Gemeinsame Erklärung der internationalen Friedensdelegation
- April 20, 2016
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Zum verhinderten Besuch auf Imralı Gemeinsame Erklärung der internationalen Friedensdelegation Istanbul, 15./16. Februar 2016
Zum verhinderten Besuch auf Imralı Gemeinsame Erklärung der internationalen Friedensdelegation Istanbul, 15./16. Februar 2016
Die aktuelle Lage in der Türkei ist kritisch. Die jüngste Eskalation des Konflikts im Zusammenhang mit der Kurdenfrage ist brandgefährlich. Der Krieg in Syrien hat bereits bis in den Südosten der Türkei übergegriffen, wo es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist für Gräueltaten und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Cizre [kurd.: Cizîr] und anderen kleineren und größeren Städten verantwortlich, und es besteht die sehr reale Gefahr, dass sich die Gewalt im gesamten Land ausbreitet. Die Unterdrückungs- und Einschüchterungsmaßnahmen des Staates gegenüber türkischen Wissenschaftlern und Journalisten, die sich gegen die Kriegstreiberei wenden, machen deutlich, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Kampf um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage und dem Kampf um die Demokratie in der Türkei insgesamt gibt.
Die Eskalation des Konflikts hängt zeitlich mit der totalen Isolation des Anführers der kurdischen Freiheitsbewegung, Abdullah Öcalan, zusammen. Öcalan ist von seiner Gefängniszelle in der Isolationshaft auf der Insel Imralı aus ein entscheidender Akteur und eine wichtige Stimme, die immer wieder den Frieden fordert.
Gleichwohl war die Tatsache an sich, dass Öcalan im Gefängnis sitzt, bereits ein Problem während der Gespräche, die im März 2013 begonnen wurden und zwei Jahre dauerten. Sein Status als Gefangener zwingt ihn zu Verhandlungen mit denjenigen, die ihn gefangen halten – das ist von vornherein ein Nachteil. Darüber hinaus kann er sich im Gefängnis nicht mit seinen Anhängern beraten. Vor dem Beginn ernsthafter Verhandlungen muss ihn der Staat freilassen – so wie auch Nelson Mandela vor den Verhandlungen in Südafrika freigelassen wurde, und nicht etwa erst während der Verhandlungen oder danach. Solange Öcalan nicht frei ist, kann es nur Gespräche über Gespräche, aber keine eigentlichen Verhandlungen geben. Mandela betonte, dass man nur als freier Mensch im Auftrag seines Volkes Verhandlungen über eine politische Lösung führen kann, nicht aber als Gefangener.
Am 14. Februar traf in Istanbul eine zehnköpfige internationale Delegation zusammen, um einen Beitrag zur Wiederaufnahme des kurdisch-türkischen Friedensprozesses zu leisten, der seit dem Frühjahr 2015 unterbrochen ist. Der Delegationsleiter, Richter Essa Moosa vom Obersten Gerichtshof Südafrikas, wandte sich am 3. Februar im Auftrag der Delegation in einem Schreiben an den türkischen Justizminister und bat um zwei Treffen: eines mit dem Ministerium zwecks Erörterung von Mitteln und Wegen zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und Öcalan und eines mit Abdullah Öcalan auf der Insel Imralı zwecks Erörterung desselben Themas. Wir baten, die Treffen für den 15. Februar anzuberaumen – dem 17. Jahrestag der Gefangennahme und Inhaftierung Öcalans. Richter Moosa war früher für Nelson Mandela während seiner Gefangenschaft auf Robben Island und an weiteren Orten tätig und beteiligte sich am Verhandlungsprozess in Südafrika.
