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KR 210 | Juli/August 2020

Eigene Lebensräume für Frauen schaffen

  • Juni 27, 2020
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Wir selbst zu sein, verlangt, zuerst gegen das kapitalistische, patriarchale System zu sein Eigene Lebensräume für Frauen schaffen Interview mit Bese Erzincan

Wir selbst zu sein, verlangt, zuerst gegen das kapitalistische, patriarchale System zu sein

Eigene Lebensräume für Frauen schaffen

Interview mit Bese Erzincan

In einem Interview über Internationalismus spricht Bese Erzincan unter anderem über die Notwendigkeit eines neuen Internationalismus und die Erfahrungen der kurdischen Frauenbewegung darin, Vielfalt zu organisieren. Die Interviewfragen entstanden durch Begegnungen von Internationalistinnen in Rojava und in Zusammenarbeit mit der kurdischen Frauenbewegung in Deutschland. Im Folgenden drucken wir einen Ausschnitt ab. Das Interview wird in Kürze in voller Länge als Broschüre erscheinen.

Protest des HDP-Frauenrats in Ankara gegen die Angriffe des türkischen Staats auf die Frauenbewegung. | Foto: anfWir haben ja zuvor über einen neuen Internationalismus gesprochen, von der Notwendigkeit, uns in einer Vielfalt zu organisieren, die unsere Eigenheiten und Unterschiede bewahrt. Wie können wir diese Vielfalt organisieren? Wie können wir wir selbst sein (Xwebûn), ohne uns voneinander abzugrenzen? Wie können wir uns gemeinsam organisieren, ohne unsere Persönlichkeit zu verleugnen, zu vergessen oder zu verlieren?

Eines der Konzepte, das wir als Frauen am meisten diskutieren, ist das Konzept des Xwebûn (Selbstsein). Wir sprechen über die männliche Dominanz in der Geschichte der 5000-jährigen Kolonialisierung der Frauen. Das weibliche Geschlecht wurde in dieser patriarchalen Geschichte versklavt. Es wurde zu einer Kolonie der Männer gemacht. Wir diskutieren die gleichzeitig erste und letzte Kolonie, die Frau. Die Geschichte der Kolonisierung der Frauen verstehen wir umfassend und beschäftigen uns daher mit der Geschichte der Mythologie, der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft. Frauen waren in der Geschichte der Religionen zweimal einem sexuellen Bruch unterworfen – das erste Mal in der mythologischen Periode und das zweite Mal mit der Entstehung der monotheistischen Religionen. Sexueller Bruch bedeutet: die Vernichtung des freien Geistes in der weiblichen Persönlichkeit mit allen Mitteln anzustreben. Das Selbstvertrauen und die Willenskraft der Frau sollten vollständig gebrochen und vernichtet werden. Männer versklavten Frauen mit Methoden wie Lügen, Gewalt, Vergewaltigung und Mord. Vor diesem Hintergrund hat es in der Geschichte der Menschheit große Kriege gegeben. Frauen wurden versklavt und zur Kriegsbeute gemacht, und heute sind sie vollständig zur Ware geworden.

Auf einer solchen Grundlage wurden Weiblichkeit und Männlichkeit erschaffen. Die Lebensweisen, die Muster und Verhaltensweisen von Männlichkeit und Weiblichkeit haben sich herausgebildet. Von da an leisteten Frauen Widerstand gegen Sklaverei und Unterdrückung, bis heute. Wir alle müssen diesen Geist des Widerstands und der Freiheit wahrnehmen und erkennen.

Frauen haben in diesen Kämpfen bis heute immer wieder andere Methoden ausprobiert. Zum Beispiel dachten Frauen manchmal, sie könnten sich befreien, indem sie ihren Kampf wie Männer führen. Der männliche Charakter ist jedoch despotisch. Er ist der Freiheit gegenüber verschlossen. Es ist genau wie in der Praxis des Realsozialismus, als Sozialisten glaubten, sie könnten durch die Übernahme des Staates befreit werden. Jedoch sind es nicht der Staat und die Macht, die für die Völker und Frauen notwendig sind; es ist ein demokratisches, freies und ökologisches System. Für Frauen bedeutet das Verständnis von Gleichheit nicht, wie Männer zu sein. Männlichkeit zu reproduzieren, ist nicht Freiheit. Eine Gleichberechtigung sollte entwickelt werden, indem die Verschiedenheit der Frauen akzeptiert wird. Die Beziehungen zwischen Frauen und Männern sollten durch die Gewährleistung der Gleichberechtigung der Frauen verändert werden. Mit anderen Worten: Wir treten nicht dafür ein, dass Frauen dem heutigen Mann gleich werden. Wir meinen eine Lösung durch die Befreiung der Frau, die gleichzeitig die Befreiung und Veränderung der Männer beinhaltet ebenso wie eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Die Unterschiede dürfen nicht zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen. Als Frau im patriarchalen System geboren zu werden bedeutet jedoch, von Anfang an ungleiche Bedingungen zu haben. Auch unser Umgang mit Sexualität ist wichtig. Es ist keine Freiheit, eine Bedeutung zu erfahren, die von Denken und Geist losgelöst ist. Der am stärksten belastete Bereich in der 5000-jährigen Geschichte sind die sexuellen Beziehungen. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, die allein von Natur aus schon gelebt werden muss, hat sich in eine souverän-unterdrückte Herr-Sklavin-Beziehung verwandelt. Tatsächlich ist jede sexuelle Beziehung zu einer konsumbasierten Beziehung geworden, der Machtstrukturen innewohnen. In sexuellen Beziehungen sind die Machtverhältnisse selbstverständlich und unhinterfragbar geworden.

