Der Einfluss Bookchins auf Öcalan und die Entwicklung des Paradigmas der kurdischen Freiheitsbewegung
Janet Biehl, Autorin
In der Entwicklung des Paradigmas der Befreiungsbewegung Kurdistans wurde Öcalan durch die Analysen vieler Theoretiker:innen und Autor:innen beeinflusst. So auch von Murray Bookchin. Der Artikel wurde von der Autorin im Jahre 2015 als Vortrag auf der »New World Summit« in Dêrik gehalten und beschreibt die Beziehung zwischen den beiden Vordenkern und ihre Bedeutung füreinander.
Der amerikanische Sozialtheoretiker Murray Bookchin war ein Vordenker, der die Linke, lange bevor dies populär wurde, mit Ideen über demokratische Versammlungen, Ökologie und dem Widerstand gegen Hierarchien befruchtete. Er lieferte ihr so neue Grundlagen für den Widerstand gegen Kapitalismus und den Nationalstaat. Bookchin wuchs als junger Kommunist im New York der radikalen 30er Jahre auf. Aber Ende der 40er Jahre lehnte er den Marxismus-Leninismus nicht nur als autoritär, sondern auch als falsch ab – das Proletariat sei letztendlich doch nicht revolutionär. Doch anstatt die radikale Politik aufzugeben, wie es viele seiner Freund:innen taten, blieb Bookchin und entschied sich, das revolutionäre Projekt zu überdenken.
In den 50ern erkannte er, dass eine neue Linke demokratisch und ökologisch sein musste. Sein Studium des antiken Athen hatte ihn gelehrt, dass die Menschen in der Lage sind, sich in demokratischen Bürgerversammlungen selbst zu regieren. Inspiriert davon kam er zu dem Schluss, dass der gegenwärtige Nationalstaat abgeschafft und seine Befugnisse in solchen Versammlungen auf die Bürger:innen übertragen werden könnten. Wenn die Menschen sich in der Vergangenheit auf diese Weise selbst regiert hätten, könnten sie dies auch wieder tun.
Er erkannte auch schon früh, dass der grundlegende Fehler des Kapitalismus sein Konflikt mit der natürlichen Umwelt war, der letztlich zu einer Krise führen würde. Er verfasste die ersten Manifeste der radikalen Ökologie, in denen er sich für eine Dezentralisierung der Städte aussprach, sodass Menschen in kleinerem Maßstab leben, Lebensmittel vor Ort anbauen, erneuerbare Energien nutzen und ihre Angelegenheiten selbst regeln können. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte entwickelte Bookchin diese Ideen zu einem Programm für eine ökologische, demokratische, nichthierarchische Gesellschaft weiter, das er »soziale Ökologie« nannte.
In den 60ern versuchte er, die Neue Linke – die revolutionären Studenten-, Schwarzen- und Antikriegsbewegungen – davon zu überzeugen, Bürgerversammlungen einzuberufen. Aber die Bewegungen waren mehr an einer internationalen proletarischen Revolution interessiert, in Solidarität mit Castro, Guevara, Ho und Mao.
In den 70ern blühte eine ökologisch orientierte Gegenkultur auf, die Genossenschaften und Bio-Betriebe gründete, sich für den Frieden einsetzte und gegen die Atomkraft protestierte. Der Anarchismus wurde nun populär, vor allem dank Bookchin selbst. So versuchte er, die Anarchist:innen davon zu überzeugen, dass Bürgerversammlungen ihre natürliche politische Institution seien. Aber Anarchist:innen mochten Demokratie nicht, weil sie mit Abstimmungen und dem Akzeptieren von Mehrheitsentscheidungen verbunden war.
Trotz dieser Rückschläge arbeitete Bookchin in den 80er Jahren sein Demokratieprogramm aus, das heute als »libertärer Kommunalismus« bezeichnet wird. Das Stadtviertel und die Stadt, sagte er, könnten zu einem revolutionären Schauplatz werden. Er plädierte für die Demokratisierung der Kommunen hin zu Bürgerversammlungen, um dann eine kommunalistische Revolte gegen den Nationalstaat und den Kapitalismus durchzuführen. Auch die physische Form der Stadt könnte dezentralisiert werden. Durch die Umgestaltung der Städte in Nachbarschaftsgemeinschaften und die Umgestaltung der technologischen Ressourcen nach ökologischen Gesichtspunkten schlägt der libertäre Kommunalismus vor, Stadt und Land in ein kreatives Gleichgewicht zu bringen.
Bookchin empfahl, dass sich die Versammlungen auf kommunaler und regionaler Ebene und darüber hinaus zusammenschließen sollten. Sie würden Delegierte in konföderale Räte entsenden, um die Politik zu koordinieren und zu verwalten. Die Macht würde von unten nach oben fließen. Die Konföderationen würden die wichtigsten Wirtschaftsgüter enteignen und die Wirtschaft »kommunalisieren«, d. h. sie in Gemeinschaftseigentum überführen. Das Wirtschaftsleben wäre Teil der öffentlichen Aufgaben der konföderierten Versammlungen, die die materiellen Lebensgrundlagen zum Nutzen aller verteilen würden. Wenn sich mehr Gemeinden demokratisiert und zusammengeschlossen hätten, würden sie eine Doppelmacht neben dem Nationalstaat und dem kapitalistischen System bilden. Indem sie den Willen des Volkes ausdrücken, würden die Konföderationen zu Hebeln für einen Machttransfer werden.
