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Sowohl Ende als auch Neubeginn

Sowohl Ende als auch Neubeginn

Songül Karabulut, Mitglied des Nationalkongress Kurdistan (KNK) | Der 12. Kongress der PKK als ein historischer Schritt in Richtung Frieden und demokratische Gesellschaft

Aktuelle politische Lageanalyse

Songül Karabulut, Mitglied des Nationalkongress Kurdistan (KNK)

Vom 5. bis 7. Mai 2025 fand der 12. Parteikongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. Zur Überraschung vieler wurden auf diesem Kongress die Auflösung der PKK sowie das Ende des bewaffneten Kampfes beschlossen. Im Folgenden werden wir versuchen den Hintergrund und die politische Tragweite dieses historischen und zugleich mutigen Beschlusses zu analysieren.

Am 1. Oktober 2024, während der Parlamentseröffnung nach den Sommerferien, ging der Vorsitzende der Nationalistischen Volkspartei MHP Devlet Bahçeli auf die DEM¹-Fraktion zu und reichte ihren Mitgliedern die Hand. Diese Geste war von großer symbolischer Bedeutung und entging niemandem. Die Spekulationen, ob eine neue »Friedensphase« im Gange sei, bestimmte die Tagesordnung der Medienlandschaft, denn die MHP ist sozusagen ein Synonym für ultranationalistische Kurdenfeindlichkeit. Einige Monate zuvor hatte Bahçeli noch das Verbot der DEM-Partei gefordert und sie als terroristisch bezeichnet. Bisher hatte die MHP stets eine politische Lösung der kurdischen Frage abgelehnt und aktiv verhindert. Seit dem 1. Oktober 2024 ist ein Sinneswandel bei Bahçeli zu beobach­ten. Nur einige Tage später äußerte er sich zu seiner Geste während der Parlamentseröffnung wie folgt:

»Ich ging zu den Reihen der DEM-Fraktion und reichte ihnen meine Hand. Die Hand, die ich ausstreckte, ist die Botschaft unserer nationalen Einheit und Brüderlichkeit. (…) Es ist ein Vorschlag an die Partei (gemeint ist die DEM, Anm.d.Ü.) zu einer Partei der gesamten Türkei zu werden und uns in nationaler Einheit zu vereinen. Wir strecken unsere Hand nicht zufällig, spontan und grundlos aus. Die Verantwortung der DEM besteht darin, den Wert der ausgestreckten Hand zu erkennen und sie als Schwelle zu verstehen.«²

Am 15. Oktober rief Bahçeli während einer Rede vor der MHP-Fraktion den Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan dazu auf, die PKK aufzulösen und den bewaffneten Kampf einzustellen. Sollte das geschehen, könne Öcalan im türkischen Parlament eine Rede halten und sich legal-politisch betätigen. Auch sprach er sich für das Recht auf Hoffnung³ für Öcalan aus, sollte er seinem Aufruf folgen. Er sprach von einem Paradigmenwechsel des Staates auf der Grundlage der Neugestaltung der Beziehungen zwischen dem türkischen Staat und dem kurdischen Volk.

Noch im selben Monat konnte am 23.10.2024 der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan seinen Onkel auf der Gefängnisinsel İmralı besuchen. Damit endete die mehr als 4-jährige Totalisolation Rêber Apos⁴. Mit diesem Besuch sollte er die Möglichkeit bekommen, sich zu dem Aufruf Bahçelis zu äußern. Er ließ die ausgestreckte Hand nicht unbeantwortet. Über seinen Neffen ließ er die folgende Botschaft an die Öffentlichkeit vermitteln: »Die Isolation geht weiter. Wenn die ­Bedingungen ent­stehen, habe ich die theoretische und praktische Kraft, ­diese Phase von der Grundlage des Konflikts und der Gewalt auf eine rechtliche und politische Grundlage zu lenken.«

