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Jineolojî – Die Suche nach dem freien Leben

Jineolojî – Die Suche nach dem freien Leben

Lena Wilderbach und Şervîn Nûdem, Jineolojî Akademie | Die Autorinnen schreiben über die Entstehung, die Hintergründe und die aktuellen Arbeiten der Jineolojî und ihre Bedeutung für den Kampf gegen das Patriarchat.

Lena Wilderbach und Şervîn Nûdem, Jineolojî Akademie

In den letzten Jahren wurde die Jineolojî als Wissenschaft der Frauen, des Lebens und der Gesellschaft vielerorts mit großer Neugier und Begeisterung diskutiert. Nicht nur in Kurdistan und im Mittleren Osten, sondern auch in zahlreichen anderen Regionen der Erde haben Frauen begonnen Jineolojî Workshops, Komitees, Forschungs- und Arbeitsgruppen zu gründen; es ist ein reger Austausch über Kontinente hinweg entstanden. Was hat es mit der Jineolojî auf sich? Was bedeutet es überhaupt, eine Wissenschaft der Frauen, des Lebens und der Gesellschaft zu entwickeln? Welche Rolle kann die Jineolojî in der aktuellen Phase spielen und was hat das mit uns allen zu tun?

Das Wort Jineolojî setzt sich zusammen aus jin, dem kurdischen Wort für Frau, das den gleichen Ursprung hat wie das Wort jîn/jiyan für Leben, und der griechischen Endung -logía für Wissen oder Wissenschaft. Diese neue Wortschöpfung wurde erstmals 2008 von Abdullah Öcalan in seiner Verteidigungsschrift Soziologie der Freiheit zur Diskussion gestellt. Obwohl der Begriff neu ist, hat die Jineolojî als Wissenschaft der Frauen tiefe Wurzeln und eine lange Geschichte. Sie gründet auf der Theorie und Praxis der Freiheitsbewegung Kurdistans, sie speist sich aus der Jahrtausende alten Geschichte der Frauen und kommunalen Gesellschaften in Mesopotamien und knüpft an das vielfältige Erbe von Frauenkämpfen, Freiheitskämpfen und feministischen Bewegungen auf der ganzen Welt an. All diese Erfahrungen, die Kämpfe und Bewegungen für Freiheit und für ein würdevolles Leben aller im Einklang mit der Natur, sind wie ein Fluss klaren Wassers, der durch die ganze Geschichte hindurch bis heute weiter strömt. Sein lebendiges Rauschen ist wie eine Melodie der Hoffnung und des Widerstands gegenüber der Zerstörung, der Einhegung und der Kolonisierung des Lebens.

Wir leben in Zeiten, in denen wir uns mehr denn je große Fragen stellen. Beinahe ein Viertel des 21. Jahrhunderts ist vorüber und als Generationen, die wir den Gang der Geschichte in diesem Jahrhundert prägen, sehen wir uns mit tiefen Systemkrisen konfrontiert. Während Militarisierung und Kriegsszenarien die Nachrichten prägen, sehen wir auch um uns herum die Prekarität des Lebens. Die modernen Wissenschaften beweisen sich durch technologische Entwicklungen, sind aber nicht in der Lage freiheitliche und ethische Antworten auf die vielschichtigen Krisen dieser Zeit zu geben. Als Lösung für diese Systemkrise verfolgt die Jineolojî das Ziel, Wissen und Perspektiven für gesellschaftliche Veränderung und Frauenbefreiung weltweit neu zu entdecken, bewusst zu machen, zu überdenken, zu diskutieren und zu vernetzen. Anstelle einer vermeintlich »wissenschaftlichen Objektivität«, hinter der sich doch oft herrschende Ideologien, Kapitalinteressen und Machtstrukturen verstecken, erklärt die Jineolojî ihr Anliegen offen: eine Gesellschaftswissenschaft zu schaffen, die sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt Freiheitsbewegungen stärkt und durch kollektive Forschung, die Schaffung von Bewusstsein und den Aufbau von Alternativen den Weg öffnet, Antworten auf die heutigen Probleme zu finden – mit dem Ziel, eine freie, demokratische und ökologische Gesellschaft zu entwickeln.

