Die Biographie eines Volkes: Öcalan
- Februar 6, 2025
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Ursachen und Folgen der Bedeutung Öcalans in der Suche nach einer Lösung für die kurdische Frage Cengiz Yürekli, Rechtsanwalt In diesem Beitrag werden die kurdische Frage und die
Ursachen und Folgen der Bedeutung Öcalans in der Suche nach einer Lösung für die kurdische Frage Cengiz Yürekli, Rechtsanwalt In diesem Beitrag werden die kurdische Frage und die
Ursachen und Folgen der Bedeutung Öcalans in der Suche nach einer Lösung für die kurdische Frage
Cengiz Yürekli, Rechtsanwalt
In diesem Beitrag werden die kurdische Frage und die Rolle Öcalans diskutiert, auch wenn das im Rahmen dieses Artikels nur oberflächlich geschehen kann. Die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der kurdischen Frage, Öcalans Position und die Rolle, die er dabei spielen kann, werden kurz bewertet. Dabei geht es vor allem um die harte Haltung der Republik Türkei, die Ablehnung der Weltmächte gegenüber Öcalan und die Einheit des kurdischen Volkes in der Person Öcalans.
Abdullah Öcalan, der Vordenker der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), hat die letzten 25 Jahre seines Lebens im Gefängnis auf der türkischen Insel İmralı im Marmarameer verbracht. Auf internationalen Druck war er gezwungen worden, Syrien, wo er viele Jahre lang gelebt hatte, zu verlassen. Er entschied sich nach Europa zu gehen, da er hoffte, dass die europäischen Demokratien eine positive Rolle auf dem Weg einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage spielen würden. Sobald er jedoch Syrien verlassen hatte, wurde ihm klar, dass die Realität eine andere und er mit einem internationalen Komplott konfrontiert war. Er wurde an den Reisezielen nicht willkommen geheißen. Das Vereinigte Königreich erklärte ihn zur »persona non grata«. Seine Anträge auf politisches Asyl wurden nicht angenommen, und der europäische Luftraum wurde für ihn gesperrt.
Im Rahmen dieses Komplotts, an dem Kräfte von Griechenland bis Amerika, von Russland bis Israel beteiligt waren, wurde er aus dem Geltungsraum europäischen Völkerrechts herausgezerrt und von der griechischen Botschaft in Kenia aus verschleppt. Dort war er zuvor durch falsche Versprechungen einerseits und intensiven Druck andererseits gezwungen worden, das Botschaftsgebäude zu verlassen. Anschließend wurde er an den türkischen Geheimdienst übergeben. Die Worte des damaligen italienischen Premierministers Massimo D’Alema stehen sinnbildlich für die damalige Zeit: »Clinton rief mich an und sagte mir, ich solle Öcalan an die Türkei ausliefern. Es war unmöglich, sich gegen Amerika zu stellen.«
Nach seiner Entführung am 15. Februar 1999 wurde Öcalan in einer eigens für ihn gebauten Einzelzelle auf der Insel İmralı untergebracht. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Insel zu einer militärischen Sperrzone erklärt. Öcalan wurde hier 10 Jahre und 9 Monate lang allein festgehalten. Derzeit sind vier Personen auf der Insel inhaftiert. Sein Kontakt zur Außenwelt und sein Zugang zu Informationen sind minimal. Seine gesetzlichen Rechte darf er nicht wahrnehmen. So wird über lange Zeiträume hinweg verhindert, dass er gehört wird. Der Kontakt zur Außenwelt wird ihm nur selten gestattet, etwa einmal alle drei bis vier Jahre. Erst am 23. Oktober 2024, 43 Monate nach seinem letzten Telefonat am 25. März 2021, war der Kontakt zu einem Familienmitglied möglich.
Auf İmralı haben selbst die grundlegendsten humanitären Rechte keine Gültigkeit. Dieser Umstand entbehrt jeder Rechtsgrundlage. İmralı ist das Guantanamo Europas; in Guantanamo allerdings wurden, im Gegensatz zu İmralı, immer wieder Besuche des Roten Kreuzes und der Presse zugelassen. Die zuständigen Gerichtsinstanzen und Rechtsexperten haben ernsthafte Einwände gegen diese Praxis erhoben. Trotzdem existiert İmralı seit 25 Jahren als rechtsfreier Raum innerhalb des Geltungsbereichs der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Das kurdische Volk jedoch reagiert und protestiert immer wieder dagegen. Die Frage, die man sich hier stellen muss, lautet »Warum?«. Warum beharrt die Republik Türkei auf einer solchen Praxis, mit welcher sie gegen ihre eigenen Gesetze verstößt und die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt? Warum schweigt das internationale System, insbesondere die Europäische Union, dazu? Und warum steht das kurdische Volk trotz aller Schwierigkeiten so geschlossen hinter Öcalan? Warum führt es ohne Kompromisse einen politischen und sozialen Kampf nicht nur um Öcalans Existenz, sondern auch um seine politischen und ideologischen Vorschläge?