Die wichtige Rolle der DEM-Partei

Damit ergriff Rêber Apo die gegebene Chance. Bahçeli sprach sich öffentlich dafür aus, dass in dieser Phase mit Öcalan direkt kommuniziert werden solle und gab damit auch der DEM-Partei eine wichtige Rolle. Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder, zwei DEM-Abgeordnete, die auch beim vorherigen Friedensprozess in den Jahren 2013 bis 2015 involviert gewesen waren, wurde der Besuch auf İmralı genehmigt. Diese DEM-Delegation pendelte von nun an zwischen Rêber Apo, den politischen Parteien, der kurdischen Bewegung und Südkurdistan hin und her. Sie teilte auch der Öffentlichkeit die Botschaft Rêber Apos mit. Dieser schrieb Briefe an die DEM-Partei, die PKK, die Frauenpartei PAJK, die kurdische Bewegung in Europa und Rojava. Die Antworten auf die Briefe, die positive Haltung der politischen Parteien im türkischen Parlament und ihre Bereitschaft diese Phase zu unterstützen veranlassten Rêber Apo einen Schritt weiter zu gehen.

Nur vier Monate später, am 27. Februar, veröffentlichte er auf İmralı den historischen »Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft«, in der er die PKK zur Auflösung und zur Beendigung des bewaffneten Kampfes aufrief. Am Tag der Verlesung der Deklaration auf der Gefängnisinsel İmralı waren neben Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder auch die Co-Vorsitzenden der DEM-Partei Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan, Ahmet Türk (der abgesetzte Bürgermeister von Mêrdîn) und die Anwälte Cengiz Çiçek und Faik Özgür Erol anwesend. Die Erklärung wurde per Video aufgenommen. Die Hoffnung auf eine Liveübertragung der Erklärung oder zumindest auf die Ausstrahlung eines Videos erfüllte sich nicht. Stattdessen wurde noch am Tag der Rückkehr der Delegation von İmralı am Abend eine Pressekonferenz in Istanbul einberufen. Die Erklärung wurde in türkisch und kurdisch verlesen. Es konnte jedoch nur ein Foto Rêber Apos, das ihn bei der Verlesung der Deklaration zeigt, präsentiert werden.

Rêber Apo begründete seinen Aufruf an die PKK folgendermaßen: »Die PKK wurde im 20. Jahrhundert gegründet, in der gewalttätigsten Epoche der Menschheitsgeschichte mit zwei Weltkriegen, im Schatten der Erfahrung des Realsozialismus und des Kalten Krieges auf der ganzen Welt. Die völlige Leugnung der kurdischen Realität, die Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten – insbesondere der Meinungsfreiheit – spielten eine bedeutende Rolle bei ihrer Entstehung und Entwicklung. Die PKK stand hinsichtlich ihrer angenommenen Theorie, ihres Programms, ihrer Strategie und ihrer Taktik unter dem starken Einfluss der Realitäten des Jahrhunderts und des Systems des Realsozialismus. In den 1990er Jahren führten der Zusammenbruch des Realsozialismus aufgrund interner Dynamiken, die Auflösung der Leugnung der kurdischen Identität im Land und Verbesserungen der Meinungsfreiheit zu einer Schwächung der grundlegenden Bedeutung der PKK und zu einer übermäßigen Wiederholung. Wie ihresgleichen hat auch sie ihre Lebensdauer erreicht – dies erfordert eine Auflösung.«⁵

Ein Satz, der nicht auf dem Papier stand, aber mündlich mitgeteilt wurde, formulierte die Bedingungen zur Umsetzung des Aufrufs an die Bewegung: »Zweifellos erfordern die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der PKK in der Praxis eine demokratische Politik und die Anerkennung der juristischen Grundlage.«

Die PKK vollzieht erste Schritte

Am 1. März erklärte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand als Zeichen des guten Willens. Vom türkischen Staat gab es darauf keine offizielle Antwort. Schließlich wurde vom 5. bis zum 7. Mai in den Verteidigungsgebieten der Guerilla der 12. Parteikongress der PKK parallel an zwei unterschiedlichen Orten abgehalten. In der Presseerklärung war von insgesamt 232 teilnehmenden Delegierten beim Kongress die Rede. Verschiedene Vertreter:innen der PKK erklärten im Vorfeld, dass nur ihr Vorsitzender Öcalan den Kongress einberufen und nur mit seiner Teilnahme die entsprechenden Beschlüsse gefasst werden könnten. Nur er könne die Parteimitglieder von diesem Schritt überzeugen. Die Co-Vorsitzende der KCK⁶, Besê Hozat, erklärte später gegenüber dem TV-Sender Medya Haber, der Vorsitzende Abdullah Öcalan habe auf indirekte Weise den Kongress einberufen und geleitet. Es ist die Rede davon, dass er sich schriftlich an dem Kongress beteiligt habe. Am 12. Mai wurde die Abschlusserklärung des Kongresses veröffentlicht. Darin heißt es:

»Der außerordentliche 12. Kongress der PKK kam zu der Einschätzung, dass der Kampf der PKK die Politik der Leugnung und Vernichtung gegenüber unserem Volk durchbrochen und die kurdische Frage an den Punkt geführt hat, an dem sie auf demokratischem Wege gelöst werden kann – und dass die PKK damit ihre historische Mission erfüllt hat. Auf dieser Grundlage beschloss der 12. PKK-Kongress, unter der Leitung und Durchführung durch Rêber Apo den organisatorischen Aufbau der PKK aufzulösen und den bewaffneten Kampf zu beenden – und damit die unter dem Namen PKK geführten Aktivitäten einzustellen (…) Die Entscheidung unseres Kongresses, die PKK aufzulösen und die Methode des bewaffneten Kampfes zu beenden, schafft eine starke Grundlage für dauerhaften Frieden und eine demokratische Lösung. Die Umsetzung dieser Entscheidungen erfordert, dass Rêber Apo den Prozess führen und lenken kann, das Recht auf demokratische Politik anerkannt wird und eine umfassende, rechtsverbindliche Absicherung gewährleistet ist.«⁶

Die PKK wurde am 27. November 1978 gegründet. Im Vorfeld wurde am 21. März 1973 ein erstes organisatorisches Treffen abgehalten, die erste Gruppe wurde gebildet. Daher spricht Rêber Apo von der 52-jährigen Geschichte der PKK. Sie strebte ursprünglich einen sozialistischen, unabhängigen kurdischen Staat an, in dem alle vier Teile Kurdistans vereint werden sollten. Nur zwei Jahre nach der Gründung kam es in der Türkei am 12. September 1980 zu einem Militärputsch. Damit wurde dem politischen Kampf die Grundlage entzogen. Die PKK nahm daher offiziell am 15. August 1984 den bewaffneten Kampf auf. Sie schaut also auf 52 Jahre Parteigeschichte und auf 41 Jahre Geschichte des bewaffneten Kampfes zurück.

Während die Kurd:innen zu der Zeit der Gründung der PKK in keinem Teil Kurdistans in ihrer kulturellen und politischen Identität anerkannt waren, sind sie heute einer der wichtigsten Akteure in der Region. Der Kampf der PKK hat das kurdische Volk wieder zum Leben erweckt. Es entwickelte sich zur am besten organisierten Volksgruppe in der Region. Folglich wurde die Verleugnung durchbrochen und die Existenz des kurdischen Volkes gesichert.

