Soziologie der Freiheit – Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Abdullah Öcalan
In den letzten Ausgaben des Kurdistan Reports haben wir angefangen, Texte aus dem Kapitel «Die gesellschaftliche Frage» in Band 3 der «Gefängnisschriften – Manifest der demokratischen Zivilisation»von Abdullah Öcalan abzudrucken. Wir begannen mit »Das Problem von Macht und Staat« und »Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik sowie »Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft«. In Ausgabe 235 fuhren wir mit »Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft« und in 236 mit »Das Industriealismusproblem der Gesellschaft« fort. In dieser Ausgabe präsentieren wir den sechsten Teil des Kapitels: »Das Ökologieproblem der Gesellschaft«.
Die Industrialismusfrage ist offensichtlich sowohl Teil der Ökologiefrage als auch ihre Hauptursache. Aus diesem Grund kann die separate Behandlung dieser Frage eine gewisse Wiederholung mit sich bringen. Allerdings geht die Bedeutung von Ökologie als eines problematischen gesellschaftlichen Themas über die des Industrialismus hinaus. Auch wenn der Begriff mit Umweltwissenschaft gleichbedeutend ist, handelt es sich dabei um eine Wissenschaft, die das enge Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und der Umwelt analysiert. Umweltfragen wurden größtenteils erst nach Katastrophenalarmen auf die Tagesordnung gesetzt und in ein separates Untersuchungsfeld verwandelt, wenn auch mit heiklen Bedeutungen. Denn auch die Ökologie ist, genauso wie der Industrialismus, keine von der Gesellschaft geschaffene Frage, sondern steht als jüngstes Werk der Zivilisationsmonopole in Form eines äußerst komplexen Problems auf der Agenda von Geschichte, Gesellschaft und der ganzen Welt.
Vielleicht war bisher keine andere Frage im Sinne der Enthüllung des wahren Gesichts der Profit- und Kapitalordnungen (organisierte Netzwerke) so wichtig und schwerwiegend wie die ökologische. Die Bilanz des Zivilisationssystems des Profits und des Kapitals (als Summe aller militärischen, wirtschaftlichen, religiösen und Handelsmonopole in der Geschichte) ist nicht nur die Auflösung der Gesellschaft in jeglicher Hinsicht (Moral- und Politiklosigkeit, Arbeitslosigkeit, Inflation, Prostitution usw.), sondern die Gefährdung der Umwelt samt dem Leben aller Lebewesen. Wie könnten wir die Gesellschaftsfeindlichkeit des Monopolismus beweisen, wenn nicht durch diese Tatsache?
Selbst wenn die menschliche Gesellschaft im Vergleich zu allen anderen Lebewesen als die höchste Natur bezüglich der Intelligenz und Flexibilität anerkannt wird, ist sie in letzter Instanz auch ein lebendiges Wesen. Ihre Heimat ist die Erde, das heißt, sie ist das Produkt eines empfindlichen klimatischen Umfelds und der Evolution der Pflanzen- und Tierwelt. Die Regelmäßigkeiten, denen die Atmosphäre und das Klima unserer Erde und die Tierwelt unterliegen, gelten ebenfalls für die menschliche Gesellschaft, da sie die Summe von alledem ist. Diese Regelmäßigkeiten sind sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie hängen eng miteinander zusammen. Sie bilden nahezu eine Kette. So wie eine Kette funktionsuntüchtig wird, wenn eines ihrer Glieder abbricht, so sind auch die Auswirkungen auf die Evolution unumgänglich, wenn eines der wichtigen Glieder der Evolutionskette zerbricht. Ökologie ist die Wissenschaft dieser Entwicklungen und deshalb sehr wichtig. Wenn die innere Ordnung der Gesellschaft aus irgendeinem Grund zerstört wird, kann sie mit menschlicher Anstrengung wieder neu hergestellt werden. Schließlich ist die gesellschaftliche Realität eine, die von Menschenhand stammt. Bei der Umwelt verhält es sich anders. Wenn einige Gruppen, die ihre Wurzeln in der Gesellschaft haben, genauer gesagt sich mithilfe des Profit- und Kapitalmonopols über der Gesellschaft organisieren, aus der sie stammen, das Herausbrechen von wichtigen Gliedern der Umweltkette bewirken sollten, könnten evolutionäre Katastrophen in einer Kettenreaktion zum Untergang der ganzen Umwelt und dadurch auch der Gesellschaft führen.