Der Nationalismus erschüttert die Welt bis in den Mittleren Osten
Zweifellos ist es nicht möglich, diese Fragen zu beantworten, ohne die Entwicklungen der Region in den letzten 200 Jahren zu kennen. Die geografische Zersplitterung Kurdistans als Heimatland der Kurd:innen wurde mit dem Abkommen von 1639 zwischen dem Osmanischen Reich und dem damaligen iranischen Staat (Safawiden-Staat) begonnen. Die heutigen Grenzen zwischen der Türkei und dem Iran beruhen auf diesem Abkommen. Mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, der infolge des Ersten Weltkriegs abgeschlossen wurde, wurden die heutigen Grenzen weitgehend festgelegt. Nach diesem Vertrag wurde das alte Kurdistan auf vier verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt: der Türkei, dem Iran, Syrien und dem Irak.
In allen vier Nationalstaaten wurde das kurdische Volk einem intensiven Prozess der Assimilierung und der Identitätsleugnung unterworfen. Die Republik Türkei, in der der größte Anteil der kurdischen Bevölkerung beheimatet war, spielt eine führende Rolle bei der Unterdrückung der Kurd:innen – sowohl in Bezug auf die Methoden und die Unerbittlichkeit in der Umsetzung der Assimilationspolitik als auch in der Reaktion auf den Widerstand, der sich dagegen entwickelte.
Das Osmanische Reich, dessen Nachfolgerin die Republik Türkei ist, löste sich angesichts des im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus auf. Vor allem die Entwicklung der Nationalstaatlichkeit in Europa hatte einen entscheidenden Einfluss, der bis heute anhält.
Die Existenz verschiedener nationaler Identitäten wurde als ein Grund für den Zerfall des Reiches angesehen. Diese Erzählung wurde später in die Leugnung aller Unterschiede umgemünzt und für die Rechtfertigung eines monistisches Staatsverständnisses unter dem Dach der Republik genutzt.
Nach dem Ersten Weltkrieg konnten die Kurd:innen ihre Existenz bis zur Gründung der Republik Türkei zeigen. In dieser Zeit wurden das griechische und das armenische Volk aus der Region vertrieben. Dafür wurden muslimische Völker unterschiedlicher ethnischer Identität (Bosnier:innen, Albaner:innen) in die Türkei geholt. Diese Austausch- und Deportationspraktiken führten dazu, dass nicht-muslimische Völker nach und nach zu Museumsstücken degradiert wurden.
Das kurdische Volk, das als Hindernis für die türkische Nationalstaatsbildung angesehen wurde, wurde mit der Gründung der Republik Türkei zum Objekt von Assimilierungs- und Liquidierungspraktiken. Die kurdischen Aufstände, die sich dagegen erhoben, wurden blutig niedergeschlagen; in der Zeit zwischen 1925 und 1938 wurde ein offener Krieg gegen die kurdische Identität geführt. Von dieser Zeit an wurde versucht die kurdische Identität zu vernichten. Mit aller Gewalt wurde versucht, die Kurd:innen aus dem Bewusstsein der Welt auszuradieren und das Bewusstsein über eine Einheit Kurdistans auszulöschen.
Tevfik Rüştü Aras, Außenminister (1925-1938) zur Zeit dieser kurdischen Aufstände, erläuterte dem britischen Botschafter seine Ansichten zur kurdischen Frage so: »Nach Ansicht des Ministers war es in dieser Zeit für kleine Nationen weder möglich, unabhängig zu existieren, noch konnten sich die Kurd:innen, insbesondere mit ihrem »furchtbar rückständigen« kulturellen Niveau, in die allgemeine Struktur der Türkei einfügen. Da sie nicht in der Lage waren, mit den zivilisierten und fortschrittlicheren Türken, die in den kurdischen Gebieten angesiedelt werden sollten, um das wirtschaftliche Überleben zu konkurrieren, waren sie wie die amerikanischen Indianer zum Aussterben verurteilt«[1].