Die PKK entstand in Zeiten eines bipolaren Weltsystems, in Zeiten des Kalten Krieges. Sie verstand und organisierte sich als eine sozialistische Partei, vergleichbar mit den Organisierungen vieler unterdrückter Gruppen weltweit. Sie wurde von der Theorie, Strategie und Praxis des Realsozialismus beeinflusst. Da der Realsozialismus das Selbstbestimmungsrecht der Völker automatisch als Recht auf Staatsgründung verstand, wurde der bewaffnete Kampf als strategische Kampfmethode übernommen (als Mittel zur Staatswerdung). Doch nach dem Zerfall des Realsozialismus Anfang der 90er Jahre setzte sich die PKK noch stärker mit den Mängeln des Realsozialismus auseinander und analysierte dessen Niederlage intensiv. Als Folge dessen versuchte Rêber Apo Mitte der 90er Jahre die PKK vom Einfluss des realsozialistischen Systems zu befreien. Einen radikalen Bruch vollzog er aber erst nach seiner Verhaftung im Jahr 1999. Auf der Gefängnisinsel İmralı gelang ihm ein Paradigmenwechsel vom Staatsparadigma zum demokratischen Konföderalismus, einem System basierend auf der basisdemokratischen Selbstverwaltung. Damit wurde die theoretische Grundlage für den demokratischen Sozialismus gelegt. Doch bei dessen Umsetzung schlichen sich immer wieder realsozialistische Züge ein. Vor diesem Hintergrund sieht Rêber Apo die Mission der PKK schon länger erfüllt. Die Auflösung der PKK ist in diesem Sinne auch eine radikale interne Intervention, um die kurdische Befreiungsbewegung vollständig von den Ketten des Realsozialismus zu befreien. Entstanden als eine Partei der klassischen nationalen Befreiung hat sich die kurdische Befreiungsbewegung zu einer politischen Kraft entwickelt, die die gesamte Region durch einen Prozess der Demokratisierung befreien möchte. Rêber Apo bezeichnet die Auflösung der PKK und die Beendigung des bewaffneten Kampfes als das Ende einer Phase und den Beginn einer neuen Periode. Der Kampf für den demokratischen Sozialismus wird in Form von demokratischer Politik weitergeführt werden. Das Ziel ist klar: Frieden und eine demokratische Gesellschaft. »Der Sozialismus des Nationalstaates führt zu Niederlage, der Sozialismus der demokratischen Gesellschaft zum Erfolg« und »Das Beharren auf das Mensch-Sein bedeutet das Beharren auf den Sozialismus« sind zwei wichtige Leitsätze Rêber Apos in dieser Phase, um den Unterschied zwischen Realsozialismus und demokratischem Sozialismus zu verdeutlichen.

Die kurdische Bewegung veröffentlichte erstaunlich viel Videomaterial von dem 12. Parteikongress der PKK. Dutzende Bilder und die Videos der gehaltenen Reden wurden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die PKK machte ihren Kongress bewusst sehr transparent, um zu zeigen, dass es ihr ernst ist. In den Reden wurde sehr stark betont, dass der Kampf nicht beendet ist, sondern sich gemäß dem neuen Paradigma neu gestalten wird. Das historische Bewusstsein, die ideologisch-philosophische Tiefe, die politische Fähigkeit, seine tiefe Kenntnis der Region und seine Voraussicht haben den Volksvertreter Abdullah Öcalan dazu bewegt diese Initiative zu ergreifen. Er erkennt die Ereignisse und Entwicklungen in der Region, die lauernden Gefahren, die hegemonial geschmiedeten Pläne und er versucht sowohl das kurdische Volk, als auch die Völker der Region zu schützen. Er bietet ihnen die Möglichkeit ihre eigenen Pläne zu entwickeln. Nicht umsonst verweist er auf die Situation der Menschen in Gaza und der Ukraine. Wer nicht seine eigenen Pläne verfolgt wird zum Spielball der Pläne anderer.

Rêber Apo hat seine Führungskraft damit bewiesen. Vor diesem Hintergrund konnten in dieser kurzen Zeit wichtige Beschlüsse gefasst werden. Sowohl die kurdische Freiheitsbewegung als auch das kurdische Volk vertrauen ihm. Sie wissen, dass er nicht gegen ihre Interessen handeln wird.

Was aber hat Devlet Bahçeli zu diesem Sinneswandel bewegt?