In den 80ern, als in Nordamerika und Europa grüne Bewegungen aufkamen, versuchte Bookchin, sie von diesem Programm zu überzeugen. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie eher an der Gründung konventioneller, von oben gesteuerter politischer Parteien interessiert waren.
Schließlich wandte er sich in den späten 90ern noch einmal an die Anarchist:innen und argumentierte, dass das Ideal kollektiv selbstverwalteter Kommunen, die sich in Verbänden zusammenschließen, Teil ihrer Geschichte sei. Aber wieder lehnten sie die Idee mit der Begründung ab, dass kommunale Regierungen nichts anderes als Nationalstaaten im Kleinen seien, und dass es nichts potentiell Befreiendes an ihnen gäbe. Bookchin gehöre nicht in ihre Bewegung, wurde ihm gesagt – er sei ein »Klotz am Bein«.
Als er spürte, dass seine Kräfte schwanden, zog sich Bookchin aus dem politischen Leben zurück, in der Hoffnung, dass irgendwann in der Zukunft eine Bewegung entstehen würde, die die Idee der Bürgerversammlungen ernst nehmen würde. Sollte dies jemals der Fall sein, würden seine Schriften bereitstehen. Es war in diesem Moment, dass Abdullah Öcalan ihm aus seinem Einzelhaftgefängnis auf der Insel İmralı schrieb.[1]
Bookchins Bücher auf İmralı
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 war Öcalan zu dem Schluss gekommen, dass das kurdische Volk auf den historischen Moment reagieren und sein bis dahin marxistisches Programm neu überdenken müsse. Bei seinem Prozess 1999 forderte er eine Demokratisierung der türkischen Republik, die allen Bürger:innen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen Leben der Türkei garantiert. Seine Forderung wurde ignoriert, und er wurde wegen Hochverrats verurteilt.
In der Einzelhaft durfte er nur eine Stunde pro Woche von seinen Anwält:innen besucht werden. Während dieser Besuche in den frühen 2000ern bat Öcalan seine Anwält:innen oft, Freund:innen um Empfehlungen für Bücher zu bitten. […] Eines dieser Bücher, das die Anwält:innen nach İmralı brachten, war von Bookchin. Als Öcalan es las, schien er in dem Autor einen verwandten Geist zu erkennen. Im Jahr 2002 schrieb er in seinen Gefängnisaufzeichnungen: »Ich empfehle dieses Buch für die Gemeinden.« Danach bat Öcalan um weitere Bücher von Bookchin und bekam sie auch. Bald wurde klar, dass er an einem »Paradigmenwechsel« auf der Grundlage der sozialen Ökologie und des libertären Kommunalismus arbeitete.
Schriftwechel zwischen Öcalan und Bookchin
Im Jahr 2004 schrieben Oliver Kontny und Reimar Heider, damals über dessen Anwält:innen in Kontakt mit Öcalan, eine E-Mail an Bookchin, in der sie Öcalans Interesse an seiner Arbeit bekundeten und um einen Gedankenaustausch baten. Bookchin war überrascht, von dem verurteilten PKK-Führer angesprochen zu werden. Als er einige Tage später antwortete, drückte er seine Freude darüber aus, von Öcalan zu hören, und empfahl seine ins Türkische übersetzten Bücher, ohne zu wissen, dass Öcalan sie bereits gelesen hatte.
Die beiden Vermittler leiteten diesen Brief an Öcalan weiter. Etwa einen Monat später, im Mai 2004, schrieben Kontny und Heider einen zweiten Brief an Bookchin, in dem stand, dass Öcalan »betonte, dass er denkt, ein gutes Verständnis Ihrer Ideen erworben zu haben« und »von sich selbst als ‚gutem Schüler‘ von Ihnen sprach«. Er »erläutert das Konzept einer öko-demokratischen Gesellschaft und die praktische Umsetzung des libertären Kommunalismus in Kurdistan«. Und er sagte, dass »die kurdische Freiheitsbewegung entschlossen sei, Ihre Ideen erfolgreich umzusetzen.«
Einige Tage später antwortete Bookchin und teilte den Vermittlern mit: »Ich freue mich, dass er meine Ideen zum libertären Kommunalismus für hilfreich hält, um über ein zukünftiges kurdisches Gemeinwesen nachzudenken. […] Ich bin nicht in der Lage, einen ausführlichen theoretischen Dialog mit Herrn Öcalan zu führen, so gerne ich das auch tun würde. […] Ich hoffe, dass das kurdische Volk eines Tages in der Lage sein wird, eine freie, rationale Gesellschaft zu errichten, in der sich seine Brillanz wieder entfalten kann. Sie können sich glücklich schätzen, eine führende Person mit den Talenten von Herrn Öcalan zu haben, die ihnen Führung gibt.«
Einige Monate später, am 27. Oktober, schrieb Öcalan erneut in seinen Gefängnisaufzeichnungen: »Für die Gemeinden habe ich vorgeschlagen, Bookchin zu lesen und seine Ideen zu praktizieren.«[2] Am 1. Dezember schrieb er: »Die Weltanschauung, für die ich stehe, steht der von Bookchin nahe.«
Öcalan fuhr fort, ein basisdemokratisches Programm für die kurdische Bewegung zu entwickeln. Im März 2005 veröffentlichte er die »Erklärung des Demokratischen Konföderalismus in Kurdistan«, in der er »eine Basisdemokratie […] auf der Grundlage der demokratischen kommunalen Struktur der natürlichen Gesellschaft« forderte. Es sollten »Dorf-, Stadt- und Gemeindeversammlungen eingerichtet werden, deren Delegierte mit der tatsächlichen Entscheidungsfindung betraut werden, was in der Tat bedeutet, dass das Volk und die Gemeinschaft entscheiden werden.« Diese demokratischen Institutionen würden sich ausbreiten, schlug er vor, so dass die gesamte Türkei demokratisiert werden würde. Die Versammlungen würden dann die nationalen Grenzen überschreiten, die demokratische Zivilisation in die Region bringen und nicht nur Freiheit für die Kurden, sondern eine demokratische konföderale Union im gesamten Nahen Osten schaffen.