Daher ist die Persönlichkeit der Frauen historisch gesehen in allen Aspekten zu einer kolonialisierten Persönlichkeit geworden. Wie kann eine solche weibliche Realität im Xwebûn-Konzept aufgegriffen werden? Die Frau wurde von sich selbst entfernt, von ihrer Geschichte entfremdet; und im Namen der Liebe wird gelehrt, Sklavin des Mannes zu sein. Aus diesem Grund ist ein starkes Geschichtsbewusstsein und eine starke Organisation erforderlich, um Xwebûn umsetzen und entwickeln zu können.

Um Xwebûn zu erreichen, ist es wichtig, zuerst gegen das kapitalistische, patriarchale System zu sein. Eine Frau, die die bestehenden Lebensverhältnisse und Verhaltensmuster nicht in Frage stellt, kann nicht sie selbst sein. Sie muss die gegebenen Beziehungsmechanismen ablehnen. Sie muss mit dem männlich geprägten System, dem System der kapitalistischen Moderne, brechen. Als kurdische Frauenbewegung nennen wir dies entsprechend der Perspektiven unseres Vorsitzenden »Theorie der Loslösung«. Es ist unsere Ebene der autonomen Organisierung, die den heutigen Entwicklungsstand widerspiegelt. Mitte der 1990er Jahre strebten wir als Frauenbewegung in den kurdischen freien Bergen einen radikalen Bruch mit der vorherrschenden Männer- und Sklavinnenmentalität an. Es ging nicht nur darum, Beziehungen physisch abzubrechen, sondern eigene Lebensräume für Frauen zu schaffen, eigene Hauptquartiere und Akademien zu errichten und alle Bedürfnisse des Lebens aus eigener Kraft zu befriedigen. Da der physische Bruch jedoch auch eine symbolische Bedeutung hat, hat er unser Niveau des ideologischen Bruchs bereichert. Was wir hier zum Ausdruck bringen wollen, ist, dass alle Merkmale, Rollen, Denkweisen, Verhaltensweisen usw. der männlich dominierten Mentalität sowohl Frauen als auch Männer betreffen. Das Konzept Ehe muss ernsthaft hinterfragt und abgelehnt werden. Mit anderen Worten, es muss ein Verständnis von Freiheit und Mentalität geschaffen werden, das aus unserer Lebensweise entsteht. Was lehnen wir als Frauen ab? Was sind unsere Prinzipien? Wie leben wir? Wir stellen diese Fragen. Zum Beispiel haben wir als kurdische Frauenfreiheitsbewegung gewisse Ablehnungs- und Akzeptanzmaßstäbe, sowohl in unseren Beziehungen zu Männern als auch unter Frauen. Wir streben nicht nur nach der Befreiung eines Geschlechts, sondern wir streben nach der Befreiung der Gesellschaft. Unser Kampf ist also umfassend. In dieser Hinsicht sind Frauen radikale Revolutionärinnen. Damit die Vielfalt organisiert werden kann, müssen wir zuerst die Kultur der Demokratie in unseren Persönlichkeiten und in unserem gesellschaftlichen Umfeld entwickeln. Es ist wichtig, die Kultur jeder gesellschaftlichen Gruppierung zu respektieren, ihr zuzuhören und mit ihr zusammenzuarbeiten. Natürlich müssen die grundlegenden Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Demokratie unsere gemeinsamen Ziele sein. Mit anderen Worten, wir sollten in der Lage sein, zu sagen, welche Gruppierungen für eine Zusammenarbeit von größerer Bedeutung für uns sind.

Als Frauen müssen wir freie, kollektive, gleichberechtigte Werte verteidigen und entwickeln und uns gleichzeitig vor Ideologien, Lebensweisen, Gewohnheiten usw. hüten, die Machtstrukturen dienen, gegen die wir unbedingt kämpfen müssen. Wenn das Herrschaftssystem uns »Werte« aufzwingen will, z. B. egoistische, materialistische, antisoziale usw. Verhaltensweisen, so ist es notwendig, sich dagegen zu stellen.

Warum ist es so schwer, die Konkurrenz zwischen verschiedenen unterdrückten Gruppen zu überwinden (zum Beispiel in der Diskussion um Klasse, Herkunft/»race«, Geschlecht, die ja alle Bestandteil der herrschaftlichen/patriarchalen Wirklichkeit sind und miteinander konkurrieren werden, bis das herrschaftliche System an sich überwunden sein wird)? Wie schaffen wir es, Verschiedenheit nicht als Hindernis für eine gemeinsame Organisierung zu verstehen?