Bahçeli ist nicht irgendein Politiker. Er ist ein Ultra-Nationalist mit einem feinen Gespür für den Staat. Er repräsentiert in gewisser Weise die Staatslogik. Nicht Parteipolitik steht für ihn im Vordergrund, sondern die Interessen des Staates. Als Koalitionspartner der Regierungspartei AKP sieht Devlet Bahçeli, dass die Entwicklungen in der Region der Türkei sehr schaden werden, wenn nicht interveniert wird.
Mit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und dem folgenden Vernichtungskrieg Israels gegen Gaza begann eine neue Phase der Neuordnung des Mittleren Ostens. Diese wurde vom Sturz des Assad-Regimes in Syrien noch einmal deutlich beschleunigt. Vor allem diese beiden Entwicklungen führten zur Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Region. Während der Iran an Stärke und Einfluss verlor, befindet sich Israel auf dem Weg eine Regionalmacht zu werden. Die Neuordnung der Region erfolgt u.a. auf der Grundlage der Existenz Israels und der neuen Handelswege. Hierfür werden z.B. in Palästina ganze Völker geopfert oder radikale Gruppen wie die al-Nusra Front und Islamisten wie Al-Scharaa unterstützt und eingesetzt. Die Türkei geriet in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer neo-osmanischen Expansionspolitik, die sich auf verstärkte Instabilität und Krisen in der Region stützt, immer mehr in die Isolation. Auch innenpolitisch wurde das Land in den letzten 20 Jahren unter der AKP-Regierung stark polarisiert und in feindliche Fronten gespalten. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist dementsprechend groß und sie ist anfällig für externe Einmischung.

Vor allem die Tatsache, dass die Kurd:innen in der Region zu einem wichtigen Akteur geworden sind, der die Aufmerksamkeit anderer Kräfte gewinnt, vertieft die alte Angst der Türkei, gespalten zu werden. All diese Entwicklungen führten dazu, dass Devlet Bahçeli nun eine Neugestaltung der Beziehung zwischen Türk:innen und Kurd:innen einzuleiten versucht.

Was aber ist der Grund, dass der Staat die notwendigen prak­tischen Schritte nicht einleitet, um diese Phase zum Erfolg zu führen? Seit Beginn der Phase ist die Haltung der AKP nicht vertrauenerweckend. Sie scheut sich davor, die Phase als Lösungs- bzw. Friedensphase zu bezeichnen. Stattdessen verwendet die Regierung die Formulierung »terrorfreie Türkei«. In der Presse versucht sie diese Phase unter der Losung »Wir haben die PKK besiegt« anzupreisen, wohl wissend, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Bislang wurde von Regierungsseite sehr darauf geachtet, dass die Entwicklungen einseitig und ohne Zugeständnisse ihrerseits verliefen.

Klar ist, dass diese Phase von Devlet Bahçeli eingeleitet wurde und er dementsprechend die Verantwortung übernommen hat. Die AKP, vor allem Präsident Tayyip Erdoğan, war sehr zurückhaltend. Zwar sagte er Bahçeli seine Unterstützung zu, doch die Praxis der AKP-Regierung zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Bahçeli spricht von einem Paradigmenwechsel. Die bisherige Definition von Nation soll verändert und das kurdische Volk einbezogen werden. Das bisherige zentralistische Staatsparadigma »ein Staat, eine Nation, eine Flagge« soll nicht länger gelten. Eine dezentralistische, alle Gruppen umfassende, nicht diskriminierende Verfassung soll verabschiedet werden. Der Staat soll im Inland und im Ausland neue freundschaftliche Beziehung zu Kurd:innen aufbauen. All dies würde eine Korrektur der seit 200 Jahren beschädigten Beziehung zwischen den Kurd:innen und dem türkischen Staat bedeuten. Wir sind mit einer Regierung konfrontiert, die den Prozess in der Türkei verzögert, während auch die Entwicklungen in Syrien nicht an Tempo verlieren. Das Verlangsamen dieser Phase birgt Gefahren in sich. Die erwarteten Gesetze, die von der AKP ins Parlament eingebracht wurden, entsprechen in keiner Weise den Erwartungen.
Die AKP versucht die Phase für ihre Zwecke zu nutzen

Es gibt dementsprechend große Bedenken bezüglich der Absichten der AKP-Regierung. Die AKP ist nicht inklusiv genug und sie polarisiert. Sie versucht die Phase für ihre Parteizwecke zu nutzen, und sie dämonisiert die Oppositionspartei CHP8. Nie zuvor verfügte die Regierung über eine derart breite Unterstützung für eine politische Lösung der kurdischen Frage und für die Demokratisierung der Türkei. Sollte dieser Prozess scheitern, liegt die Verantwortung daher allein bei der AKP-Regierung.

