne über diese zwei Standbeine aufgestiegen ist, über eine neue Wissenschaft, ein neues Recht sprechen. Das sind die zwei Fragen, die uns die Geschichte stellt. Wenn wir diese beiden Fragen beantworten können, werden wir vieles überwinden.

Die chinesische Ökonomie erstarkt heute gegenüber dem amerikanischen Imperialismus immer mehr und China ist zu einer modernen ökonomischen Kraft geworden. Doch diese Ordnung wurde auf Ausbeutung gegründet. Die großen Kapitalisten haben durch die Arbeit der Menschen viel Gewinn gemacht. Wie bewerten Sie in diesem Rahmen die Situation Chinas?

Alles verfügt im Hinblick auf Zeit und Ort über eine Geschichte. Aus diesem Grund argumentiert die Mehrheit beim Thema China nicht im Sinne dieses historischen Zusammenhangs. Sie gehen es nur über das Bruttoinlandsprodukt an. Doch die chinesische Modernisierung hatte sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begonnen. Es war eine Strömung, die von Vertretern der antifeudalen Modernisierung begonnen wurde, sich später in Form des Widerstandes gegen die japanische Besatzung artikulierte, dann als Bauernrevolution. Viel später kam es zu einer kulturellen Revolution. Heute hat China die Position einer modernen ökonomischen Macht erreicht. Wie wurde das ehemalige arme China zu einem starken Land?

Wenn es diesen Zustand erreicht hat, dann wird es wohl etwas geben, was es woanders ausbeutet. Warum hat sich zudem nur China so entwickelt und nicht auch die anderen Dritte-Welt-Länder wie Indien, manche Länder in Afrika oder Argentinien? Wofür hat die Gesellschaft gearbeitet, was kam dabei heraus und welche Fehler wurden gemacht?

Wenn wir uns die Erfahrungen in China anschauen, sehen wir, dass auch sie einen Nationalstaat geschaffen haben. Mao analysierte, dass sich die Revolution über die Zusammenarbeit von vier Klassen entwickeln werde: die armen Bauern, die mittelständischen Bauern, die Arbeiterklasse und die Mittelklasse. Die Klassen außerhalb dessen kannte er nicht. In anderen Revolutionen und anderen Nationalstaatsbildungen war dies beispielsweise nicht so. Die Kultur hat sich über die Sprache oder im noch engeren Sinne verwirklicht. Es ist auch wichtig, dass es sich um eine antifeudale Revolution handelte. Diese Revolution war völlig auf die Bauern ausgerichtet. Es war in der Menschheitsgeschichte die größte Bewegung zur Regulierung des Bodens.

Doch warum hat dieses Projekt nun in den 1970ern einen anderen Weg eingeschlagen? Wenn wir uns die Diskussionen in China zwischen 1960 und 1970 ansehen, dann erkennen wir folgende Widersprüche: Um ein moderner Staat zu werden, waren Technologie und eine moderne Armee nötig. Das Geld aus den Kommunen wurde von solchen Projekten geschluckt. Auf dem Land wurde versucht, das alte kommunale System zu erhalten. Dieses kommunale System gab den Menschen Gesundheit, Nahrung und ein Obdach. Bei alldem wurde auch eine gewisse Gleichheit im Sinne des jeweiligen Geschlechts und der Klasse erreicht. Weil jedoch nicht genug Ertrag wie benötigt produziert werden konnte, konnte der Staatsapparat nicht aufrechterhalten werden. Es entwickelte sich intern Widerstand. Mit der Annäherung Chinas an den Rahmen eines modernen Staates musste sich auch der Ausbeutungscharakter verschärfen und die Spannungen verstärkten sich. In den 1980ern stiegen diese Spannungen noch mehr an.

In Rojava wurde ein System aufgebaut, das statt einer militärisch-religiösen Herrschaft die Volkssouveränität zur Grundlage nimmt, allen Kulturen den Raum zur Artikulation gibt und sich auf ein ökologisches und gerechtes Gesellschaftsverständnis stützt. In diesem Sinne ist es ein lebendiges Beispiel für die diskutierten Alternativen. Was denken Sie über die Revolution in Rojava?