Wir sind überzeugt, dass weder die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) noch das türkische Militär jemals einen Krieg für sich entscheiden könnte, der die gravierende humanitäre Krise im Land nur weiter verschärfen würde, und vertreten die Auffassung, dass der Friedensprozess die einzige Lösung und Öcalan als oberster Sprecher der kurdischen Bewegung für diesen Prozess von entscheidender Bedeutung ist. Aus unserer Sicht können ohne die Beteiligung Öcalans keine Fortschritte in Richtung einer Lösung erzielt werden.
Bedauerlicherweise wurde unserer Delegation keines der beiden Treffen, um die wir gebeten hatten, gewährt. Am 15. Februar bestätigte das Ministerium den Eingang des Schreibens, aber unsere Bitte wurde weder offiziell angenommen noch abgelehnt. Über die bloße Eingangsbestätigung hinaus kam von Seiten des Ministeriums vor unserer Abreise aus der Türkei keine weitere Reaktion. Wir sind sehr enttäuscht, dass man uns nicht die Gelegenheit gegeben hat, den Justizminister und Öcalan zum Thema der Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu befragen.
Derweil traf die Delegation mit Vertretern verschiedener politischer und gesellschaftlicher Organisationen zusammen, die uns über die äußerst prekäre Lage des Landes informierten. Wir trafen uns darüber hinaus mit Anwälten und Anwaltsverbänden, die sich sehr für die Verteidigung von Mitgliedern der kurdischen Freiheitsbewegung gegen strafrechtlich relevante Vorwürfe engagieren und selbst Opfer vieler Einschüchterungs- und Verfolgungsmaßnahmen von Seiten des Staates geworden sind.
All diese Vertreter berichteten uns, dass die Regierung Erdoğan in der aktuellen Phase der Isolation Öcalans, d. h. seit April 2015, die Abkehr von der Friedenspolitik hin zur Kriegspolitik vollzogen hat. Der Schwenk vom Frieden zum Krieg hängt zeitlich mit der totalen Isolation Öcalans zusammen. Während das 18. Jahr seines Gefängnisaufenthalts anbricht, führt Öcalan ein einsames Leben. Zwei weitere der fünf Gefangenen, die sich ehemals auf der Gefängnisinsel Imralı befanden, wurden inzwischen in andere Hochsicherheitsgefängnisse überführt. Der einzige menschliche Kontakt, der Öcalan zur Verfügung steht, ist der zu seinen Wärtern oder, sofern erlaubt, zu den übrigen drei Gefangenen. Nicht einmal seine Familienangehörigen dürfen ihn besuchen. Seine Anwälte, die ihn seit 2011 nicht mehr besuchen konnten, beantragen jede Woche mindestens einen Besuch, aber sie haben jetzt bereits 600-mal einen Antrag gestellt, der mit absurden Begründungen immer wieder abgelehnt wird; so wurde beispielsweise behauptet, das Boot sei defekt. Seit dem letzten Besuch von Delegierten der HDP [Demokratischen Partei der Völker] am 5. April 2015 hat niemand mehr eine Besuchserlaubnis erhalten. Es gibt seitdem keine Botschaft von Öcalan aus dem Gefängnis mehr. Er leidet unter gesundheitlichen Problemen und hat nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung.
Derweil hat sich die Lage im Land nach den Wahlen und dem definitiven Ende des Friedensprozesses rasch verschlechtert. Man berichtet uns, dass Städte zu Kriegsgebieten werden und unter Artillerie- und Panzerbeschuss stehen. Kinder werden getötet. Die Eltern und Großeltern werden auf offener Straße erschossen, aber aufgrund der Ausgangssperre können ihre Leichen über längere Zeit nicht geborgen werden. Wir haben erfahren, dass bestimmte Polizeikräfte die Genehmigung haben, jeden zu erschießen, und dafür straffrei bleiben und keine Konsequenzen fürchten müssen. Diese Spezialkräfte unterstehen nicht der Befehlsgewalt lokaler Gouverneure, sondern unmittelbar der türkischen Regierung.
