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KR 228 | Juli/August 2023

Die Selbstkritik als Versprechen

  • Juli 2, 2023
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Ein autobiographischer Bericht aus der Zeit der Befreiung Rojavas Die Selbstkritik als Versprechen Barîn Kobanê

Ein autobiographischer Bericht aus der Zeit der Befreiung Rojavas

Die Selbstkritik als Versprechen

Barîn Kobanê

»So war es nicht nur der Kampf, sondern auch das gemeinsame Leben, in dem wir vieles lernten, was uns später vielerorts das Leben rettete.«

2012 war ein besonderes Jahr. Die Revolution in Rojava elektrisierte die kurdische Gesellschaft. Alle sprachen von Revolution und Freiheit. In dieser Zeit begann ich, mich bewusst zu politisieren. Zuvor war es vor allem meine Mutter, die mir das von klein auf vermittelt hat. Sie sprach immer von den Hevals, von der Freiheitsbewegung und von Kurdistan – sie verkörperte das, was wir unter welatparêz1 verstehen. Oft erzählte meine Mutter die Geschichte, wie sie sich, als Abdullah Öcalan noch in Damaskus war, auf den Weg zu ihm gemacht hatte. Viele Kurdinnen und Kurden waren damals nach Damaskus gefahren, um die Seminare zu hören und auch an den Diskussionen teilzunehmen. Als sie zurückkam, war sie immer noch so beeindruckt, dass sie für sich selbst beschloss, eines ihrer Kinder, wenn es groß genug sei, in die Bewegung zu schicken. Jahre später, als die Revolution begann, erfüllte ich also nicht nur mir, sondern auch ihr einen Traum, als ich beschloss, mich dem Aufbau und dem Kampf anzuschließen. Am liebsten hätte ich sofort eine Waffe in die Hand genommen und gegen die Islamisten gekämpft, aber die Hevals rieten mir, erst einmal andere Teile Kurdistans kennenzulernen und mich mit den Perspektiven auseinanderzusetzen, für die wir kämpfen. 2014 war es endlich soweit, und ich kehrte nach Rojava zurück, an den Ursprung der Revolution.

Als ich zurückkam, fiel mir als erstes auf, wie sehr sich Rojava verändert hat. In den zwei Jahren, in denen sich das syrische Regime zurückgezogen hatte und die Selbstverwaltung Stück für Stück aufgebaut wurde, waren weder das Land noch die Menschen so wie vorher. Alles war aufgeblüht wie ein trockener Baum, dem endlich wieder Wasser gegeben wurde. Es war fast unmöglich, sich diesem beeindruckenden Bild, das sich mir damals bot, zu entziehen. An die Stelle des Regimes waren die Menschen getreten und mit ihnen das Lachen in den Gesichtern der Menschen.

Als wir ankamen, war die Stadt Kobanê bereits befreit, und die Offensive »Şehîd Gelhat«2 – zur Befreiung der Dörfer um Kobanê – und die Offensive »Şehîd Rûbar Qamişlo« – zur Befreiung der Dörfer um Cizîrê – waren in vollem Gange, neigten sich aber langsam dem Ende zu. Wir waren alle angespannt und konnten es kaum erwarten, endlich an den Kämpfen teilnehmen zu können. Genau in der Nacht, in der uns mitgeteilt wurde, dass wir uns in Bewegung setzen würden, erreichte uns auch die gute Nachricht von der Befreiung Girê Spîs. Um die Befreiung der Kantone Kobanê und Cizîre zu feiern, beschlossen die Hevals, mit jeweils einer großen Gruppe von Kräften der Volksverteidigungseinheiten YPG und der Frauenverteidigungseinheiten YPJ aufeinander zuzugehen und dann mit einem Konvoi in Kobanê einzumarschieren. In diesem Zuge setzten auch wir uns in Bewegung und fuhren als Reserveeinheit nach Kobanê.