Ich habe über das System in Rojava keine genaueren Informationen, versuche aber, es zu verstehen. Doch zwischen den diskutierten Themen hat mich insbesondere der Wiederaufbau von Kobanê aufmerksam gemacht.

Es muss nachgedacht werden über diesen Wiederaufbau: Woher werden die Materialien zum Wiederaufbau stammen? Die alten sozialistischen Bewegungen hatten das Verständnis, Zement zu bringen und Gebäude zu errichten. Aus diesem Grund bauten sie große Fabriken.

Wenn wir es mit der Ökologie ernst meinen, dann müssen wir Folgendes beachten: Werden wir schnell alles aus Beton bauen oder werden wir die Materialien vor Ort nutzen? Wenn wir diese Wahl treffen und uns die ökologische Krise vor Augen führen, dann gibt es Alternativen. Es gibt beispielsweise eine Vielzahl radikaler Architekten, die nicht an die politische Bewegung gebunden sind. Zu Zeiten der chinesischen Revolution gab es vielleicht eine politische Bewegung, aber nicht eine alternative Wissenschaft. Es gibt jetzt mehr Möglichkeiten zum Wiederaufbau von Rojava und der historische Moment ist ein anderer. Die Region hat jetzt ein größeres Potential.

Wie sehen Sie als Menschenrechtlerin die Türkei?

Ich möchte noch mal betonen, dass ich über kein tiefgreifendes Wissen verfüge. Erdoğan und seine Regierung nehmen Platz in dieser neuen Globalisierung. Wir können Folgendes sehen bei den Ländern, die Platz nehmen in dieser globalen Clique: Verfassungsänderungen. In den Ländern Lateinamerikas entwickeln sich Verfassungsreformen. Etwas, das die Globalisierung diktiert, ist das Management-Programm der Weltbank. Wenn du Mitglied der Welthandelsorganisation sein willst, braucht es dafür zwingende rechtliche Reformen. Aus diesem Grund möchte ich die Ereignisse in der Türkei aus diesem allgemeinen Blickwinkel betrachten und ich denke, dass es Ergebnisse dieser zwingendenden Faktoren sind. Welches sind die grundlegenden Reformen, die die Globalisierung fordert? Die Anerkennung eines unabhängigen und freien diktatorischen Raumes für das globale Kapital ... Das globale Kapital versucht den Charakter des Staates zu verändern. Statt politischer Autoritäten werden nur diejenigen in die Führungspositionen gebracht, die die Ökonomie verwalten. Das Gefährliche dabei ist die Verwaltung der Ökonomie. Weil darauf die Konzentration liegt, kann vielleicht auf kulturellem Gebiet etwas mehr Raum gegeben werden. Vielleicht können sie von kultureller Vielfalt und dem Recht auf Sprache sprechen. Wenn du keine Kontrolle über die Ökonomie hast, dann wirst du auch keine Kontrolle über andere Felder haben und keine Entwicklung voranbringen können. Ich blicke nicht sehr zuversichtlich auf die Verfassungsformen, die sich zu viel auf die ökonomische Autorität stützen und auf kulturellem Feld den Raum öffnen.

Was bedeutet Ihnen abschließend diese Konferenz und was konnten Sie mitnehmen?

Zum Schluss glaube ich, dass wir alle das Ziel der Konferenz brauchen. Ich hoffe, es wird weitergehen. Diese Diskussionen müssen weitergehen. Ich fand die Beteiligung der Jugend sehr beeindruckend. Ich hoffe für die Zukunft, dass es aus aufstrebenden Ländern mehr Teilnehmer an den Diskussionen geben wird. Denn dort gibt es Bewegungen, die ähnliche Fragen stellen wie die kurdische Bewegung.

Redebeiträge der Konferenz unter: http://networkaq.net/2015/speeches/index.html