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Aboriya Jin – Frauenwirtschaftin Nord- und Ostsyrien

  • Februar 6, 2025
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Reisebericht einer Delegation der Kampagne Women Defend Rojava Im Mai 2024 sind wir als vier Aktive im Rahmen der Kampagne »Women Defend Rojava« auf eine Delegation nach Nord-

Aboriya Jin – Frauenwirtschaftin Nord- und Ostsyrien

Reisebericht einer Delegation der Kampagne Women Defend Rojava

Im Mai 2024 sind wir als vier Aktive im Rahmen der Kampagne »Women Defend Rojava« auf eine Delegation nach Nord- und Ostsyrien gereist. Drei Wochen lang besuchten wir verschiedene Orte der Demokratischen Selbstverwaltung und haben von Frauen geführte Projekte kennengelernt. Dabei lag unser Fokus auf der Frauenwirtschaft: Wir wollten verstehen, wie eine Wirtschaft abseits der kapitalistischen Verwertungslogik aussehen kann, welche Ideen dafür bestehen und wie diese in der Praxis umgesetzt werden.

Um uns erstrecken sich goldene Weizenfelder, soweit das Auge nur reicht. In ein paar Tagen steht die Ernte bevor – darüber diskutieren die Frauen, mit denen wir unterwegs sind. Sie sind Teil der Landwirtschaftskooperative »Jiyane« (dt. Leben). In der Nähe von Hesekê (arab. al-Hassakah) bewirtschaften sie fünf Getreidefelder. Es sind etwa 15 bis 20 Frauen an diesem Vormittag mit uns auf den Feldern. Seit zwei Jahren sind die Frauen Teil der Kooperative. Anstrengend sei die Arbeit hier nicht – alle paar Tage vorbeikommen und prüfen, ob alles in Ordnung ist. Viel wichtiger allerdings ist, was über diese Arbeit hinaus entsteht. »Wir wollen ein politisches Bewusstsein als Frauen erlangen«, erzählen sie uns im Interview. Sie halten Sitzungen zu verschiedenen Themen, reden über die gesellschaftliche Situation von Frauen und über die politische Lage. Durch die landwirtschaftliche Arbeit sollen Frauen wieder einen Zugang zur Natur finden. Denn das, so erzählen uns auf der Delegationsreise viele, ist ursprünglich auch die Arbeit der Frau gewesen. Durch zunächst das Patriarchat und in den letzten Jahrhunderten noch drastischer durch Kapitalismus und Industrialisierung habe sich die Frau von der Natur und Landwirtschaft entfernt. Zuerst hat der Mann die Arbeit für sich beansprucht und dann, durch Zuwanderung in Städte, ist der Kontakt zur Natur ganz abgebrochen. Diesen wollen die Frauen in Nord- und Ostsyrien nun wieder herstellen. Zum Beispiel durch Kooperativen wie »Jiyane«, die, wie uns gesagt wird, »einfach nur ein Stück Land ist, das ein paar Frauen zusammen bewirtschaften«.

Die Frauenkooperativen in Rojava sind angebunden an das Frauenwirtschaftskomitee – »Aboriya Jin« (dt. Frauenwirtschaft). Dieses ist Teil von Kongra Star, dem Dachverband der gesamten kurdischen Frauenfreiheitsbewegung. Als ab Anfang der 2000er Jahre die Selbstorganisierung der Kurd:innen in Nord- und Ostsyrien begann, gründete sich 2005 auch Kongra Star. Sie schufen wichtige Grundlagen für die Gesellschaftsordnung, wie sie heute besteht. Kongra Star konzentriert sich auf die Organisation, Bildung und Stärkung von Frauen und kämpft für die Befreiung und Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensbereichen. Als mit der Revolution 2012 Autonomie in der Region erlangt wurde, konnte Kongra Star auch öffentlich agieren. Sie gründeten verschieden Komitees, darunter Gerechtigkeits-, Bildungs-, Gesundheitkomitees und eben auch Wirtschaftskomitees. Mit diesen Strukturen soll, neben den Strukturen der Selbstverwaltung, in allen Bereichen der Gesellschaft eigene Frauenorganisierung bestehen. Das heißt, es gibt in der Selbstverwaltung ein Wirtschaftskomitee und ein Frauenwirtschaftskomitee. Die autonome Organisierung der Frauen bildet eine der Grundlagen der Revolution – denn da das Patriarchat die erste Form der Unterdrückung überhaupt war, ist auch die freie Organisierung der Frau der wichtigste Widerstand dagegen und deshalb die Gewährleistung der Autonomie der Frauen unabdingbar.