Rückkehr in das befreite Kobanê

Alle wollten das berühmte Kobanê sehen, die Stadt, die zum Symbol des Widerstands gegen die Islamisten wurde, nachdem sie befreit worden war. Alle – auch wir, die wir aus der Stadt kamen – fragten uns, wie es möglich war, dass in dieser kleinen Stadt ein so großer Widerstand geleistet werden konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir damals nach insgesamt fünf Stunden Fahrt endlich in der Stadt ankamen. Durch das »Viertel 48«3 kamen wir in die Stadt. Von der Stadt, die ich damals verlassen hatte, war nicht mehr viel zu sehen. Alle Häuser der Stadt waren zerstört, und in der Luft lag noch der beißende Geruch von Schießpulver. Als ich 2012 die Stadt verließ, hörte man überall die Schreie der Kinder und ihrer Mütter, jetzt war es still. Keine Wand war ohne Kampfspuren, überall waren Kugeln, Bomben oder Raketen eingeschlagen. Für fast jedes dieser Häuser hatten Hevals ihr Leben gelassen, der Boden fast jedes Hauses war getränkt mit dem Blut derer, die alles gegeben hatten, um die Stadt zu verteidigen. Nur wenige waren in der Stadt geblieben, nur vereinzelt waren Geschäfte geöffnet, aber nach und nach kehrten die Menschen zurück. Viele kamen über den Grenzübergang Murşîtpinar4 zurück.

Als wir in Kobanê eintrafen, wurden uns sofort unsere Einsatzorte zugewiesen, und so machte auch ich mich mit meinem Bataillon auf den Weg. Wir alle waren neu und unerfahren. Wir hatten noch nie in Kobanê gekämpft, und auch die Taktik des Kampfes in der Ebene an sich war für uns etwas Unbekanntes. Das wussten natürlich auch die Hevals vor Ort, und deshalb stellten sie uns neben das Bataillon Şehîd Xeyrî. Das war ein älteres und erfahreneres Bataillon, das vor allem in der mobilen und aktiven Kriegsführung viel Erfahrung hatte. Sie sollten uns anleiten, und so kam es, dass bei jeder unserer Aktionen eine Einheit von uns gemeinsam mit einer Einheit von ihnen kämpfte. Es war eine sehr wertvolle und wichtige Zeit, da jeder von uns die Möglichkeit hatte, sich persönlich im Verständnis von Angriff, Selbstverteidigung und allgemeiner Kriegstaktik im praktischen Sinne weiterzuentwickeln. Die Hevals an unserer Seite nahmen uns die Angst vor dem Unbekannten, vor den wilden Banden des IS. So war es nicht nur der Kampf, sondern auch das gemeinsame Leben, in dem wir vieles lernten, was uns später vielerorts das Leben rettete. Die Freundinnen und Freunde schilderten viele ihrer Erinnerungen aus dem Häuserkampf um Kobanê. Jede dieser Geschichten war wie eine kleine Bildungseinheit für uns.

Vorbereitung auf den Kampf

Wir befanden uns in einem Dorf, das die aktuelle Front und somit die Grenze zu den IS-Dschihadisten darstellte. Das einzige, was uns trennte, war ein kleiner Hügel, der es uns ermöglichte, die Umgebung strategisch zu kontrollieren. Die Hevals hatten einen schwierigen Kampf führen müssen, um diesen Hügel zu nehmen, aber dieser Standort war nicht sicher. Der IS konnte die Niederlage dort nicht akzeptieren und war sich der strategischen Position bewusst, weshalb seine Söldner ständig angriffen – der große Nachteil auf unserer Seite war, dass der Hügel nach allen Richtungen offen war und eine große Angriffsfläche bot, die mit begrenzten Ressourcen verteidigt werden musste. Unsere erste große Aufgabe war es, die Hevals oben auf dem Hügel abzulösen, also machten wir uns wie üblich mit einer Einheit des Şehîd-Xeyrî-Bataillons und einer unserer Einheiten auf den Weg. Ohne Probleme konnten wir den Hügel erreichen, die Hevals ablösen und Stellung beziehen. Sie warnten uns jedoch und machten uns erneut darauf aufmerksam, dass wir von allen Seiten angreifbar seien und wir – obwohl das Dorf Schutz bot – drei offene Flanken hätten.