Die vom Minister erklärte »Rückständigkeit« war zweifellos keine historische Eigenschaft der Kurd:innen, sondern ein strategisches ideologisches Argument um die Assimilation zu rechtfertigen. Die Kurd:innen wurden von ihrer Geschichte entfremdet, ihre Sprache und Kultur wurden unterdrückt, und sie wurden von den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen ausgeschlossen. Die Bevölkerung der geografischen Region Kurdistans wurde zur Migration in die westlichen Provinzen der Türkei gezwungen, während zum Zwecke eines Bevölkerungsaustauschs Menschen aus anderen Regionen der Republik Türkei in den kurdischen Gebieten angesiedelt wurden.
Die öffentlich organisierten Handels- und Arbeitsbeziehungen waren eng mit der türkischen Volkszugehörigkeit verknüpft. Die Wirtschaft wurde als Instrument genutzt den Kurd:innen die türkische Identität aufzuzwingen. Grundschulen wurden gebaut und waren waren ebenfalls wichtige Institutionen für diesen Zweck. Ziel war es, die kurdische Identität und Sprache auszulöschen, um sie in die türkische Identität aufzulösen. Dafür wurden Verwaltungs-, Militär- und Justizstrukturen mit für die Region spezifischen Befugnissen eingerichtet, die keiner Kontrolle unterlagen. Diejenigen, die Kurdisch sprachen, wurden vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen, und wer auf dem Basar, auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen Kurdisch sprach, wurde bestraft. Um die Verleugnung des Kurdischen zu legitimieren, wurde eine neue Geschichte geschrieben und zur offiziellen Ideologie gemacht: Demnach gebe es keine Kurden, die kurdische Sprache habe nie existiert. Kurden seien Bergtürken und Kurdisch sei ein korrumpierter Dialekt des Türkischen. Jeder, der sich dem widersetze, sei entweder ein Verräter oder Separatist und müsse auf das Schärfste bestraft werden. In allen Bildungseinrichtungen bis zu den Hochschulen, von den religiösen Einrichtungen bis zu den Justiz- und Sicherheitsinstitutionen wurde diese offizielle Ideologie verbreitet.
Die Regierung konnte diese Politik umsetzen, weil die Opposition im Land vollständig unterdrückt wurde. Gruppen und Institutionen, von denen man dachte, dass sie sich widersetzen könnten, einschließlich der Schicht der Intellektuellen, wurden durch den Staat von oben her aufgebaut. Außerdem spielten die Positionen und Interessen der internationalen Mächte eher eine entmutigende als eine unterstützende Rolle für die Kurd:innen: wir sprechen hier von einem müden Weltsystem, das gerade aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war.
Es handelt sich um eine historische Periode, in der zentralisierte autoritäre Einparteienregime, die sich auf eine monistische Identität stützen und nicht davor zurückschrecken, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, weit verbreitet waren – in einem internationalen System, insbesondere in Deutschland und Italien, die ein solches Vorgehen des türkischen Staates als legitim ansahen. Die allgemeine Tendenz ging dahin, interne Probleme im Rahmen der Souveränität des betreffenden Landes zu betrachten.
Spielball der Großmächte – Bedeutung der geopolitischen Lage der Republik Türkei
Infolge der bolschewistischen Revolution nördlich der Türkei sahen die Westmächte die potenzielle Expansion Sowjetrusslands als Hauptbedrohung an. Daher wurde der Republik Türkei der Wert einer Pufferzone gegen diese Expansionsgefahr zuerkannt. Russland wiederum betrachtete eine mögliche kurdische Autonomie als eine gegen sich gerichtete Eindämmungspolitik des »britischen Imperialismus«. Für die internationalen Mächte führten Gründe wie die eigene ideologische Expansion, die Beherrschung der Energierouten, der Besitz der Reichtümer des Mittleren Ostens und der Erwerb strategischer Militärstützpunkte ebenfalls zur Rechtfertigung dieser Politik der Nationalstaaten. Die Interessen der Kurd:innen waren diesen untergeordnet. Die Kurd:innen versuchten wiederholt, ihre Anliege vor den Völkerbund (später die Vereinten Nationen) zu bringen und stellten zahlreiche Anträge. Es hat sich jedoch nie ein Mitgliedsstaat gefunden, der ihre Forderungen unterstützt und das Problem in ihrem Namen vor dem Völkerbund vertreten hätte. Interessanterweise hat kein Land des Ostblocks, auch nicht die Sowjetunion, die das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« grundsätzlich anerkannte, eine solche Verantwortung übernommen.
