Der Spezialkrieg des Maya-Zuges: Megaprojekte im Krieg gegen die Indigenen Mexikos
April 7, 2025
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Victor, Recherche AG Verrat, der nicht zugibt, Verrat zu sein, kann nur durch eine Armee der Schmetterlinge bekämpft werden. Eine Pyramide aus Pappmaché Der Süden Mexikos ist
Victor, Recherche AG
Verrat, der nicht zugibt, Verrat zu sein, kann nur durch eine Armee der Schmetterlinge bekämpft werden.
Eine Pyramide aus Pappmaché
Der Süden Mexikos ist präsent im Zentrum des Landes, inmitten der Hauptstadt, auf dem zentralen Zócalo Platz vor dem Präsidentenpalast. Im Juli stand dort eine riesige Maya-Pyramide aus Pappmaché, beleuchtet mit mythischen Symbolen und dem Gesicht eines jungen Mannes. Die Pyramide ist Teil einer staatlich organisierten Lichtshow, beworben unter dem Titel ›Die Maya und Felipe Carrillo Puerto‹. Die Ankündigungsplakate zeigen diesen Felipe inmitten des traditionellen, kleinbäuerlichen Anbausystems der Milpa, mit einem Schild zwischen den Maispflanzen, auf dem der Slogan »Tierra y Libertad« (Land und Freiheit) des Revolutionärs Emiliano Zapata und der heutigen Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) zu lesen ist. Letztere ließen die Pappmaché-Propaganda nicht unbeantwortet:
Dies ist der Indigenismus in Mexiko: Er stellt eine Simulation aus Pappmaché als Hommage an eine weit entfernte (und durch die offiziellen Geschichtswissenschaften manipulierbare) Vergangenheit dar und besteht aus tausenden, durch die jeweiligen Regierungen »verwalteten« Ungerechtigkeiten gegen die Pueblos originarios der Gegenwart. Für die Regierungen sind die Pueblos originarios der Rohstoff zur Herstellung »historischer« Alibi-Geschichten.¹
2024 benannte die mexikanische Regierung das ganze Jahr offiziell nach dem auf die Pyramide projizierten Mann, der sich als Gouverneur von Yucatán zwischen 1922 und 1924 um die »Aussöhnung« der weißen Yucatecos mit den Maya bemühte. Doch nicht allein der breiten Bevölkerung wird er auf großer Leinwand als Vorbild für das »Schätzen der indigenen Kultur« präsentiert. Auch in akademischen Kreisen begannen Lobeshymnen auf den ermordeten Sozialisten – nicht, ohne ihn in direkte Verbindung mit den aktuellen Megaprojekten des politischen Projektes der »Vierten Transformation« zu setzen:
Die von Felipe Carrillo geförderten Züge und Autobahnen und der Tren Maya der aktuellen Regierung sind sich sehr ähnlich. Der Versuch, in Yucatán eine andere Art von Tourismus zu entwickeln, nicht Spring Breakers, nicht nur Sonnen- und Strandtourismus, sondern Kulturtourismus, der sich für die Umwelt und die Maya-Gemeinschaften interessiert, ist etwas, das Carrillo Puerto im Sinn hatte, und wenn er die vier Jahre hätte regieren können, die ihm zustanden, so hätte er das stark gefördert. Es gibt also Analogien zwischen damals und heute.²
Dies sind die Worte Armando Bartras, eines bekannten Soziologen der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko. Seine hier zitierten Sätze stellen gleichsam Folge und Produktion eines Spezialkrieges dar, genauso wie die Papp-Pyramide auf dem Zócalo. Vor 30 Jahren war Bartra, wie viele heutige Unterstützer:innen des Tren Maya oder des Interozeanischen Korridors, ein entschiedener Gegner der Megaprojekte im Süden des Landes. Mit dem Beginn der sich selbst als »links« und »progressiv« bezeichnenden MoReNa-Regierung (2011 gegründete Partei Movimiento Regeneración Nacional) im Jahr 2018 (damals unter dem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, seit 2024 unter der ersten Präsidentin Mexikos, Claudia Sheinbaum) befürworten sie plötzlich eine ›territoriale Neuordnung‹, die einen Krieg gegen die Ökosysteme und indigenen Gemeinden des Südostens bedeutet. Auch in der Gesamtbevölkerung genießen die Vorhaben der MoReNa eine hohe Zustimmung. Dabei unterscheiden sie sich kaum von Vorschlägen der rechts-konservativen Regierungen der Vergangenheit. Allein der Diskurs, die Vermarktung des alten kolonialen, kapitalistischen Megaprojektes, hat sich verändert – mit Erfolg.