Da der Hügel noch nicht so lange unter unserer Kontrolle stand, war es noch nicht möglich gewesen, wirklich ausreichende Verteidigungsstellungen zu schaffen. Es war daher unsere erste Absicht, diesen Mangel zu beheben. Es dauerte zwei Tage, aber wir schafften es, in mehreren kleinen Angriffen nicht nur umfangreiche Verteidigungsstellungen zu bauen, sondern auch einen Unterstand, der uns vor Mörserbeschuss und kleinen Raketen schützen sollte. Es hatte uns viel Kraft gekostet, und wir hatten kaum noch etwas zu essen. Nachdem es uns gelungen war, auf komplizierten Wegen Essen zu beschaffen und zuzubereiten, fielen wir nacheinander vor Erschöpfung um und schliefen sofort ein.

Erste Begegnung mit dem Feind

Der Heval neben mir, Heval Argêş, bestand darauf, also legte ich mich auch hin, während er die erste Wache übernahm. Es dauerte jedoch nicht lange, bis mich seine Stimme weckte. Man hörte an dem Zittern in seiner Stimme, dass er aufgeregt war. Sofort war ich hellwach. »Heval Barîn, wach auf! Der IS kommt. Sie sind schon ganz nah, und ich schaffe es nicht, die anderen zu wecken.« Es war mitten in der Nacht, und es war fast unmöglich, etwas zu sehen, also nahm ich meine Waffe und holte mein Nachtsichtglas heraus. Langsam schlich ich mich an den Rand des Hügels, um die Ebene abzusuchen. Wieder kam Heval Argêş. Es gelang ihm nicht, die Hevals zu wecken. Zwei Tage und zwei Nächte hatten sie nicht geschlafen, sondern in der glühenden Hitze gearbeitet. Sie waren in keinem zumutbaren Zustand. Ein weiterer Blick durch mein Fernglas zeigte mir die Gefährlichkeit der Lage. Der Feind war schon so nah, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich einen Stein auf sie hätte werfen können. Am einfachsten und effektivsten erschien es mir, Wasserflaschen zu nehmen und sie den Hevals ins Gesicht zu schütten. Anders schien es nicht möglich zu sein, sie innerhalb kurzer Zeit in Kampfbereitschaft zu versetzen. Sie waren so sehr am Ende ihrer Kräfte und das Leben an der Front noch so ungewohnt, dass sie zwar kurz aufwachten, aber nach mehreren wütenden Flüchen sofort wieder mit nassen Köpfen einschliefen.

Wir hatten keine Wahl mehr, Heval Argêş und ich wendeten uns ab und gingen allein in Stellung. Ich wartete, bis die Angreifer in Reichweite meiner Granaten kamen und sah, wie die dunklen Gestalten langsam, aber ohne zu zögern, auf uns zukamen. Ich konnte bereits erkennen, dass sie neben ihren leichten Waffen und Kalaschnikows auch ein MG PK5 mit sich führten. Also zog ich die Sicherung aus einer meiner Granaten, warf sie, und im Moment der Explosion eröffneten Heval Argêş und ich das Feuer. Obwohl wir ihnen den Überraschungseffekt nahmen, dauerte es nur Sekundenbruchteile, bis sie sich sammelten und das Feuer erwiderten.