In jedem der 7 Kantone in der Demokratischen Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien besteht ein Frauenwirtschaftskomitee. Sie bauen lokal Projekte und Kooperativen auf, wie beispielsweise »Jiyane« in Hesekê. Meistens handelt es sich dabei um Land oder um Orte, die vorher dem syrischen Regime gehört haben und die nun die Selbstverwaltung für sich beanspruchen kann. Die Näherei »Lavin« zum Beispiel ist schon vor der Revolution eine Näherei gewesen – nach der Revolution war sie dann ohne Besitzer und ist jetzt eine Frauenkooperative. Heute gehören zur Näherei »Lavin« auch 4 Geschäfte in verschiedenen Städten innerhalb der autonomen Administration.

Es gibt zahlreiche Arbeitsbereiche, in denen es bereits Projekte der Frauenwirtschaft gibt: Nähereien, Bäckereien, Konservenfabriken und Landwirtschaftskooperativen. Die Landwirtschaftskooperativen stellen die Mehrheit dar. Dies ist hauptsächlich auf die Gegebenheiten in Nord- und Ostsyrien von vor der Revolution zurückzuführen.

Während der Herrschaft Assads war Syrien nämlich nach Logiken der Planwirtschaft organisiert. Das bedeutet, jedes Gebiet hatte einen bestimmten Bereich der Produktion, für das es fast ausschließlich verantwortlich war. Nord- und Ostsyrien war für die Weizenproduktion verantwortlich – das Gebiet wurde auch die »Kornkammer Syriens« genannt. Es gab also riesige Flächen von Monokulturen und wenig Infrastruktur für die Weiterverarbeitung des Getreides, denn diese geschah in anderen Teilen Syriens. Die Folgen davon sind auch heute noch sichtbar. Noch immer dominiert die Weizenproduktion in der Landwirtschaft. Dies soll langfristig verändert werden, doch die Menschen hier müssen auch praktisch denken: Oberste Priorität hat zunächst, die Lebensmittelversorgung in der Region zu gewährleisten. Daher wird an vielen Orten weiter Weizen angebaut.

Das Erbe der Wirtschaft Syriens unter Assad ist eine Schwierigkeit, mit denen der Aufbau einer alternativen Wirtschaft konfrontiert ist. Die andere größte und akute Gefahr sind die ständigen Angriffe auf die Selbstverwaltung. Seit Jahren greift die Türkei Nord- und Ostsyrien mit Drohnen an – und zielt dabei auf die Zerstörung der Infrastruktur vor Ort. Das betrifft insbesondere die Stromversorgung: Obwohl die Region reich an Erdöl ist, wird die meiste Energie mittlerweile über Generatoren bezogen. Das liegt daran, das vier der fünf großen Kraftwerke von der Türkei angegriffen wurden. Die mangelnde Stromversorgung hat weitreichende Folgen und wirkt sich unter anderem auf die Wasserversorgung aus. Auch stellen sie, neben den ohnehin schon lästigen regelmäßigen Stromausfällen, auch eine psychische Belastung dar: Wir haben mehrere Bäckereien besucht, die in unmittelbarer Nähe einen Generator stehen hatten, der großen Lärm und Dreck verursacht. Eine weitere Schwierigkeit ist das Embargo, das über Nord- und Ostsyrien verhängt wurde. Dies verhindert, dass dringend gebrauchte Ware in die Region gelangen kann.

Trotz dieser Schwierigkeiten bauen die Frauen von »Aboriya Jin« kontinuierlich weiter Projekte auf. Denn bei den Arbeiten geht es, wie eingangs erwähnt, nicht nur um die Arbeit oder das Geldverdienen an sich. Es geht darum, die Persönlichkeit zu entwickeln, zu lernen und zu wachsen und vor allem die Angst zu überwinden. »Es macht keinen Unterschied, ob du Mann oder Frau bist, wenn du die Angst überwunden hast, kannst du alles machen«, sagt uns NesrÎn HecÎ Mihemed, die Leiterin der Näherei »Lavin«. Frauen machen dort jetzt Arbeiten, die noch vor zehn Jahren nur für Männer bestimmt waren. Das Selbstbewusstsein, dass sie dadurch bekommen, ist enorm wichtig für die Überwindung patriarchaler Mentalität und die Befreiung der Frau. So war das auch bei NesrÎn: Die Übernahme einer Leitungsfunktion war für sie ein wichtiger Schritt eine Identität als freie Frau zu entwickeln. »Früher haben die Männer über uns Frauen entschieden, jetzt entscheiden wir über sie«, fügt sie hinzu und lacht.


Die Kampagne »Women Defend Rojava« wurde 2019 von der Frauenbewegung Kongra Star ins Leben gerufen. Als Reaktion auf die erneuten Angriffe des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien gründeten Frauen auf der ganzen Welt, auch in vielen Städten Deutschlands, lokale »Women Defend Rojava«-Komitees. In enger Verbindung mit der Frauenbewegung Nord- und Ostsyriens, verteidigen die Komitees die Errungenschaften der Frauenrevolution.

Mehr Infos auf der Kampagnenwebseite: www.womendefendrojava.net/de