Dieses Ziel bestimmt auch die Themen und Methoden der Forschung. Mit der Jineolojî gehen Frauen den Fragen nach, die in ihrer Gesellschaft und Organisierung dringlich sind. Dabei werden die zerteilten wissenschaftlichen Disziplinen zusammen gedacht und sich der Welt mit einer ganzheitlichen Perspektive genähert. So forscht die Jineolojî in Bereichen wie Geschichte, Gesundheit, Politik, Kultur, Ökonomie, Selbstverteidigung, Ökologie, Demographie, Zusammenleben und vielen mehr. Sie will die Trennung von Subjekt und Objekt überwinden, in deren Namen Forscher die Natur, Frauenkörper, andere und ihre eigenen Gesellschaften zu leblosen Forschungsgegenständen machten, und strebt im Gegensatz dazu wechselseitige Beziehungen auf Augenhöhe an. Sie bleibt nicht bei der bloßen Beschreibung der Umstände, sondern stellt auch metaphysische Fragen nach dem »Warum?«. Sie gibt damit dem Leben auch wieder die Bedeutung, die mit der wissenschaftlichen »Entzauberung der Welt« verloren gegangen ist.

Jineolojî lässt sich nicht einfach definieren. Nagihan Akarsel, Freundin und Genossin der Jineolojî Akademie, Forscherin, Schriftstellerin und Revolutionärin, die am 4. Oktober 2022 in Silêmanî vom türkischen Geheimdienst ermordet wurde, schreibt: »Ich möchte gleich zu Beginn anmerken, dass ich spüre, wie allein der Versuch, in diesem Artikel die Jineolojî zu definieren, ein methodisches Problem aufwirft. Man spürt sofort, dass es sich um ein noch junges Thema handelt, das mit dem Leben verbunden ist, das eine klare Perspektive hat, mit der Tradition in Beziehung steht und eine eigene Sprache hat. In welcher Sprache sollte man über Jineolojî schreiben? Diese Frage umgibt uns gleich zu Beginn. Die Antwort ist nicht einfach. In erster Linie bringt man sich selbst in das Schreiben ein. Die Jineolojî mit festgelegten Bestimmungen zu erklären, würde ihren Fluss nur behindern.« In diesem Sinne ist Jineolojî »ein Fluss, der seinen eigenen Weg findet.« Und »die Ideen einer jeden Frau, ihre Studien, das Wissen, das sie entwickelt, die Geheimnisse, die ihre Mutter ihr ins Ohr flüstert, die Kraft der Interpretation, all das sind Tropfen, die die Strömung dieses Flusses verstärken.«1

Mit freiem Denken, Sprechen und Handeln das Patriarchat überwinden

Zum 8. März 2025 sendete Rêber Apo einen Gruß an uns alle und betonte darin: »Solange die tief in unserer neuen Gesellschaft verwurzelte patriarchale Kultur nicht zerschlagen wird – wie es auch der Marxismus belegt – wird der Erfolg des Sozialismus unmöglich bleiben. Der Weg zum Sozialismus führt über die Frauenbefreiung: ohne Frauenfreiheit gibt es weder echten Sozialismus noch sozialistische Menschen, und ohne Demokratie ist dieser Weg nicht zu beschreiten.«

Um zu verstehen wo wir ansetzen müssen, gehen wir weit in die Geschichte zurück. Wir schauen nach der Tradition der natürlichen, kommunalen und demokratischen Gesellschaften und nach den Schlüsselmomenten in denen Frauen und Gesellschaft ihre Freiheit verloren. Wir analysieren die patriarchale Unterdrückung als die tiefste und erste Form der Kolonisierung. Und das ist nicht nur eine Phrase – diese grundlegende These ist nichts weniger als der Schlüssel für die Lösung der Krisen und Widersprüche, die wir in dieser kapitalistischen Moderne erleben. Haben wir wirklich verstanden was das bedeutet? Wie tiefgehend realisieren wir das in unserem Denken, unserem Fühlen, unserer politischen Praxis und strategischen Perspektive, unserem tagtäglichen Zusammenleben?