Erst jetzt erwachten unsere Hevals, warfen sich sofort in die kurz zuvor errichteten Stellungen und griffen sofort ins Geschehen ein. Heval Argêş verließ seine Position und bahnte sich den Weg zu mir. »Oooch. Gut, dass du geschossen hast. Sonst hätte etwas passieren können, nichts hätte die Esel geweckt.« Ich tadelte ihn hierfür, war aber auch froh, dass die Hevals sofort Position bezogen hatten und wir Glück im Unglück hatten. Der Feind hatte wohl unsere Bauarbeiten der letzten Tage gehört und unsere Erschöpfung vermutet, aber unsere Vorbereitungen unterschätzt. Die Dschihadisten griffen aus den drei Flanken an, wovor uns die Hevals gewarnt hatten. An zwei Flanken hatten wir eine eng zusammengezogene Verteidigungslinie und an der dritten ein dichtes Netz von Minen und Sprengfallen. So konnten wir ihren Angriff schnell brechen und sie innerhalb einer Stunde zum Rückzug zwingen.

Kaum hatte sich der letzte von ihnen zurückgezogen, kamen die Hevals auf mich zu. Sie wollten endlich schlafen, aber ich machte ihnen klar, dass wir diese Nacht noch gemeinsam durchstehen mussten. Wir wussten, dass der IS oft in Wellen angreift, und es wäre fatal gewesen zu glauben, dass ein fehlgeschlagener Angriff das einzige wäre, was sie zustande bringen könnten. Das wussten die Hevals natürlich genauso gut wie ich. Deshalb gab es keine wirklichen Diskussionen und alle harrten bis zum Morgen in ihren Stellungen aus.

Wir haben schnell gemerkt, dass der IS uns hier nicht so schnell in Ruhe lassen würde. Kaum hatten sich die Dschihadisten zurückgezogen, beschossen sie unsere Stellungen mit Mörsern, später auch immer wieder mit schwerer Munition. Sie griffen bewusst unsere Psyche an und wollten uns zermürben. Das gelang natürlich nicht. Unsere Köpfe dröhnten schon so sehr, dass es nur noch schmerzte, aber wir konnten nichts tun, außer abzuwarten. Als aber die Angriffe immer heftiger und trotz unserer Stellungen immer gefährlicher wurden, fassten wir den Entschluss, uns in kleine Höhlen auf dem Hügel zurückzuziehen. Diese natürlichen Höhlen wurden von uns nur geringfügig ausgebaut. Wichtig war, dass der Feind nicht bemerkte, dass wir uns zurückgezogen hatten, sonst hätte er uns überrannt und einen nach dem anderen getötet. Nur Heval Serhed blieb als erste Wache zurück. Er war den schweren Geschützen und Mörsern ausgesetzt, aber die noch größere Gefahr waren die feindlichen Scharfschützen, die nur darauf warteten, dass jemand seinen Kopf aus einem der Schützengräben hob. Genau davor warnten wir Heval Serhed eindringlich, bevor wir uns zurückzogen. Aber Heval Serhed war ein sehr nervöser und neugieriger Freund. Er konnte sich nicht zurückhalten und hob seinen Kopf, um die Bewegungen der feindlichen Linien zu beobachten. Der Feind hatte nur darauf gewartet, und es dauerte nicht lange, bis einer seiner Scharfschützen einen Schuss abfeuerte.

Er hat den Angriff glücklicherweise überlebt und war nur verletzt. Er funkte uns sofort an. Ich ging unverzüglich zu ihm und sah zum ersten Mal einen Heval mit einer solchen Kopfverletzung. Er lag in seinem eigenen Blut. Vor Panik liefen mir sofort die Tränen über die Wangen, denn ich hatte Angst, dass er direkt vor meinen Augen sterben würde. Mit zitternden Händen versuchte ich, seine Wunde notdürftig zu verbinden, ohne ihm noch mehr Schmerzen zuzufügen. Wir mussten ihn sofort wegbringen. Heval Serhed sah, dass wir uns große Sorgen um ihn machten und schämte sich dafür. Um das zu überspielen, redete er mit uns und machte trotz seiner Verletzung Späße mit uns. Wir hatten Glück, dass ein Auto in der Nähe war und wir ihn in ein nahegelegenes Krankenhaus bringen konnten.