Tren Maya und Interozeanischer Korridor – koloniale Interessen und Widerstand
Der Tren Maya verbindet die fünf südlichsten Bundesstaaten Mexikos (Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo) auf einer Strecke von rund 1500 Kilometern und ist vor allem für seine touristische Funktion bekannt. Das Projekt ziele in erster Linie darauf ab, die karibische Riviera Maya mit den Maya-Stätten im Regenwald zu verbinden (Kurdistan Report berichtete mehrmals, u.a. im KR 228). Im Dezember 2018 begannen die Arbeiten am Tren mit einem vorgeblichen Maya-Ritual, bei dem der Präsident ›Mutter Erde‹ um Erlaubnis für den Bau bat. Bezeichnenderweise fand diese Zeremonie nicht auf der Erde selbst statt, sondern auf bereits gegossenem Beton. Zwölf ethnische Maya-Gruppen waren anwesend, jeweils eine Person – ob diese ihre Gemeinden vertraten, ist umstritten. Die nationale und internationale Wirkung blieb jedoch nicht aus, die Botschaft war klar: ein Projekt mit und für indigene Gemeinschaften der Region, fast ein Triumph der Dekolonialisierung: Ein Ritual der Pueblos originarios leitet ihren Fortschritt ein – das Ende ihres Vergessenwerdens durch den Staat. Im Dezember 2023, genau fünf Jahre nach dem durchgeführten Maya-Ritual, wurde der erste Abschnitt des Zuges eingeweiht – und vom Papst gesegnet: Die Gouverneurin des Bundesstaates Quintana Roo reiste mit zwei Angehörigen indigener Gemeinschaften in den Vatikan und überreichte dem Stellvertreter Gottes auf Erden ein Modell des Präsidenten-Zuges. Die vermeintliche Unvereinbarkeit einer Maya-Zeremonie und einer päpstlichen Segnung für dasselbe Projekt aufzulösen, das ist der Diskurskrieg der aktuellen progressiven Regierung.
Im September 2024 dann verabschiedete sich der populäre Präsident López Obrador mit der Einweihung weiterer Abschnitte seines prestigeträchtigen Projekts in der Nähe der Kleinstadt Felipe Carrillo Puerto aus dem Amt. Begleitet wurde er dabei nicht von Mayas, sondern von Gouverneuren, Militärs und Unternehmensvertretern. Währenddessen verlasen einige Mayas aus Felipe Carrillo Puerto in Quintana Roo ihre eigene Abschiedskarte an den scheidenden Präsidenten. Darin stellten sie das Projekt als einen weiteren Schritt in Richtung der internen Kolonialisierung dar:
Unsere Völker haben sich in diesen Gebieten seit jeher um die Mutter Erde gekümmert: die Urwälder, die Wälder, das Wasser, den Wind, das Meer. Diese Orte sind heilig und stärken unsere Spiritualität und unsere Lebensweise. Die Regierung von Obrador behauptet unter dem Vorwand des »Fortschritts« und der »Entwicklung«, dass endlich eine Regierung den Blick auf den Süden und Südosten Mexikos gewendet hat, dass wir uns nun wirklich entwickeln werden, dass wir mit dem Maya-Zug und dem Interozeanischen Korridor aus der Armut herauskommen werden, aber wir protestieren, weil sie ihren Blick nur auf dieses Territorium geworfen haben, um es auszurauben und zu zerstören mit ihren Zügen, Gaspipelines, Hotels, Immobilienprojekten und Industrieparks.³
Dies sind die Worte der Nachkommen jener Rebell:innen, die sich bereits vor Jahrhunderten einer militarisierten Prozession widersetzten: Im Kastenkrieg (1847-1901) lehnten sich die Maya auf der Halbinsel Yucatán gegen ihre Versklavung in den Monokultur-Haciendas auf. Sie erkämpften eine Autonomie, die so lange andauerte, dass das Gebiet, welches heute als Quintana Roo durch seine Tourismus-Metropole Cancún bekannt ist, erst Jahrzehnte später in den mexikanischen Föderalstaat aufgenommen wurde. Als man im Jahre 2024 den 120. Jahrestag des neuen Bundesstaates beging, legten die noch immer rebellierenden Maya und die Nachkommen der Kasten-Krieger:innen, die im Centro Comunitario U kúuchil k Ch›i›ibalo›on organisiert sind und sich als Teil der Kampagne El Sur Resiste gegen den Tren Maya und den Interozeanischen Korridor aussprechen, die ›Erklärung zum Völkermord in Quintana Roo‹ vor:
In den 1880er Jahren begann die Regierung [des Generals und Diktators Porfirio Díaz] mit der entscheidenden Attacke gegen die Rebellen, um die militärische Besetzung und wirtschaftliche Integration der Halbinsel zu erreichen. Zwischen 1896 und 1899 versuchten Unternehmer und die Bundesregierung, das Vorzeigeprojekt des „Fortschritts“ der damaligen Zeit zu entwickeln: eine Eisenbahn, die durch die aufständische Hauptstadt führen und Peto mit der Ostküste der Halbinsel verbinden sollte. Die Strategie war zunächst militärisch und dann wirtschaftlich: Die militärische Kampagne sollte gleichzeitig mit dem Bau der Eisenbahnstrecken voranschreiten: Die Abholzung für die Strecke im dichten Dschungel bedeutete, den Militärs den Weg zu ebnen, während der Zug anschließend Rohstoffe abtransportieren sollte, vor allem das wertvolle Holz. Das Projekt war ein Misserfolg. Ein Jahrhundert später jedoch wird erneut eine Eisenbahn gebaut, die man nun ›Maya‹ nennt. Ähnlich wie der Zug von damals ist der Tren Maya heute für den militärischen Vormarsch und die territoriale Neuordnung konzipiert. Die erwarteten Auswirkungen sind katastrophal und drohen, die völkermörderische Praxis vollständig in die Tat umzusetzen: Die Neuordnung Südmexikos bedeutet nicht nur die Auslöschung der Lebensweise eines Volkes, sondern das endgültige Vergessen ihrer Geschichte durch die Verfälschung von Erinnerung und Kultur.⁴
Der Tren Maya – ein Militärzug
Wie vor einem Jahrhundert ist auch der heutige Tren Maya ein Militärzug; die Armee baut und verwaltet ihn und erhält die Gewinne aus seinem Betrieb. Und die ›territoriale Neuordnung‹ beschränkt sich nicht auf Landraub, Umweltzerstörung und Kommerzialisierung der Maya-Kultur durch Massentourismus, den die neue mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum Anfang 2025 erneut ankündigte (»Wir werden den Maya-Zug zum größten Reiseziel der Welt machen …«). Wie vor einhundert Jahren unter Porfirio Díaz ist es vor allem die Integration der autonomen Maya-Territorien in den globalen Kapitalismus, welche die indigenen Gemeinschaften und einzigartigen Ökosysteme bedroht: »… und außerdem werden wir ihn auch zu einem Güterzug machen, um den Warentransport zu stärken«. Die einstige Rebellenhauptstadt Noj Kaaj Santa Cruz Xbalam Naj heißt heute Felipe Carrillo Puerto. Der erste Militärzug wurde hier von den Rebellen der Maya-Armee aufgehalten. Im Jahr 2023, während der Karawane El Sur Resiste, sagten sie uns:
Die territoriale Neuordnung Südmexikos (Geocomunes)
Schaut, ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass diese Überreste, die ihr seht, Teil des alten Militärzuges sind. Dies war die Lokomotive, die Porfirio Díaz bauen ließ. Wozu? Um der mexikanischen Armee Transport- und Versorgungsmöglichkeiten zu bieten und um das Holz zu gewinnen, das dort abgebaut wurde. Dieser Zug wurde von unseren Großvätern in die Luft gesprengt, weil er genau das bedeutete: Plünderung, Ausrottung, Verfolgung. Und als die Regierung 1915 beschloss, den Maya diesen Ort zurückzugeben, gehörte zu den Dingen, die wir taten, die Sprengung der Überreste des Zuges.⁵
Aber wo man heute noch seine rostigen Einzelteile sehen kann, scheint das neue Projekt der derzeitigen mexikanischen Regierung erfolgreich voranzuschreiten.