Die geopolitische Position der Republik Türkei spielte eine entscheidende Rolle bei der Vernichtung und Verleugnung der Kurd:innen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Kampf gegen das Vergessen der kurdischen Realität und die Hoffnung durch den demokratischen Konföderalismus
In den 1960er Jahren gab es eine kurdische Realität, die von ihrer Nichtexistenz überzeugt war, die vor ihrer eigenen Existenz davonlief und sich in einer Todesstille befand. Doch mit der geistigen Revolution, die durch die Freiheitsrevolte von 1968 und die Befreiungskämpfe in der ganzen Welt ausgelöst wurde, entstand eine Zeit, die für die unterdrückten Völker eine Quelle der Moral und Motivation war. Kein Land und keine Gesellschaft konnte sich diesem Prozess entziehen. Öcalan betrat die politische Bühne zu einer Zeit, in der die kurdische Identität immer weiter verschwand, während die kolonisierten Völker die Fahne der Revolte hissten. Aus diesem Grund sah er sich in seinen späteren Vorträgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte veranlasst, sich ausführlich mit der geschichtlichen Entwicklung der Realität des kurdischen Volkes und den Behauptungen zu befassen, die Kurd:innen hätten keinen Platz in der Zivilisationsgeschichte. Anders als die kurdische Oberschicht, die die früheren Aufstände angeführt hatte und entweder eine Niederlage erlitt oder ihre privaten Interessen verfolgte, kam Öcalan aus der klassischen Unterschicht und sprach die Sprache des Volkes. Sein individueller Aufstand gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz war Teil seiner Sozialisation und hatte Anteil an vielen Errungenschaften, die bis heute erkämpft wurden. Die heutigen Errungenschaften losgelöst von ihrem historischen Kontext zu bewerten, indem man sie allein im Kontext der Gegenwart betrachtet, wird uns nicht zu den richtigen Schlussfolgerungen führen.
Die heute teilweise geduldete kurdische Existenz, ihre Vertretung im Parlament, in den Kommunalverwaltungen, ihre Akzeptanz in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft und ihre Selbstverteidigung sind das Ergebnis des von Öcalan angestoßenen ideologischen, politischen und sozialen Kampfes. Aus diesem Grund hat das kurdische Volk, das sich seiner eigenen Geschichte bewusst ist, ein festes Band zu Öcalan geknüpft. Das kurdische Volk ist davon überzeugt, dass Öcalan unter allen Umständen für die Rechte seines Volkes kämpfen wird.
Sowohl das globale System als auch der türkische Staat sind sich der Position und des Einflusses von Öcalan bewusst. Darum haben sie versucht, Öcalan zu bekämpfen – ohne Erfolg. Deshalb sahen sie sich gezwungen, Öcalan, den Verhandlungsführer im Namen des kurdischen Volkes, in Isolationshaft zu nehmen. Öcalan spielt jedoch nicht nur eine Rolle bei der demokratischen Lösung der kurdischen Frage, sondern bietet und fordert auch eine Alternative zur kapitalistischen Moderne, die die Welt ins Verderben stürzt. Öcalan, der feststellte, dass die nationalen Befreiungskämpfe, der Realsozialismus und die Sozialdemokratie letztlich den Fesseln des kapitalistischen Systems nicht entkommen konnten, vertrat die Idee, dass ein Nationalstaat keine Rettung für die Kurd:innen sein würde, die erst spät in einen Prozess eines Kampfes für den Nationalstaat eingetreten waren.
Er sah, dass dies nicht nur kein Heilmittel für Klassen- und soziale Spaltungen, sondern auch eine Quelle endloser regionaler Konflikte sein würde. Darum schlägt er einen demokratischen Konföderalismus vor, der auf einer demokratischen Nation basiert, in der alle Identitäten gleichberechtigt leben und in der die demokratischen Ausdrucksmöglichkeiten der Völker als gemeinsames Lebensprojekt anerkannt werden. Er schlägt eine Alternative vor, die auf der Gleichberechtigung der Geschlechter und dem ökologischen Leben basiert und in der Volksversammlungen und Kommunen von der Basis her organisiert werden.