Bookchins Vermächtnis
Als Bookchin im Juli 2006 starb, würdigte die PKK ihn als »einen der größten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts« und erklärte, Bookchin habe »gezeigt, wie man ein neues demokratisches System in die Realität umsetzt«. Die Versammlung beschloss, »dieses Versprechen in die Praxis umzusetzen, als erste Gesellschaft, die einen greifbaren Demokratischen Konföderalismus errichtet«.
Im Jahr 2007 erstellte die PYD in Syrien ihr »Projekt der demokratischen Selbstverwaltung in Westkurdistan« und begann, sich im Geheimen zu organisieren, um den Demokratischen Konföderalismus in die Praxis umzusetzen. Im Juli 2011 wurde auf einem außerordentlichen Kongress in Amed (tr. Diyarbakır) die »Demokratische Autonomie« erklärt. Bald entstanden in den kurdischen Städten innerhalb des türkischen Staates demokratische Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen: Versammlungen, Räte, Komitees und Genossenschaften. Es handelte sich um eine entstehende Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, eine beginnende Doppelmacht zum türkischen Staat.
Vier Jahre später, im März 2011, begann der Aufstand in Syrien, und die kurdische Bewegung stürzte sich in die Arbeit und gründete Räte in Stadtvierteln, Dörfern, Bezirken und Regionen. Als das Assad-Regime im Juli 2012 abzog, war ein System von Versammlungen und konföderalen Räten eingerichtet und hatte die Unterstützung der Bevölkerung gewonnen.
Ich denke, Bookchin hätte sich über diese Entwicklungen in den beiden Teilen Kurdistans ebenso gefreut wie ich, als ich Rojava im Dezember 2014 besuchte. Ob im Nahen Osten oder anderswo, für Bookchin war die Versammlung ein ethischer Prozess. Er schrieb: »Unsere Freiheit als Individuen hängt stark von gemeinschaftlichen Unterstützungssystemen und Solidarität ab. […] Was uns als soziale Wesen, hoffentlich mit rationalen Institutionen, auszeichnet, […] sind unsere Fähigkeiten zur Solidarität untereinander, zur gegenseitigen Förderung unserer Selbstentfaltung […] und zur Erlangung von Freiheit innerhalb eines sozial kreativen und institutionell reichen Kollektivs.«
Janet Biehl, die Autorin des Textes, begleitete Bookchin in seinen letzten 19 Jahren und arbeitete mit ihm zusammen. Sie ist auch die Autorin seiner Biographie und Übersetzerin einiger Bücher mit Bezug zu Kurdistan.[3]
[1] Die Korrespondenz zwischen Bookchin und Öcalan wurde von der HuffPost in dem Artikel »America›s Best Allies Against ISIS Are Inspired By A Bronx-Born Libertarian Socialist« veröffentlicht (https://www.huffpost.com/entry/syrian-kurds-murray-bookchin_n_5655e7e2e4b079b28189e3df).
[2] Insbesondere empfahl Öcalan die Bücher »The Rise of Urbanization and the Decline of Citizenship« (1987, nicht auf deutsch erschienen) und »Die Neugestaltung der Gesellschaft. Pfade in eine ökologische Zukunft.« (Im englischen Original: »Remaking Society«, 1990) von Bookchin.
[3] Die Biographie über Bookchin erschien auf Englisch als »Ecology or Catastrophe: The Life of Murray Bookchin« (Oxford, 2015). Übersetzt hat sie vom Deutschen ins Englische u.a. »Revolution in Rojava: Democratic Autonomy and Women›s Liberation«, von Knapp, Ayboga, und Flach (Pluto, 2016). Erst kürzlich brachte sie als Autorin und Illustratorin das Buch »Reise nach Rojava« (Unrast Verlag, 2022) heraus.