Weitere einseitige Schritte der kurdischen Bewegung sind nach dem PKK-Kongress nicht mehr zu erwarten. Jetzt liegt es an der Türkei, die nächsten Schritte zu gehen. Sowohl die Beschlüsse des Kongresses als auch der weitere Verlauf hängen davon ab, in wieweit das Recht auf demokratische Politik gewährleistet und diese Phase rechtlich abgesichert wird.
Eine zentrale Forderung ist außerdem die Freiheit Rêber Apos und damit verbunden dessen Recht uneingeschränkt arbeiten zu können. Der Kongress hat zwar die bewaffnete Kampfstrategie beendet, aber nicht die Entwaffnung beschlossen. Diese kann nur dann erfolgen, wenn Selbstverteidigung nicht mehr nötig ist.

Jetzt steht der türkische Staat unter Handlungsdruck

Die Entwicklungen im Jahr 2014 in Syrien führten dazu, dass die AKP-Regierung den seit Ende 2012 begonnen Dialogprozess mit Rêber Apo und der PKK 2015 einseitig beendete. Heute sind es erneut u.a. die Entwicklungen in Syrien, die die Türkei zum Dialog bewegen. Während die Dialogphase 2012 bis 2015 sehr transparent war, versucht die Türkei die jetzige Phase viel geschlossener zu führen. Das weckt Skepsis und Misstrauen. Obwohl ein sehr breiter Kreis (politische Parteien, Zivilgesellschaft, wirtschaftliche Interessenverbände, etc.) eine politische Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei unterstützt, wird die Praxis der AKP-Regierung heute von vielen als nicht vertrauenswürdig eingestuft. Rêber Apo hat sein Versprechen eingelöst, doch wir sehen bisher keinen konkreten Schritt der türkischen Regierung. Verbale Äußerungen ersetzen nicht konkretes politisches Handeln. Damit dieser Prozess zum Erfolg führen und die Türkei die Gefahr des Scheiterns abwenden kann, ist ein Paradigmenwechsel auch auf Seiten des Staates nötig. Wenn die Türkei sich nicht für die Demokratie öffnet, die Dezentralisierung vollzieht, Rechtsstaatlichkeit etabliert und sich zu einem Land entwickelt, in dem alle Gruppen gleichberechtigt sind, wird sie zerfallen, genauso wie der türkische Parlamentspräsident Numan Kurtulus es formulierte.

Anstelle der bisherigen lost-lost Beziehung zwischen der Türkei und den Kurd:innen könnte die Ära eines win-win beginnen. Das ist es, worüber Bahçeli spricht und was Rêber Apo umzusetzen versucht. Welche Schritte werden nun vom türkischen Staat erwartet? Wenn die Auflösung der PKK und die Niederlegung der Waffen in die Praxis umgesetzt werden sollen, müssen folgende Entwicklungen stattfinden: In erster Linie müssen die Haftbedingungen von Rêber Apo mit dem letztendlichen Ziel seiner physischen Freiheit verbessert werden. Das Recht auf Hoffnung muss vom Parlament der Türkei verabschiedet werden. Er muss die Möglichkeit erhalten, unterschiedliche Gruppen und Personen zu treffen, die für den Prozess relevant sind. Journalist:innen, Politiker:innen, Intellektuelle und Vertreter:innen der kurdischen Bewegung müssen ihn besuchen und sich mit ihm austauschen können. Ein Mensch, der ein so vielschichtiges und die gesamte Region umfassendes Problem zu lösen versucht, kann nicht unter den auf İmralı herrschenden Umständen leben und arbeiten. Die kurdische Bewegung hat unmissverständlich erklärt, dass eine Entwaffnung nur unter der Federführung Rêber Apos stattfinden kann.

Des weiteren muss das Recht auf politische Betätigung rechtlich garantiert werden. Sowohl Rêber Apo, als auch die Mitglieder der kurdischen Bewegung müssen die Möglichkeit erhalten, sich legal zu betätigen. Eine umfassende rechtliche Grundlage ist notwendig, damit all diese Menschen nicht für ihre politische Arbeit verfolgt werden.