Jineolojî Workshop in einem Park in Nordkurdistan. Auf dem Banner steht: „Märchen, Geschichten und Mythen“. Foto: Jineolojî

Der ganz einfache Satz »fem kirin pêk anîn e« drückt eigentlich alles aus. Auf deutsch bedeutet das sinngemäß »Verstehen heißt danach handeln«. Wissen entsteht nicht durch die Anhäufung von Informationen. Verstehen bedeutet, nach dem Gewussten zu leben – ein Verständnis von Wissen, dessen Wurzeln wir in der alten mesopotamischen Weisheitstradition wiederfinden. »Die Jineolojî geht von der Tatsache aus, dass das Wissen nicht dann bedeutsam ist, wenn es trocken gewusst wird, sondern wenn es in den Körper des Menschen integriert wird«, schreibt Nagihan Akarsel dazu.

Man kann nicht sagen: »Komm mir nicht schon wieder mit dem Patriarchat, das weiß ich schon lange!«, wenn man dieses Wissen nicht lebt und das Patriarchat in den eigenen – und damit auch den gesamtgesellschaftlichen – Lebens- und Beziehungsformen nicht überwunden hat. Jineolojî hinterfragt genau diese Trennung zwischen Informationen, Wissen, Ethik und Leben; die Trennung zwischen Denken, Gefühlen und Handeln, zwischen Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft, Mensch und Natur. Sie macht sich stattdessen auf den Weg, eine ganzheitliche Philosophie des Lebens zu entwickeln. In der Einheit von Denken, Sprechen und Handeln offenbart sich Schönheit, Wahrheit und die Kraft der Veränderung auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft. Jineolojî ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern zugleich die Art und Weise wie wir uns an die Fragen des Lebens, an unsere politische Arbeit, Organisierung und den Aufbau der demokratischen Moderne annähern. Sie ist eng verbunden mit der Kunst der Freiheit, der Entwicklung von Antworten auf die Frage »Wie leben?«.

In der Einleitung zu dem jüngst erschienenen Buch Jineolojî Ders Notları heißt es:
»Können wir, als Frauen eines kolonisierten Volkes, dem es verboten war, seine eigene Sprache zu sprechen, einen Anspruch auf Wissenschaft haben? Wie können wir uns überhaupt auf die Wissenschaft beziehen, wenn wir doch die Schulen, in denen wir assimiliert wurden, die Universitäten, in denen wir Repression erfuhren, die akademischen Identitäten, in denen wir gezwungen waren uns selbst zu verleugnen, hinter uns gelassen haben – und uns auf den Weg der Revolution begeben haben? Wo können wir existieren, wo doch die Wissenschaft so sehr mit Macht und Kapital verbunden ist und Theorien, Konzepte und Räume entsprechend aufbaut? Wie können wir zu dem Raum, der Sprache, dem Paradigma und der Wissenschaft als Ganzes beitragen? Was noch wichtiger ist: Gibt es einen Bedarf für die Wissenschaft von Frauen? Welche Probleme kann die Frauenwissenschaft lösen?

Und es gab hunderte weiterer Fragen, mit denen wir uns auf die Suche nach Antworten machten – von einem Guerillacamp auf den höchsten Gipfeln des Zagrosgebirges bis zu den Gefängnissen, von einer Schule im Flüchtlingslager Mexmûr bis zu einer Stellung im Krieg in Kobanê, von einem Atelier in Istanbul bis zu einem zerstörten Gebäude in Aleppo, von einem Zelt im Şengal und einem verrosteten Zugwaggon in Şehba, bis zu einer baufälligen Akademie und einer Frauenkommune in Italien, von einem Park in Silêmanî bis zu einem Dorf in Lateinamerika.«