Auswertungen der ersten Kampferfahrungen

Mit der Zeit wurde es fast zur Gewohnheit, dass der IS uns Nacht für Nacht angriff, aber wir konnten ihn auch Nacht für Nacht zurückschlagen. Sie gaben nicht auf, waren aber nicht sehr kreativ. Mit der Zeit lernten wir ihre Strategien kennen, wussten, wann sie am ehesten angreifen würden und von wo aus sie versuchen würden, den Hügel zu stürmen.

Vier Tage nachdem wir Heval Serhed ins Krankenhaus gebracht hatten, sahen wir ein Auto der Hevals kommen. Es konnte zwar nicht sehr nah an uns herankommen, aber wir sahen, wie ein Heval aus dem Auto sprang und geduckt auf uns zukam. Erst als er schon einige Meter vor uns war, erkannten wir ihn, es war Heval Serhed. Es war eine große Freude für uns und besonders für mich, ihn zu sehen. Aber ich war auch sehr überrascht, wie das möglich war. Ich lief ihm entgegen und musste auch lächeln, als ich sein lächelndes Gesicht unter dem bandagierten Kopf sah. Ich begrüßte ihn und fragte ihn direkt: »In welchem Zustand kommst du zu uns zurück?« Heval Serhed schaute mich etwas verdutzt an und antwortete dann lachend: »Was soll ich sagen Heval Barîn, ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich wollte nicht mehr nur rumsitzen. Ich musste die im Krankenhaus fast zwingen, mich gehen zu lassen, und die Hevals, die mich abgesetzt haben, hatten eigentlich eine ganz andere Route. Ich habe nicht einmal unsere anderen Hevals aus dem Bataillon besucht.«

Natürlich berührte mich das, aber ich konnte nicht guten Gewissens einen frisch verwundeten Heval an die Front schicken. Das sagte ich ihm auch direkt. Auch die anderen Hevals unterstützten mich in meiner Meinung. Aber Heval Serhed war ein Sturkopf, wir konnten ihn nicht überzeugen, und zwingen konnten wir ihn auch nicht. Also blieb er bei uns. Zum Glück dauerte es nur wenige Tage, bis unsere Einheit abgelöst und durch eine frische ersetzt wurde.

In unserem Bataillon hatten die Hevals schon einige Vorbereitungen für uns getroffen. Nachdem wir uns alle hingelegt hatten, weckten sie uns und wir sahen, dass sie für uns gekocht hatten. Endlich waren, wir die Müdigkeit los. Langsam tauten alle auf, und beim Essen standen Geschichten und Witze im Vordergrund. Einige der Hevals hatten wir schon lange nicht mehr gesehen, und so war es eine große Freude, einmal in Ruhe zusammenzusitzen und sich einfach nur zu unterhalten.

Erneutes Massaker des IS

Ein paar Tage vergingen, es war der 25. Juni, die heißeste Zeit des Sommers. Alle suchten nach Möglichkeiten, sich irgendwo zurückzuziehen, um wenigstens etwas Abkühlung zu bekommen, da kam plötzlich unsere Leitung: »Die IS-Banden sind in Kobanê eingefallen und richten ein Massaker unter der Bevölkerung an. Macht euch bereit, ihr geht nach Kobanê!« Sofort sammelten wir uns, ordneten unsere Sachen, machten uns bereit und begaben uns auf den Weg in die Stadt.