Die Überreste des alten Zuges von Porfirio Díaz rosten in Felipe Carrillo Puerto, während die Karawane El Sur Resiste 2023 an ihnen vorbeizieht.
Für Sheinbaum ist es ein ›Symbol der Vierten Transformation‹, unter dessen Etikett die Regierung ihre angeblich national-progressive Politik vermarktet, mit dem wiederholten Slogan: »Primero los Pobres« (Zuerst die Armen). Es ist kein Zufall, dass der Maya-Zug das ›Symbol‹ dieser ›Transformation‹ ist. Maderas del Pueblo del Sureste A.C., eine NGO, die in der Landenge von Tehuantepec Widerstand gegen die Megaprojekte leistet, ist sich sicher, dass seine ständige Priorisierung in der internen und externen Propaganda auch dazu dient, die Aufmerksamkeit von einem anderen ›Megaprojekt‹ abzulenken, das im Schatten des Maya-Zuges reist, aber weniger leicht als »grün und sozial« oder harmloses »Tourismusprojekt« zu verkaufen ist. Obwohl der Tren Maya mit dem Interozeanischen Korridor im Isthmus von Tehuantepec (kürzeste Landverbindung zwischen dem Golf von Mexiko und dem Pazifik) verbunden ist, wird letzterer in der Tat wenig thematisiert und ist international weniger bekannt. Doch erst wenn man den Zug und den Korridor gemeinsam betrachtet, wird die Dimension der Neuordnung Südmexikos deutlich, genauso wie die ihr zugrundeliegenden geopolitischen Interessen.
Der Korridor im Schatten des Zuges – ein gefährliches Ganzes
Beide Vorhaben teilen auch gemeinsame Wurzeln. Und es ist diese ›Geschichte von unten‹, die von den Maya in ihrer Erklärung zum Völkermord dargelegt wird, welche die Spezialkrieg-Behauptungen der neuen ›fortschrittlichen‹ Regierung, nach denen »endlich jemand die Armen im Südosten unterstützt, die in der Vergangenheit [sic] des Neoliberalismus vergessen wurden«, als Lüge entlarvt. Bereits 1996 hatte die NGO Maderas del Pueblo ein ›Megaprojekt‹ im Isthmus von Tehuantepec kritisiert und es als ›Mord‹ an Mutter Natur, den indigenen Völkern und der nationalen Souveränität angeprangert. Man bezog sich auf den ›multimodalen Trockendurchgangskanal‹ zwischen Salina Cruz am Pazifik (Oaxaca) und Coatzacoalcos am Atlantik/Golf von Mexiko (Veracruz), den der damalige Präsident Ernesto Zedillo vorangetrieben hatte. Der Kanal sollte von einem Industriekorridor begleitet werden, der heute weiterhin eine einzigartige Region bedroht: Als schmalste Stelle zwischen den Ozeanen ist der Isthmus von Tehuantepec ein ›Gürtel‹ Mexikos, an dem sich die nördliche und die südliche Hemisphäre Amerikas treffen. So wurde das Territorium zu einer Brutstätte der (Bio-)Diversität: Neben einzigartigen Küstenregionen mit Mangrovenwäldern und ausgedehnten Lagunensystemen beherbergt der Isthmus die Selva de los Chimalapas, den Urwald mit der größten Artenvielfalt des Kontinents. Die Wälder und Küsten sind dort am intaktesten, wo die indigene Bevölkerung noch nach ihrer traditionellen Lebensweise lebt: die Huave (verwenden als Eigenbezeichnung Ikoots) in den Lagunen in der Nähe von Salina Cruz oder die Zoque, Chinantecos und Mixtecos in den Chimalapas. Hier leben auch Zapoteken, Chontalen, Tzotzilen, Mixen, Popolucas, Nahuas und die afromexikanische Bevölkerung; insgesamt sind 13 verschiedene indigene Gruppen von dem Korridor bedroht. Das Territorium der indigenen Völker, der Isthmus, war aufgrund seiner strategisch bedeutsamen Lage zwischen den Ozeanen schon seit Jahrhunderten imperialen Eroberungsversuchen ausgesetzt. 1907 gelang es schließlich dem mexikanischen Diktator und General Porfirio Díaz, einen Handelskorridor zwischen den Ozeanen zu eröffnen. 1907 wurde die von englischen Firmen vorangetriebene Interozeanische Eisenbahn eröffnet und bis zur Einweihung des Panamakanals sieben Jahre später zu einer Ader des Welthandels.