Seine ideologische Haltung stellt die Notwendigkeit des Nationalstaates, der die Repräsentation der Macht, die konzentrierteste Form des Kapitals, darstellt, in Frage. Diese Haltung ist der Grund für die Exkommunizierung durch die globalen Mächte und den Aufbau eines Systems wie İmralı. Gleichzeitig verbreiten sich Öcalans Ideen jedoch jeden Tag weiter, wie es in dem Slogan »jin, jiyan, azadî« zum Ausdruck kommt. Die Forderungen nach der Freiheit des Volkes, nach einer freien Gesellschaft und einem freien Leben gewinnen Tag für Tag an Anhänger:innen.
Ermüdung als Chance für die Lösung der kurdischen Frage?
Die Republik Türkei hat die potenziellen Forderungen des kurdischen Volkes als die größte Gefahr erkannt. Ihre gesamte Politik und Praxis zielt darauf ab, sein Potenzial zu unterdrücken und seine Existenz als Volk aufzulösen. Der Staat entwickelte einen gewaltsamen Reflex gegen die Einforderung von Rechten, die von Öcalan angeführt wird. Der gesamte staatliche Mechanismus ist darauf ausgerichtet, diese Rebellion zu unterdrücken. Neben den Instrumenten des heißen Krieges werden auch psychologische, kulturelle und wirtschaftliche Mittel eingesetzt.
Die Durchführung eines solchen Kriegs hat jedoch auch zahlreiche soziale und politische Folgen in der Türkei. Während die Existenz des kurdischen Volkes geleugnet wird, wird auch die Demokratie in der Türkei ausgehöhlt. Die Methoden, die zur Fortführung der Vernichtungs- und Verleugnungspolitik gegenüber den Kurd:innen eingesetzt werden, haben die türkische Gesellschaft in jeder Hinsicht vergiftet. Die entwickelte militaristische Kultur hat die Gewalt in alle Bereiche der Gesellschaft getragen. Es wurde eine Gesellschaft geschaffen, die alle, die nicht zu ihr gezählt werden, als Feinde und Bedrohung ansieht. Die Ressourcen des Landes wurden auf diese Weise verbraucht, wirtschaftlicher Fortschritt verhindert. Auf allen Ebenen kam es zu einem gravierenden Verlust an materiellen und moralischen Werten.
Wegen des hohen Preises für die Gesellschaft und der damit einhergehenden Ermüdung können Regierungen manchmal eine solche Politik nicht aufrecht erhalten. Daraus kann sich die Notwendigkeit von Reformprozessen ergeben. Seit 2015 zeigt sich, dass die Politik der Gewalt gegen Kurd:innen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei, den türkischen Staat in genau solch eine Situation hineingezogen hat. Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, dass er in einen neuen Dialogprozess mit den Kurd:innen mit Öcalan als Gesprächspartner eintreten wird.
Es ist jedoch auch möglich, dass entsprechende Signale als Zwischenschritt zu sehen sind, um der Erschöpfung entgegen zu wirken und Kräfte zu sammeln. Dennoch darf die Möglichkeit nicht aus den Blick geraten, dass ein solcher Schritt viele Möglichkeiten und Chancen birgt. Wenn die verschiedenen sozialen Schichten ihre Organisierung und ihre Aktivitäten verstärken, um den Staat in eine demokratische Richtung zu drängen, könnte der Prozess mehr als ein vorübergehendes Manöver werden. Insbesondere könnte es gelingen, die internationalen Mächte von der demokratischen Lösung der kurdischen Frage zu überzeugen und auf dieser Grundlage die Freiheit Öcalans zu erlangen.
Es sollte nicht vergessen werden, dass die Mitglieder des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in der Lage waren, in Europa Diplomatie für die Freiheit zu betreiben. Öcalans Porträts jedoch sind verboten, seine Freund:innen werden in europäischen Zentren ermordet, er wird unter gerichtlichem Druck festgehalten. Medien, die seine Ideen verbreiten, werden mit Verboten belegt. Ein Dialogprozess kann eine Chance sein, diese negativen Einstellungen zu ändern. Darüber hinaus birgt die Beteiligung internationaler Mächte und gesellschaftlicher Schichten an einem entsprechenden Prozess die Möglichkeit, einen positiven Einfluss auf die Lösung der kurdischen Frage auszuüben.
[1] Martin van Bruinessen, Kürdistan Üzerine Yazılar [Schriften über Kurdistan]. İstanbul 1992, S. 145.