Es ging nicht direkt nach Kobanê, sondern in das davor liegende Dorf Berxbotan. Dort waren die IS-Dschihadisten zuerst eingedrungen. Einige waren noch im Dorf, als wir ankamen. Sie hatten 23 Zivilist:innen ermordet und dabei keinen Unterschied gemacht, ob sie Kinder, Frauen oder Männer töteten. Die Dorfbewohner:innen haben uns zunächst mit großem Misstrauen empfangen, da die IS-Söldner zuvor mit der Kleidung unserer Hevals der YPG und der Asayîş6 ins Dorf gekommen waren. Die Leute hatten sie deshalb als Hevals begrüßt, waren dann aber überrumpelt worden. Die IS-Terroristen gingen von Haus zu Haus und schossen auf alles und jeden.

Jedoch öffneten sich die Dorfbewohner:innen uns gegenüber schnell und halfen uns herauszufinden, wo sich die IS-Söldner versteckt oder Stellung bezogen hatten. So konnten wir gemeinsam mit ihnen das Dorf schnell wieder sichern. Natürlich waren wir froh, dass es uns gelungen war, die Dschihadisten ohne Verluste zu töten, aber glücklich waren wir nicht. Wir sahen uns um, sahen Kinder, vor deren Augen ihre Mütter getötet worden waren, sahen auch die Leichen von ermordeten Kindern. Aus einer Familie hatte nur ein Kind überlebt, das sich verstecken konnte. Als wir an dem Haus vorbeikamen, kam gerade die Tante des Kindes und nahm es in ihre Arme. Unter Tränen erzählte sie uns, was geschehen war.

Bei diesem Angriff der IS-Banden waren im Dorf Berxbotan 23 und im Stadtzentrum von Kobanê insgesamt 210 Zivilist:innen getötet worden. 273 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Auch 14 Mitglieder der Asayîş, eine Freundin von TEV-DEM7, sowie eine Freundin dDie Stadt Kobanê ist in mehrere nummerierte Viertel unterteilt und wird von zwei großen Straßen durchschnitten.er Jugendbewegung Rojavas waren ums Leben gekommen. Von den insgesamt 100 IS-Söldnern konnten nur 7 entkommen.

Es war ein großer Schock. Die Stadt Kobanê, in der schon so viel Blut vergossen worden war, sollte nicht zur Ruhe kommen. Es gab Familien, die nun nicht nur bei der Verteidigung, sondern auch bei diesem erneuten heimtückischen Massaker Angehörige verloren hatten. Gerade weil wir, bzw. auch ich, aus dieser Gesellschaft kommen, konnten wir den Schmerz der Väter und Mütter von Kobanê gut nachempfinden. Wir waren der Verantwortung, die wir uns selbst auferlegt hatten – die Menschen in Kobanê zu schützen – nicht gerecht geworden. Wir waren nicht da, als sie uns brauchten. Wir haben diesen Fehler gesehen und uns dementsprechend selbstkritisch gegenüber der Bevölkerung gezeigt. Die wichtigste Konsequenz der Selbstkritik war für uns das Versprechen an die Bevölkerung, Kobanê vollständig vom IS zu befreien. Wir sind als Bataillon noch eine ganze Weile in der Region geblieben, um einerseits Sicherheit und StaDie Stadt Kobanê ist in mehrere nummerierte Viertel unterteilt und wird von zwei großen Straßen durchschnitten.bilität herzustellen, andererseits aber auch, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen und sie auch in ihrem Alltag zu unterstützen.