Über viele Jahrzehnte wurde der Handelskorridor für den Welthandel auf dem Isthmus von Tehuantepec geplant: manchmal als Kanal für Schiffe, manchmal für die Eisenbahn oder, wie in diesen Plänen von 1888 und 1950, für Schiffe auf Schienen (Collage Recherche AG).
1914 verlor die Eisenbahn von Porfirio Díaz ihre Bedeutung. 1978 allerdings schlug der damalige mexikanische Präsident José López Portillo mit dem ›Plan Alpha Omega‹ erneut die Eröffnung eines globalen Handelskorridors zwischen Coatzacoalcos (Alpha) und Salina Cruz (Omega) vor. Auch dieser Plan wurde nie verwirklicht, aber er sollte wenige Jahre später in noch größerem Umfang wieder aufgenommen werden: Insbesondere Präsident Ernesto Zedillo stieß mit seinem ›Programm zur integralen Entwicklung des Isthmus von Tehuantepec‹ auf den Widerstand der lokalen Bevölkerung: Im März 1996 präsentierte er mehr als nur einen Handelskorridor zwischen den Ozeanen: Es waren zehn ›Projekte zur Förderung des Isthmus‹ die diesen von Grund auf verändern sollten. Neben dem ›multimodalen Projekt‹ für Eisenbahnen, Straßen und Häfen sollten Investitionen in die petrochemische Industrie getätigt, Industrieparks, insbesondere für die Automobilindustrie, gebaut, agroindustrielle Projekte gefördert und auch die Erdölförderung angestrebt werden. Es war ein Megaprojekt von gigantischen Ausmaßen. Doch ein entschiedener Kampf auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene verhinderte den ›Korridor des Todes‹: Im August 1997 erklärten Hunderte von Gemeinden, Organisationen, NGOs, Akademiker:innen und Gewerkschafter:innen auf dem nationalen Forum El Istmo es nuestro (Der Isthmus gehört uns), dass sie das Gebiet von Matías Romero aus verteidigen würden. Auch die PRD (Partido de la Revolución Democrática, deutsch: Partei der demokratischen Revolution) unterstützte die Bewegung – eine progressive Partei, die gegen die regierenden, rechtskonservativen Kräfte der PRI und PAN triumphieren wollte.
Heute, weniger als 30 Jahre nach dem Protestforum in Matías Romero, stehen genau hier die neuen Züge des Interozeanischen Korridors, gegenüber dem alten Zug von Porfirio Díaz, wie von Zedillo geplant. López Obrador, der in den 1990er Jahren noch der Chef der PRD war und die Proteste gegen das zerstörerische Megaprojekt des Isthmus unterstützte, setzte schließlich den neoliberalen Plan um, an dem seine Vorgänger scheiterten (Vicente Fox im Jahr 2002 im Rahmen des Puebla-Panama-Plans und Enrique Peña Nieto im Jahr 2016 mit seiner Sonderwirtschaftszone des Isthmus).
Für diejenigen, die sich entschieden für die Verteidigung des Isthmus und des gesamten Südens Mexikos einsetzten, war dieser Verrat vorhersehbar. Doch selbst sie wurden vom Ausmaß des neuen neoliberalen Attentats überrascht: Hafen- und Schienenausbau, Raffinerien und 14 geplante Industrieparks, Bergbau und Monokulturen, Immobilienprojekte und Energieparks bedrohen durch die Ausweitung der ›Industriezone‹ auf die Bundesstaaten Tabasco und Chiapas nicht nur im ›Isthmus von Tehuantepec‹ eine größere Region – mit der Anbindung des ›Korridors‹ an den Tren Maya greift der koloniale Kapitalismus auch nach den einstigen Autonomieregionen auf der Yucatán-Halbinsel.