Auch eine neue Verfassung ist für die Demokratisierung der Türkei unumgänglich. Diese Verfassung muss transparent unter Beteiligung aller Gruppen in der Türkei ausgearbeitet und verabschiedet werden. In ihr müssen die Existenz und die Rechte des kurdischen Volkes garantiert werden. Eine Verfassung, die die Existenz des kurdischen Volkes verleugnet, kann nicht demokratisch sein. Daran wird sich die neue Verfassung messen lassen müssen.

Unabdingbar ist, dass dieser Prozess durch das Parlament getragen werden muss. Eine parteiübergreifende Kommission im türkischen Parlament, wie sie auch Bahçeli kürzlich forderte, könnte sehr hilfreich sein. Dies würde verhindern, dass eine bestimmte Partei die Phase für ihre eigenen Zwecke nutzt.

Für die kurdische Bewegung bedeutet der Kongress das Ende einer Epoche und den Beginn einer neuen Ära des Kampfes. Statt des militärischen Kampfes werden ein politischer Kampf und neue Organisierungsformen für die Freiheit des kurdischen Volkes als auch die Demokratisierung des Mittleren Ostens angestrebt. Die Errungenschaften des 52-jährigen Kampfes der Kurd:innen machen sie zu Vorreiterinnen in der Region. In dieser neuen Ära wird die Rolle der Frauen noch stärker sein als zuvor, denn Rêber Apos Paradigma basiert auf der Frauenbefreiung und auf der Vorreiterinnenrolle von Frauen.

Frieden und demokratische Politik entsprechen mehr dem Politikverständnis der Frau. Alle Werte, die sie geschaffen hat, finden ihren Ausdruck in der demokratischen Gesellschaft. Kurdische Frauen haben umfassende Erfahrung damit, wie sie sich auch im Patriarchat selbst zum Ausdruck bringen können. Diese Erfahrung wird wegweisend für die Völker sein, die sich innerhalb eines Staates demokratisch organisieren, d.h. sich selbst zum Ausdruck bringen möchten. Das existierende patriarchale, kapitalistische System ist erbarmungslos gegenüber Frauen. Sie müssen deshalb ihr eigenes demokratisch-ökologisches und die Frauen befreiendes System aufbauen. In einer Gesellschaft, die demokratisch ist, sich also selbst verwaltet, werden die Frauen selbstbestimmt leben. Eine demokratische Gesellschaft auf der Grundlage der Frauenbefreiung kann die Probleme in der Region lösen.

Rêber Apos Initiative ist nicht nur auf die Türkei begrenzt, sondern hat auch regionale Auswirkungen. Dieser Prozess muss daher auch die Nachbarländer einschließen. »Geschwisterlichkeit mit den Kurden sowohl im In- und Ausland« bedeutet nichts anderes als dass der Staat Türkei seine bisherige aggressive Politik beendet und entsprechend der Losung Atatürks »Frieden im Land – Frieden in der Welt« die Schaffung von Demokratie und Frieden als sein eigenes Interesse erkennt.

 

¹ Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM), gegründet nach dem drohenden Verbot der HDP, drittstärkste Partei im türkischen Parlament.

² https://gazeteoksijen.com/turkiye/Bahçeliden-dem-partili-vekillerle-tokalasma-aciklamasi-uzattigim-el-milli-birlik-ve-kardesligimizin-mesajidir-224853

³ Das »Recht auf Hoffnung« bezieht sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2014, das die Türkei verpflichtet, Verurteilten, die eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung verbüßen, die Möglichkeit einzuräumen, nach einer bestimmten Anzahl von Jahren aus der Haft entlassen zu werden.

⁴ Die Autorin benutzt eine repektvolle Bezeichnung für Abdullah Öcalan. Rêber bedeudet auf Deutsch der Wegweisende.

⁵ Vollständiger Aufruf unter: https://anfdeutsch.com/aktuelles/aufruf-von-abdullah-Ocalan-fur-frieden-und-eine-demokratische-gesellschaft-45431

⁶ Koma Civakên Kurdistan, Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans. Ein weltweiter Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisation mit Bezug zu Kurdistan.

⁷ Abschlusserklärung unter https://anfdeutsch.com/kurdistan/pkk-verkundet-auflosung-und-ende-des-bewaffneten-kampfes-46252