Planung der Gegenoffensive

Die Hevals begannen eine neue Offensive zur Befreiung von Sirînê zu planen und beschlossen, unser Bataillon mit einzubeziehen. Um uns darauf vorzubereiten, fand eine große Versammlung statt, in der uns der Plan der Offensive vorgestellt wurde und wir unsere Absprachen dazu trafen. Nach der großen Besprechung trafen wir uns noch einmal auf der Ebene unseres Bataillons, um die Einteilung der Einheiten und Teams festzulegen, so dass wir schnell einsatzbereit waren. Als Bataillon hatten wir bis dahin viele anstrengende, aber auch schöne Tage erlebt. Gemeinsam haben wir an vielen Aktionen und Operationen teilgenommen, bei denen auch viele Hevals an unserer Seite gefallen sind. Wir wussten, dass gerade bei der Offensive um Sirînê damit zu rechnen war, dass der IS alles daran setzen würde, sich nicht einfach zurückzuziehen. Dementsprechend wussten wir auch, dass einige von uns dabei ihr Leben lassen würden. Trotzdem haben wir uns nicht unterkriegen lassen. Die Stimmung und Moral im Bataillon war gut. Auch wenn es schwer zu ertragen war, die Hevals um sich herum zu verlieren, waren wir bereit, weiter für sie zu kämpfen. Denn wir wussten genau, für welche Werte wir standen, für welche Freiheit wir kämpften. Als wir uns trennten, um unsere Positionen zu beziehen, flossen viele Tränen. Es waren nicht nur Tränen der Trennung, sondern auch Tränen der Sehnsucht nach Freiheit. Wir stellten uns in einer Reihe auf, und eine Einheit nach der anderen verabschiedete sich. Man wünschte einander viel Erfolg, und schon waren wir auf dem Weg.

Kurze Zeit später, wir waren noch nicht sehr weit gekommen, erfuhren wir, dass Heval Welat und mit ihm weitere Hevals gefallen waren. Als ich das hörte, musste ich sofort an unsere Gespräche über Amed denken. Es war, als würde er neben mir sitzen, mich ansehen und sagen: »Heval Barîn, vergiss nicht. Wenn wir Kobanê von diesen Banden befreit haben, werden wir uns eines Tages nach Amed wenden und auch dort, auf den alten Türmen der Stadt, die Fahne der Befreiten hissen.« Mir war, als würden seine Worte noch in meinen Ohren klingen. Ich fragte mich, wie viele unserer Hevals diese Träume in ihren Herzen trugen und wann sie bereit sein würden, sie mit uns zu teilen. Im Stillen gab ich mir damals das Versprechen, mich für die Verwirklichung von Heval Welats Traum einzusetzen. Koste es, was es wolle.

Taktik des Feindes – Einsatz von Antipersonenminen

Die Offensive zur Befreiung der Stadt Sirînê wurde fortgesetzt, und es gelang uns, Schritt für Schritt voranzukommen. Der Feind nutzte alle erdenklichen Möglichkeiten und Taktiken, um unseren Vormarsch zu verlangsamen und Zeit zu gewinnen. Dabei setzte er vor allem auf das Auslegen von Antipersonenminen. Auch der Ort, an dem wir uns befanden, war voll davon. Wir kannten ihre Minentaktik schon von früheren Offensiven, aber das war nichts im Vergleich zu Sirînê. Alles schien verkabelt.

Mit einigen Hevals bildeten wir die Vorhut. Wir kontrollierten die Umgebung, um den nachfolgenden Hevals ein sicheres Durchkommen zu gewährleisten und achteten dabei besonders auf Minen. Da entdeckte ich direkt vor mir eine gut getarnte Mine. Ich blieb ruhig und drehte mich zu den Hevals um, um sie darauf aufmerksam zu machen. Doch als ich mich umdrehte, sah ich sofort die nächste Mine neben mir. Auch hinter mir lag eine Mine, die ich übersehen hatte. Entweder hatte ich sie um Millimeter verfehlt oder sie war defekt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass wir mitten in ein Minenfeld gelaufen waren und jeder Schritt in eine Richtung der letzte sein könnte. Neben und hinter mir war der Rest der Vorhut. Sofort rief ich ihnen zu, keinen Schritt näherzukommen. Der Feind hatte sich zwar aus diesem Gebiet zurückgezogen, aber mit einem feinen Netz aus scheinbar unsichtbaren, dünnen Drähten hatte er uns eine heimtückische Falle gestellt.