Nunmehr im Jahr 2025 konkretisiert sich die geplante Ausweitung des Tren Maya bis nach Guatemala. Vor allem ein auf dem Verfälschen der Geschichte basierender ›Diskurskrieg‹ der ›4T‹ führt dazu, dass die aktuelle Regierung auf viel weniger Widerstand gegen ihren Korridor und den Tren Maya stößt als ihre Vorgänger mit sehr ähnlichen Projekten.
Die NGO Maderas del Pueblo beispielsweise beklagt, dass von den 300 Personen und Organisationen, die die Kampagne El Istmo es nuestro beim Treffen 1996/1998 unterstützt hatten, nur ein Bruchteil den Widerstand fortsetzt, obwohl der Isthmus durch die neuen Angriffe der alten Megaprojekte stärker denn je gefährdet ist:
Von denjenigen, die an der [damaligen] Widerstandsversammlung teilgenommen haben, sind 20 Prozent tot, als Personen oder Organisationen, 1 Prozent kämpft immer noch wie verrückt, und die große Mehrheit unterstützt jetzt den Interozeanischen Korridor von López Obrador und die 4T und damit genau das Projekt, das sie zu einem anderen Zeitpunkt abgelehnt haben.⁶
»Sie haben ihre Masken abgelegt«, sagt Miguel Ángel García Aguirre, der allgemeine Koordinator von Maderas del Pueblo. Heute wird das ehemalige Kolonisationsprojekt als »sozial und ökologisch« verkauft, vor allem durch die riesigen Wind-, Solar- und Wasserstoffparks zur »grünen Energiegewinnung«, als eine Maßnahme nicht gegen, sondern für die Umwelt, und als kapitalistischer Vorstoß nicht gegen, sondern »mit und für« die indigene Bevölkerung. In Wirklichkeit profitieren neben Militär und organisierter Kriminalität vor allem auch transnationale Großkonzerne, die einen Spezialkrieg auf globaler Ebene anführen.
Ein Turm aus Glas
Im Jahr 2021 standen Delegierte des Nationalkongresses der Indigenen aus Mexiko vor dem DB-Tower in Berlin und protestierten gegen die Beteiligung der Deutschen Bahn am Tren Maya. »In euren Waggons fährt die Auslöschung unserer Völker mit«, riefen sie in Richtung des ›Bahntowers‹, der gläsernen Hochhaus-Konzernzentrale der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz.
2024, genau drei Jahre später, standen Vertreter:innen der brasilianischen Initiative Gerechtigkeit auf Schienen vor dem DB-Tower. Sie protestierten gegen eine geplante Beteiligung der Deutschen Bahn am Projekt Grão-Pará Maranhão. Auch hier sollen Regenwald, Mangroven und Korallen einem Tiefseehafen und Schienen weichen, um Mineralien aus riesigen Minen und Soja aus riesigen Monokulturen nach Europa und in die USA zu verschiffen. Beiden Protestgruppen antworteten aus dem DB-Hochhaus heraus leuchtende Buchstaben: »Klimaschutz kann auch einfach sein«. Die simple Botschaft: Fahrt ihr mit dem Zug, rettet ihr das Klima.
Nicht einmal dieses Versprechen stimmt: Noch heute verwendet die DB auch Strom aus Kraftwerken wie Datteln IV, in dem vor allem ›Blutkohle‹ aus den größten Minen Kolumbiens verbrannt wird. Die indigene Bevölkerung wird vertrieben und angegriffen. Genauso die Quilombola-Gemeinden in Maranhão. Dennoch wird man auf der kommenden Weltklimakonferenz COP30 im November 2025 im brasilianischen Belém, ganz in der Nähe des neu geplanten Tiefseehafens, die EU-Investitionen in das Megaprojekt als »grün« darstellen: Schließlich soll von dort aus auch Wasserstoff nach Europa transportiert werden.