In Cizre wurden viele Menschen, darunter hauptsächlich Zivilisten, die in drei verschiedenen Kellern Zuflucht suchten, getötet und sogar bei lebendigem Leibe verbrannt, und jetzt werden die Gebäude staatlicherseits zerstört, um Beweise zu vernichten. Die Gewalt gegenüber Frauen nimmt zu. Frauen werden getötet, dann entkleidet und entehrt. Dies sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist ein Verstoß gegen das Dritte Genfer Abkommen, dem die Türkei verpflichtet ist, und erfüllt die Kriterien der Vereinten Nationen für Völkermord.
Auf kurdischer Seite nimmt die Wut gegenüber der Regierung zu, und viele wenden sich vollständig von der türkischen Gesellschaft ab. Die Kurden haben das Gefühl, dass der Krieg gegen die Städte mit dem Ausgang der Wahlen zusammenhängt. Aber obwohl es zu Kriegsverbrechen und Gräueltaten kommt, wenden die EU und die USA ihren Blick ab. Auf internationaler Ebene kontrolliert die AKP den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa und nutzt diesen Hebel, um die europäischen Regierungen einzuschüchtern. Die regierenden Parteien in Europa fürchten sich davor, dass weitere Zuwanderung ihre Wahlchancen mindert, und hüllen sich über die Massaker in der Türkei in Schweigen. Die Vereinigten Staaten wiederum bekräftigen immer wieder ihr Militärbündnis mit der Türkei im Krieg gegen den IS ungeachtet der Tatsache, dass der größte Feind der Türkei im Konflikt nicht der IS ist (den die Türkei sogar unterstützt), sondern die Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien sowie Baschar al-Assad.
Die Regierung Erdoğan bombardiert nach wie vor die kurdischen Streitkräfte in Syrien, also genau die Kräfte, die sich als einzig wirksamer Verbündeter der von den USA angeführten Koalition im Kampf gegen den IS erwiesen haben. Es ist sogar von einer Invasion türkischer Bodentruppen in die Kurdengebiete Syriens die Rede, was einen Krieg mit Russland auslösen könnte, der unabsehbare Folgen für die Region und die Welt hätte. Das Schicksal der Kurden hängt daher weitgehend davon ab, dass die Menschen in der übrigen Welt die Regierungen und internationalen Institutionen auffordern, ihre Politik gegenüber der Türkei zu ändern und sich für die bedrängten Kurden einzusetzen.
Unser letztes Treffen fand in Form eines Runden Tisches mit etwa fünfzig kurdischen und türkischen Intellektuellen, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftlern statt. Einige von ihnen stellten die dringende Notwendigkeit der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen heraus, während andere verzweifelt darauf hinwiesen, dass diese obsolet seien, wenn Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt würden.
In Anbetracht der Lage beschließen wir, die Unterzeichner und Mitglieder der Internationalen Friedensdelegation, Folgendes:
Die Unterzeichner:
Andrej Hunko, MdB, Europapolitischer Sprecher, Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates, Aachen (Deutschland)
Dimitri Roussopoulos, Mitbegründer des Transnational Institute for Social Ecology, Montreal, Quebec (Kanada)
Eirik Eiglad, Autor und Verleger, New Compass Press, Norwegen
Dr. Elly Van Reusel, Ärztin (Belgien)
Richter Essa Moosa (Delegationsleiter), Internationale Friedens- und Versöhnungsinitiative (Südafrika)
Federico Venturini, Fakultät für Geographie, University of Leeds, Mitglied des Beirats des Transnational Institute for Social Ecology (Großbritannien)
Francisco Velasco, Kulturminister a. D. (Ecuador)
Janet Biehl, freie Autorin, Mitglied des Beirats des Transnational Institute for Social Ecology (USA)
Joe Ryan, Vorsitzender der Westminster Justice and Peace Commission (Großbritannien)
Dr. Thomas Jeffrey Miley, Dozent für politische Soziologie, Cambridge University (Großbritannien)