Eine Wissenschaft der Frauenrevolution entwickeln

Bereits Ende der 1970er Jahre hatten feministische Wissenschaftlerinnen wie Maria Mies darauf hingewiesen, dass eine feministische Gesellschaftstheorie nicht in staatlichen Forschungsinstituten entstehen könne, sondern sich aus der Teilnahme an den Kämpfen der Frauenbefreiungsbewegung und aus der theoretischen Auseinandersetzung mit den Zielen und Strategien dieser Bewegung entwickeln müsse.2 Von radikalen Ansätzen wie diesem wurden jedoch in den folgenden Jahrzehnten unter dem Einfluss des Liberalismus zunehmend Abstand genommen. Die Frauenforschung wurde in den herrschenden elitären Wissenschaftsapparat integriert und ab den 1990er Jahren als Geschlechterforschung neu strukturiert. Parallel dazu bevorzugten breite Kreise der Frauenbewegungen in den USA und Westeuropa das Konzept des »Gender Mainstreaming« anstelle eines Programms der Frauenbefreiung. Damit stellen sie nicht mehr das patriarchal-kapitalistische Ausbeutungssystem als solches in Frage, sondern erheben den Anspruch, »gleichberechtigte« Komplizinnen und Profiteurinnen des Systems zu werden. Auch das herrschende System funktionalisiert das Argument der »Verteidigung der Frauenrechte« zunehmend, z.B. zur Aushöhlung des Asylrechts oder zur Führung imperialistischer Kriege wie in Afghanistan 2001.

Liberal-individualistische Freiheitsvorstellungen einerseits und das Erstarken autoritärer, rechtspopulistischer und religiös-fundamentalistischer Ideologien andererseits erschweren den Weg der Jineolojî ebenso wie die Repression und der völkerrechtswidrige Besatzungskrieg der Türkei in Kurdistan und die Hinrichtungen von Frauenrechtlerinnen im Iran. Doch gerade diese heuchlerische und grausame Realität, in der wir tagtäglich mit zerstörerischen Angriffen auf Natur und Gesellschaften, mit patriarchaler und kolonialer Gewalt und gezielten Morden an freiheitssuchenden Menschen konfrontiert sind, zeigt uns, wie lebenswichtig unsere Bemühungen sind, gemeinsam mit Jineolojî neue Wege zu einem freien Leben zu finden. Frauen wie Leyla Agirî, Hêlîn Dersîm, Malda Kûsa, Lêgerîn Çiya, Ellen Jaedicke und Nagihan Akarsel, gehören zu den Wegbereiterinnen der Jineolojî. Unermüdlich setzten sie ihren Kampf für ein freies und selbstbestimmtes Leben fort. Mit ihren revolutionären Ideen, ihrer Arbeit und ihren Persönlichkeiten gewannen sie viele Weggefährtinnen und motivierten sie, sich an der Entwicklung der Jineolojî zu beteiligen.

Im Jahre 2014/2015 entstand das Buch Eine Einführung in die Jineolojî als Ergebnis eines kollektiven Diskussionsprozesses, der in den Strukturen der kurdischen Frauenbewegung an verschiedenen Orten geführt wurde. Eine führende Rolle spielten dabei unter anderem Revolutionärinnen wie Leyla Agirî oder Hêlîn Dersîm, die sich mit Enthusiasmus und Lebensfreude daran machten, die historischen und theoretischen Grundlagen der Jineolojî in ihrem Leben und der Landschaft der Berge Kurdistans zu erforschen. Dabei initiierten sie auch die ersten Diskussionen, Studiengruppen und Bildungsarbeiten zu diesem Thema in den Frauenverteidigungseinheiten YJA STAR und in den Akademien der Frauenpartei PAJK.

Freiheitsliebende Frauen, darunter auch Akademikerinnen und Journalistinnen wie Nagihan Akarsel, begaben sich in allen vier Teilen Kurdistans auf die Suche nach dem Wissen und den Lebensweisheiten von Frauen. Sie analysierten ihre persönlichen Erfahrungen sowie die Erkenntnisse von Frauen und Frauenbewegungen im Freiheitskampf. Dabei gingen sie auch der Frage nach, welche Stolpersteine der Verwirklichung eines freien Zusammenlebens der Geschlechter, der Gesellschaft und der Natur im Wege stehen.

Ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung der Jineolojî waren die Diskussionen, die politische Gefangene aus der kurdischen Frauenbewegung – trotz enormer Repression – in den Gefängnissen des türkischen Staates führten. Eine Zusammenfassung dieser Diskussionen erschien erstmals 2014 in türkischer Sprache in dem Buch Jineolojî Tartışmaları (Diskussionen über die Jineolojî). Im selben Jahr wurde das Konzept der Jineolojî im Rahmen der Konferenz »Jineolojî – radikales Denken aus weiblicher Perspektive« an der Universität zu Köln erstmals mit Philosophinnen, Soziologinnen, Feministinnen und politischen Aktivistinnen aus verschiedenen Ländern des Mittleren Ostens, Europas, Amerikas, Afrikas und Asiens diskutiert. Ellen Jaedicke, eine feministische Internationalistin und damalige Mitarbeiterin des Kurdischen Frauenbüros für Frieden – Cenî, spielte eine wichtige Rolle bei der Organisation und Moderation dieser Tagung, die Frauen aus verschiedenen Generationen und sozialen Bewegungen zusammenbrachte.

Die ersten Ergebnisse der Recherchen und Überlegungen, zum Aufbau einer alternativen Frauenwissenschaft zur Verwirklichung der Frauenrevolution im 21. Jahrhundert, wurden in Form eines Diskussionspapiers auf der 1. großen Jineolojî Konferenz vorgestellt. 120 Delegierte aus verschiedenen Arbeitsbereichen der kurdischen Frauenbewegung kamen zu dieser Konferenz vom 11. bis 15. Mai 2015 in der Region Bradost im Zagros-Gebirge zusammen. Schon der Veranstaltungsort, der unterhalb eines thronartigen Felsens, der der Göttin Ishtar geweiht ist, gelegen war, hatte eine tiefe historische Bedeutung. Unter den Konferenzteilnehmerinnen befanden sich auch Internationalistinnen wie Lêgerîn Çiya (Alina Sanchez) aus Argentinien. Sie diskutierten ausführlich über Motive, Ziele, Methoden und Aufgaben einer alternativen Frauenwissenschaft. Diese Pläne und Ideen wurden in den folgenden Jahren weiter in die Tat umgesetzt.
Zahlreiche Forschungs- und Bildungsarbeiten wurden durchgeführt und es wurde mit dem Aufbau des Netzwerks der Jineolojî Akademie begonnen, der seit 2016 kontinuierlich voranschreitet. Je nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten haben Frauen an verschiedenen Orten begonnen, Jineolojî Workshops und Bildungsveranstaltungen zu organisieren, Arbeitsgruppen, Komitees und Forschungszentren gegründet.

So entstanden zwischen 2017 und 2021 im Gebiet der Selbstverwaltung von Rojava/Nord- und Ostsyrien sieben regionale Jineolojî-Forschungszentren sowie die Jineolojî-Fakultät an der Rojava Universität. Es wurde eine umfangreiche Studie zu den historischen Grundlagen und der Zukunft der Frauenrevolution in Rojava erstellt.3 Zudem wurde Jineolojî als Schulfach in den Lehrplan der Gymnasien aufgenommen. Junge Frauen organisierten eigene Jineolojî-Camps, um ihre Probleme zu diskutieren, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihren eigenen Lebensweg bestimmen zu können. Zu ihnen gehörte auch die junge Mitarbeiterin des Jineolojî-Forschungszentrums Malda Kûsa, die 2019 durch eine Mine des IS ermordet wurde.

Jineolojî in den verschiedenen Teilen Kurdistans

Die Jineolojî Arbeiten in Rojava und Nord- und Ost-Syrien begreifen sich als Motor der Frauenrevolution und spielen eine wichtige Rolle bei der Analyse gesellschaftlicher Probleme, der Entwicklung lösungsorientierter Projekte und der Durchführung von Bildungsveranstaltungen.
Weitere Ergebnisse der Diskussionen darüber, wie eine Frauenwissenschaft dazu beitragen kann, die Lebensbedingungen von Frauen konkret zu verändern, die Gesundheit von Frauen zu stärken und kollektive, ökologische Lebensformen aufzubauen, waren die Gründung des Frauendorfes Jinwar und des Frauenheilzentrums ŞîfaJin.

In verschiedenen Regionen Nordkurdistans und der Türkei forschen und diskutieren Frauen kontinuierlich in lokalen Jineolojî-Arbeitsgruppen. Jede Arbeitsgruppe wählt sowohl ihre thematischen Schwerpunkte als auch ihre Methoden eigenständig. Ziel ist es, dass alle Teilnehmerinnen eine aktive Rolle bei der Erforschung der eigenen Geschichte und Kultur übernehmen, sich in philosophische, wissenschaftliche und tagespolitische Themen vertiefen und Frauenstandpunkte entwickeln, die patriarchale Logiken und dominante Wissens- und Politikformen überwinden.