Auf dieselbe Art werden die Windparks im Isthmus von Tehuantepec als »nachhaltig« verkauft, obwohl sie die indigene Bevölkerung ihrer Lebensweise berauben und einzigartige Ökosysteme zerstören, während der produzierte Strom in urbane Zentren oder die neuen Industrieparks fließt. Ähnliche koloniale Windparks stehen in der besetzten Westsahara. Ihr Strom wird auch zum Abbau von Phosphat in großen Minen benötigt. Das größte Lieferband der Welt bringt den Rohstoff an die Atlantikküste, wo er unter anderem nach Coatzacoalcos verschifft wird, dem Hafen des Interozeanischen Korridors. Dort kann er zu giftigem Dünger verarbeitet werden, den ein Tren Maya in Zukunft bis auf die neuen Monokulturen der Selva Maya transportieren kann. Dass es dazu wirklich kommen kann, ist Folge eines Spezialkrieges, der sich in allen benannten Kontexten (ob der Tren Maya in Mexiko, die Windparks in der Westsahara oder der Tiefseehafen in Brasilien) aus drei Ebenen zusammensetzt:
1.) Die Fortführung der Ungerechtigkeit der Geschichte gegen indigene Bevölkerungsgruppen (Landraub, Autonomieraub, Eingliederung als billige Lohnarbeitskraft oder Vertreibung) wird als Wiedergutmachung dargestellt (Strom für die arme Bevölkerung vor Ort, Anbindung an die neue Infrastruktur, Bewahren und Wertschätzen ihrer Kultur). Das Verschwinden ihrer Geschichte wird als Ende ihres »Vergessen-seins« vermarktet.
2.) Die lokalen, zerstörerischen Folgen des »grünen Kapitalismus«, etwa der kolonialen Windparks, werden verschwiegen – und gleichsam:
3.) Die globalen Zusammenhänge zwischen ihnen.
Nur aus diesem Dreierschritt heraus kann der Werbespruch »Klimaschutz kann auch einfach sein« geboren werden.
Der Süden Mexikos ist weit entfernt vom Zentrum des Landes, die Papp-Pyramide ist Propaganda eines Spezialkrieges. Sie blendet die Geschichte der Milpa aus, sie verschweigt die lokalen Folgen der Megaprojekte, und sie verschweigt die Verbindung zu weiteren Papp-Pyramiden in anderen Teilen der Welt, denen sie viel näher ist als der Yucatán-Halbinsel. Der ›DB-Tower‹ am Potsdamer Platz ist so eine Papp-Pyramide.
Collage: Die Pyramide auf dem Potsdamer Platz (Recherche AG): Ein verdutzter, fragend die Hände hebende Felipe auf der Papp-Pyramide am Potsdamer Platz, dort, wo eigentlich der DB-Tower steht.
¹ EZLN: „Supongamos, sin conceder…“, in: encalezapatista, (Online, (2024), https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2024/08/02/supongamos-sin-conceder/. ² Ángel Vargas: „Enaltece Armando Bartra la revolución cultural que emprendió Carrillo Puerto”, in: La Jornada, (Online), (2024), https://www.jornada.com.mx/noticia/2024/01/15/cultura/enaltece-armando-bartra-larevolucioncultural-que-emprendio-carrillo-puerto-6943. ³ Sur Resiste: “Boletin de prensa 24 de septiembre 2024. El Sur Resiste siembra la vida. Frente a los trenes de muerte, la vida existe porque resiste”, in: elsurresiste.org, (Online), (2024), https://www.elsurresiste.org/es/posts/boletin-de-prensa-24-de-septiembre-2024. ⁴ CNI; “Declaración del genocidio quintanarroense. La destrucción parcial del pueblo maya rebelde y las memorias de la la autonomía” in: congresonacionalindigena.org, (Online), (2024), https://www.congresonacionalindigena.org/2022/11/15/declaracion-del-genocidio-quintanarroense-la-destruccion-parcial-del-pueblo-maya-rebelde-y-las-memorias-de-la-autonomia/. ⁵ Recherche AG, neuer Report 2025 (noch unveröffentlicht, ab Sommer 2025 abrufbar und frei zugänglich unter deinebahn.com ⁶ Diese Erklärungen basieren auf den Konferenzen der Veranstaltungsreihe der Recherche AG, Maderas del Pueblo, Centro Comunitario U kúuchil k Ch’i’ibalo’on und Festivales Solidarios – „Dialoge und Debatten über den Kapitalzug und seine Megaprojekte“, 2024 in Mexiko-Stadt.
Das Titelbild in voller Größe: Der (Diskurs-)Krieg des Maya-Zuges (Collage der Recherche AG; mit Virginie)