Wenn Differenz uns nicht zusammenbringt, sondern die Spaltung vertieft und Distanz zwischen uns erzeugt, bedeutet dies, dass es Machtverhältnisse gibt. Es ist sehr wichtig, die Perspektive, die Herangehensweise und die Lebensweise unseres Gegenübers zu analysieren, um uns selbst weiterzuentwickeln und zu verstehen. Wir werden in dieses System hinein geboren, wir werden durch seine Beziehungsformen und Institutionen ausgebildet und geformt. Es ist schwer, in der Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft Kollektivität zu leben. Die Machtverhältnisse und die Formung des Systems sind in den Eigenschaften enthalten, die uns voneinander trennen, die ­Distanz zwischen uns schaffen, uns klein machen und ein­engen, den Erfolg anderer neiden lassen und die Umwelt beherrschen wollen lassen. Wir können uns selbst erschaffen, indem wir bewusst dagegen kämpfen.

Jede Arbeit hat einen großen Wert im Kampf der Frauen. Frauen haben einen großen Verlust im Leben erfahren. Auch in den am weitesten entwickelten Ländern Europas gibt es heute noch keine Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, in welcher Hinsicht auch immer. Wie können wir unsere eigene Persönlichkeit respektieren und am Leben als wir selbst (Xwebûn) teilnehmen? Dies ist die Frage für deren Beantwortung alle Kämpfe ohne Unterschied für Frauen wichtig sind. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung, Armut, unsere Errungenschaften als Frauen auf dem Gebiet der Kultur und Kunst, der Kampf gegen souveräne Staaten und gegen Männlichkeit sind alle wichtig. Unterschiedlichkeit ist kein Hindernis. Sie ist ein Reichtum. Demokratie ist wie eine Familie, die für die Freiheit kämpft, jedes Mitglied erfüllt eine Aufgabe. Wenn es uns gelingt, Unterschiede als Reichtum und nicht als Barriere zu sehen, können wir zusammenarbeiten. Wir müssen den Individualismus in Europa überwinden. Wir müssen lernen, Selbstkritik zu üben. Wir sollten Kritik nicht als Anschuldigung, Verleumdung oder Abneigung empfinden. Wir müssen versuchen zu verstehen, indem wir anderen zuhören. Manchmal kann es Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen geben, aber wir sollten eine Beziehung deshalb nicht sofort abbrechen. Wir müssen uns gegenseitig mehr Chancen geben. Und wir sollten es schaffen, die Schwierigkeiten zu überwinden, die unser Zusammenleben behindern. Wir sollten in der Lage sein, uns selbst attraktiv zu machen. Schaut, die am stärksten zersplitterte Gesellschaft sind die Kurden. Aber wir können uns für das Ziel der Freiheit zusammenfinden. Deshalb sollten wir die Kultur des Lebens, die Kultur der Kommune entwickeln; wir müssen unsere eigenen Lebensräume schaffen. Wir müssen es schaffen, ein kreatives Leben innerhalb und jenseits des Staates und der Macht zu führen. Wir müssen versuchen, unsere eigene Wirtschaft aufzubauen, ohne auf staatliche Gehälter angewiesen zu sein. Wir sollten in unseren Beziehungen frei sein und uns nicht gegenseitig besitzen. Selbst wenn es um unsere Nächsten geht, sollte es uns nicht stören, sie zu teilen. Kurzum, es bedarf einer wirklich intensiven demokratischen Kultur. Gemeinsame Bildungen, Diskussionen, Kritik- und Selbstkritikplattformen sollten zuerst unter uns und in uns selbst und dann in der Zusammenarbeit mit anderen durchgeführt werden. Es sollte eine Kultur des Teilens entwickelt werden. Wir müssen daran arbeiten, eine neue alternative Persönlichkeit, eine alternative Lebenskultur zu entwickeln. Dazu kann die Mentalität der nahöstlichen Kultur betrachtet werden, zu der z. B. Nachbarschaft, Freundschaft und eine Kultur des Zusammenlebens gehören. Es gibt viele Dinge, die wir uns vom Mittleren Osten zum Beispiel nehmen können. Der Mittlere Osten und die westliche Kultur haben einander viel zu geben. Eine Synthese könnte eine Impulsgeberin sein, sie könnte bei der Lösung von Problemen hilfreich sein.

Das Wichtigste ist, nach Misserfolgen und Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Es ist falsch, sehr perfektionistisch vorzugehen. Betrachten wir uns zunächst einmal selbst: Sind wir perfekt? Nein. Aber wir versuchen immer, gute, schöne Revolutionärinnen zu sein, indem wir uns selbst bilden und verbessern. Dafür haben wir uns vom patriarchalen System abgewandt, das wir kritisieren. Aber wir wollen es ganz loswerden. Dafür sind Verständnis und Toleranz wichtig – um sich selbst und einander voranzubringen.

Das ist erreichbar. Dafür haben wir viele Beispiele. Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Loyalität und Zusammenhalt untereinander werden uns mit Sicherheit den goldenen Schlüssel zum Erfolg bringen und uns alle problematischen Türen öffnen.