Auch in Südkurdistan treffen sich seit 2018 regelmäßig Frauen, um im Rahmen der Jineolojî ihre Kultur und Geschichte zu erforschen, sich weiterzubilden und Lösungen zur Überwindung patriarchaler und kolonialer Gewalt zu finden. Nagihan Akarsel spielte eine führende Rolle bei der Organisation von Foren mit Künstlerinnen und Schriftstellerinnen im Rahmen der Aktivitäten der Jineolojî Akademie und initiierte die Gründung der kurdischen Frauenbibliothek mit Archiv und Forschungszentrum. Dieses Zentrum, das unter anderem literarische und künstlerische Werke kurdischer Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans sammelt und zugänglich macht, wurde im Juni 2023 eröffnet.

Im kurdischen Flüchtlingscamp Mexmûr wurde bereits 2010 damit begonnen Jineolojî als Unterrichtsfach in den Schulen mit einem Fokus auf die Vermittlung von Frauengeschichte zu unterrichten. Zugleich wurden im gesamten Camp Bildungsarbeiten organisiert mit dem Schwerpunkt patriarchale Denkweisen bei Männern zu hinterfragen und zu überwinden. Eine Forschungsarbeit des Jineolojî Komitees in Mexmûr setzt sich intensiv mit den Auswirkungen der 30-jährigen Fluchtgeschichte auf das Leben der Frauen und ihren Widerstand auseinander.

Inspiriert von der Jineolojî begannen Frauen aus Ostkurdistan und dem Iran damit, die Spuren der Muttergöttinnenkultur in ihrer Geschichte und Gegenwart genauer zu erforschen. Sie organisierten Bildungsveranstaltungen, um die Bedeutung der sozialen Werte dieser Kultur als Bezugspunkte für den heutigen Widerstand von Frauen gegen Feminizide wieder bewusst zu machen. An diese Dynamiken knüpften auch die monatelangen Jin-Jiyan-Azadî-Aufstände an, die sich infolge der Ermordung von Jîna Emînî am 16. September 2022 durch iranische Staatskräfte kontinuierlich ausbreiteten. Sie manifestieren, dass die Frauenbefreiung für die Demokratisierung des Irans und einer jeden Gesellschaft unerlässlich ist.

Zentren und Publikationen der Jineolojî

Darüber hinaus ist ein Netzwerk von Frauen entstanden, die in verschiedenen Ländern des Mittleren Ostens leben und im Rahmen der Jineolojî daran arbeiten, gemeinsame Positionen gegen Feminizide und Genozide und für eine lebenswerte Zukunft zu entwickeln.

Das im Januar 2017 eröffnete Jineolojî Zentrum in Brüssel ist zu einem wichtigen Verknüpfungspunkt für die Jineolojî Komitees und -Arbeiten in den verschiedenen europäischen Ländern geworden. In Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen und verschiedenen Frauenorganisationen werden Bildungsveranstaltungen, Tagungen, kulturelle Projekte und Forschungsprojekte organisiert. Insbesondere die Jineolojî-Camps, die unter anderem im Baskenland, in Katalonien, Italien, Portugal, Deutschland, England, Schottland, Frankreich, Kolumbien, Argentinien und Ecuador stattfanden, waren für alle Teilnehmenden eine wertvolle Erfahrung, ein gemeinschaftliches Leben zu organisieren, in dem Wissensaustausch und Diskussionen zu vielfältigen Themen von Frauengeschichte bis Naturheilkunde ebenso ihren Platz haben wie Tanz, Musik und andere künstlerische Ausdrucksformen.