Ich hatte meine Warnung noch nicht zu Ende gesprochen, da explodierte die erste Mine. Gleich darauf die zweite, die dritte und die Kettenreaktion war ausgelöst. Ich nahm nur noch das Geräusch einer großen Explosion wahr, das mir in den Ohren klingelte. Ohne zu wissen, was passiert war, sackte ich zu Boden.

Mein Kopf drehte sich, mir war schwindelig, mein Magen schien sich zu drehen, und es gelang mir nicht, die Augen zu öffnen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich konnte nichts hören und nichts sehen. Überhaupt nahm ich nichts wahr. Sofort griff ich mir ins Gesicht und zog erschrocken meine feucht gewordenen Hände zurück. Im Bewusstsein, dass ich im Gesicht verwundet worden war, verlor ich wegen des hohen Blutverlusts das Bewusstsein. Als ich später wieder aufwachte, war ein Heval an meiner Seite. Er sagte mir, dass ich im Krankenhaus sei. Die Binde über meinen Augen bestätigte, was ich befürchtet hatte. Ich hatte am ganzen Körper Verwundungen davon getragen, welche größtenteils verheilen würden, doch meine Augen waren verloren.

 

Fußnoten

1   »Welatparêz« setzt sich aus den kurdischen Wörtern »welat« für Land oder Heimat und »parastin« für verteidigen zusammen. Es wird vor allem für die Menschen verwendet, die ihr Land lieben und es gegen Kolonialisierung und Ausbeutung verteidigen. Es bedeutet auch, eine Verbindung zur eigenen Geschichte zu haben und zur Kultur des Ortes oder der Gemeinschaft, aus der eine Person kommt. Im Gegensatz zu Patriotismus ist es verbunden mit Internationalismus, was bedeutet, dass die Kämpfe und die Verteidigung des Landes niemals zu Lasten oder im Ausschluss anderer Orte oder anderer
Gesellschaften gehen.

2   Offensiven der YPG und YPJ werden i.d.R. Gefallenen aus den eigenen Reihen gewidmet, wie auch oftmals die Einheiten nach ihnen benannt werden.

3   Die Stadt Kobanê ist in mehrere nummerierte Viertel unterteilt und wird von zwei großen Straßen durchschnitten.

4   Eine der großen Gefahren für Kobanê ist der unmittelbar am Rande der Stadt befindliche Grenzübergang Murşîtpinar, der in die Türkei führt. Während der Kämpfe haben von dort aus immer wieder Angriffe auf Kobanê stattgefunden, und auch der IS ging immer wieder über die Grenze, um sich neu zu formieren, sich auszuruhen und um sich versorgen zu lassen.

5   Beim MG PK handelt es sich um ein leichtes Maschinengewehr des Kalibers 7,62 mm x 54 mm nach sowjetischem Entwurf, das bis heute in sehr vielen Kriegsgebieten weltweit eingesetzt wird. In Kurdistan wird es auch Biksi genannt.

6   Asayîş stammt aus dem Kurdischen und bedeutet »Sicherheit«. Mit Asayîş sind im Kontext der Revolution in Rojava und damit der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens die Kräfte der inneren Sicherheit gemeint, die sich vor allem aus Menschen zusammensetzen, die selbst in den Gebieten leben, in denen sie aktiv sind.

7   Die Tevgera Civaka Demokratîk – TEV-DEM (dt. Bewegung der demokratischen Gesellschaft) wurde 2011 gegründet, um das demokratische System der Kommunen und Räte in Rojava aufzubauen. Mit der Entstehung der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens hat sich die Rolle der Bewegung gewandelt, da diese Aufgabe von der Selbstverwaltung übernommen wurde. Seit 2018 gilt TEV-DEM als Dachorganisation der Zivilgesellschaft, insbesondere für Gewerkschaften und andere Institutionen. TEV-DEM fungiert somit als Gegenmacht zur Autonomieverwaltung, um die Entstehung staatsähnlicher Strukturen zu verhindern und den demokratischen Konföderalismus zu fördern.


 Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023