Man sollte nicht vergessen, dass die Glieder der Umweltkette durch eine Evolution entstanden sind, die Millionen Jahre dauerte. Die Zerstörungen der letzten fünftausend Jahre im Allgemeinen, der letzten zweihundert Jahre im Besonderen schafften es in dieser kurzen Zeitspanne, Tausende Glieder der Millionen Jahre alten Entwicklungskette herauszureißen. Die zerstörerische Kettenreaktion ist bereits losgetreten und es ist nicht abzuschätzen, wie sie aufzuhalten sein wird. Es wird prognostiziert, dass die Atmosphäre von der aktuellen Luftverschmutzung durch Kohlendioxid und andere Abgase nicht einmal in Hunderten, ja sogar Tausenden von Jahren gereinigt werden könnte. Die Folgen der Zerstörungen in der Pflanzen- und Tierwelt sind vielleicht noch nicht ganz offen zutage getreten. Klar ist aber, dass der Hilferuf dieser beiden Welten zumindest genauso laut ertönt wie der der Atmosphäre. Die Meeres- und Flussverschmutzung und die zunehmende Wüstenbildung stehen bereits heute an der Schwelle zur Katastrophe. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass nicht die Störung der natürlichen Ordnung, sondern einige in Netzwerken organisierte Gruppen den Untergang der Gesellschaft herbeiführen werden. Selbstverständlich wird auch die Natur Antworten auf diese Entwicklung haben, denn auch sie ist lebendig und intelligent. Auch ihre Geduld hat Grenzen. Am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt wird sie Widerstand zu leisten wissen und dabei nicht auf die Tränen von Menschen achten, denn sie wird sie alle dafür verantwortlich machen, dass sie ihre Talente und die von der Natur geschenkten Werte verraten haben. War nicht der jüngste Tag so vorgesehen?
Ich will an dieser Stelle keine neuen Katastrophenszenarien entwerfen, sondern lediglich wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch, gemäß unserer Verantwortung und unserem Verständnis von moralischen und politischen Aufgaben als unserem Daseinsgrund, entsprechend unserer Fähigkeiten das Notwendige sagen und tun.
Über das Schicksal der Nimrods und Pharaonen in der Menschheitsgeschichte, die sich in ihre Burgen und Pyramiden zurückgezogen haben, wird viel erzählt. Der Grund dafür ist offensichtlich. Schließlich stellten die Nimrods und Pharaonen sowohl als Einzelpersonen als auch als Ordnungen Monopole dar, die Träger göttlicher Ideen waren. Ja, sie waren die prächtigsten Exemplare der stets profitorientierten Kapitalmonopole im Altertum. Wie sehr sie den gegenwärtigen Monopolen ähneln, die sich in ihre Wolkenkratzer zurückziehen! Natürlich gibt es zwischen ihnen formale, wenn auch nicht wesentliche Unterschiede. Die Burgen und Pyramiden können trotz ihrer ganzen Pracht nicht mit den heutigen Wolkenkratzern mithalten. Zudem können sie mit ihnen zahlenmäßig überhaupt nicht mithalten. Die Anzahl aller Pharaonen und Nimrods überstieg nicht einmal ein paar Hundert, aber die der zeitgenössischen Pharaonen und Nimrods beläuft sich wohl auf Hunderttausende. Die Menschheit konnte in alten Zeiten die Last von ein paar Nimrods und Pharaonen nicht ertragen. Sie ächzte sehr. Wie lange wird sie denn noch die Last von Hunderttausenden ertragen, die die Zerstörung der Umwelt und der Gesellschaft herbeiführen? Wie wird sie die Schmerzen lindern, die die ganzen von Pharaonen und Nimrods verursachten Kriege, Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut erzeugen?
Mit den Worten, dass die geschichtliche Gesellschaft eine Totalität bildet, versuchte ich diese Tatsache auch im Lichte der evolutionären Entwicklung auszudrücken. Sind es denn keine ungeheuerlichen und wichtigen Tatsachen?
Die Wissenschaft der kapitalistischen Moderne mit ihrer positivistischen Struktur hatte ein sehr großes Selbstvertrauen. Sie hielt große phänomenale Entdeckungen für alles. Sie glaubte, die absolute Wahrheit beschränke sich auf das oberflächliche Wissen über die Phänomene. Sie war sich sicher, dass man in einen Prozess des endlosen Fortschritts eingetreten war. Wie sollte man aber beurteilen, dass sie die Umweltkatastrophe, die sich direkt vor ihrer Nase ereignete, nicht voraussagen konnte? Wie sollte man beurteilen, dass sie angesichts der ganzen gesellschaftlichen Katastrophen, vor allem der Kriege, der letzten vier Jahrhunderte keine gründlichen Lösungen entwickeln und umsetzen konnte? Was sollte man dazu sagen, dass sie den Krieg, der als Macht alle Poren der Gesellschaft durchdrungen hat, nicht richtig feststellen und schon gar nicht verhindern konnte? Offenbar hätte im Zeitalter der maximalen Hegemonie der Monopolherrschaft die Wissenschaft mit ihrer, im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Glauben, der ideologischen Umzingelung am meisten ausgesetzten und dem System bestens dienenden Struktur diese Fragen nicht beantworten können. Es hat sich gezeigt, dass die Wissenschaft, deren Struktur, Zweck und Modus erklärterweise die Legitimation des Systems zum Ziel haben, nicht einmal so wirksam ist wie Religionen. Allerdings sollte man auch begreifen, dass es keine nicht-ideologische Wissenschaft geben kann. Das Wichtigste ist, dass man erkennt, die Ideologie welcher Gesellschaft und welcher Klasse sie als Wissen und Wissenschaft ist, und man seine Haltung dementsprechend bestimmt. Wenn Ökologie als eine der neuesten wissenschaftlichen Disziplinen in diesem Rahmen ihre Position bestimmt, kann sie die ideale Lösungskraft nicht nur der Umwelt, sondern auch der gesellschaftlichen Natur werden.