Das Andrea Wolf Institut der Jineolojî Akademie wurde im Mai 2019 in Rojava mit dem Ziel eröffnet, die Geschichte, das Wissen, die Erfahrungen und Analysen von Frauen und ihren Freiheitskämpfen in verschiedenen Teilen der Welt besser zugänglich zu machen und miteinander zu verbinden. Auch hier entstehen neue Erkenntnisse und Aufbrüche durch das gemeinsame Leben, Lernen, Forschen und Arbeiten von Frauen aus verschiedenen Ländern und Kulturen im Kontext der Revolution in Rojava. Bücher wie Wir wissen was wir wollen4, Mujer-Vida-Libertad5 oder Nous vous écrivons depuis la révolution6, die über die Erfahrungen von Frauen in der Rojava Revolution berichten oder Broschüren zu den Themen Revolutionäre Bildung7 und Den dominanten Mann töten und verändern8 sind Ergebnisse des kollektiven Lebens und Arbeitens am Institut.

Zu einer wichtigen Plattform hat sich die Jineolojî-Zeitschrift (Jineolojî Dergisi) entwickelt, die seit 2016 regelmäßig alle drei Monate in Nordkurdistan und der Türkei mit Beiträgen zu je einem Themenschwerpunkt erscheint. Zu den Autorinnen gehören Mitarbeiterinnen der Jineolojî Akademie, Teilnehmerinnen von Jineolojî-Workshops, feministische Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen sowie Aktivistinnen verschiedener sozialer Bewegungen. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten sie im Kontext der Jineolojî Themen, wie die Krise der Sozialwissenschaften, alternative Wissenschaftsansätze und -methoden. Die Krise im Mittleren Osten, Methoden des Frauenwiderstandes, die Institution der Familie und Formen des freien Zusammenlebens sind ebenso Themen, wie Religion, Bildungspolitik, Demografie, kommunale Ökonomie, ökologisches Leben oder die Aufgaben der Frauenrevolution des 21. Jahrhunderts.

Außerdem werden Inhalte und aktuelle Diskussionen der Jineolojî auf der Website Jineolojî.eu veröffentlicht. Durch Videos, die über digitale Medien verbreitet werden, und Fernsehsendungen, die unter anderem vom Frauenfernsehsender JinTV in kurdischer, türkischer und arabischer Sprache ausgestrahlt werden, erreichen die Diskussionen und Perspektiven der Jineolojî immer breitere Kreise der Gesellschaft. Weitere Publikationen der Jineolojî Akademie wie die Bücher Demokratik Modernite İnşasında Feminizm9 (Feminismus im Aufbau der demokratischen Moderne) und Jineolojî Ders Notları10 oder der Gedichtband Nisan11 von Nagihan Akarsel erzählen von Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen, die mit dem Anspruch verbunden sind, die Jineolojî als eine alternative Frauen- und Gesellschaftswissenschaft für die Frauenrevolution weiterzuentwickeln.

Auf verschlungenen Pfaden über Grenzen

Die Reise der Jineolojî durch Zeit und Raum geht weiter. Ihre Theorie und Praxis speist sich aus den Bestrebungen, eine demokratische und ökologische Gesellschaftsform auf der Grundlage der Frauenbefreiung in Kurdistan und anderen Teilen der Welt zu verwirklichen. Gleichzeitig nähren und ermutigen die Arbeiten der Jineolojî diese Bestrebungen. Der Weg der Jineolojî ist also keine geradlinige Einbahnstraße mit einer klaren Endstation. Sie führt über verschlungene Pfade, durch tiefe Täler, über Berge, Flüsse und Meere in die verschiedenen Regionen und Epochen der Menschheitsgeschichte. Es gibt Kreuzungen, Verbindungswege und Parallelstraßen mit unterschiedlichen Ausgangspunkten und einer Vielzahl von Zwischenstationen. Auf dieser Reise begegnen wir Bekanntem und Vertrautem. Aber wir machen auch neue Entdeckungen, schließen neue Freundschaften und wagen neue Aufbrüche. Die Jineolojî ist eine Reise, auf der wir uns unserer Widersprüche bewusst werden und den Mut entwickeln, aus den Grenzen des patriarchalen Herrschaftssystems auszubrechen, das uns schwach und abhängig macht. Gleichzeitig gewinnen wir mit jedem neuen Schritt unsere Würde und Selbstbestimmung zurück, entwickeln Neugier und stellen uns neue Fragen, die uns zu neuen Horizonten führen. Besonders nach Rêber Apos Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft wird der Jineolojî dabei eine noch größere Bedeutung zukommen.