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Regime Change von Rechts – was ist unsere Antwort? – Die Leitstrategie der Neuen Rechten

  • April 8, 2025
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Hannah Bückner und Milo Marcks, Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)¹ 2023 erschien das Buch »Regime Change von Rechts« des Neo-Nationalsozialisten ­Martin Sellner. In diesem Buch schlägt er eine Leitstrategie

Regime Change von Rechts – was ist unsere Antwort? – Die Leitstrategie der Neuen Rechten

Hannah Bückner und Milo Marcks, Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)¹

2023 erschien das Buch »Regime Change von Rechts« des Neo-Nationalsozialisten ­Martin Sellner. In diesem Buch schlägt er eine Leitstrategie für die Neue Rechte vor – die sogenannte »Reconquista«. Diese wird bereits von einem größer werdenden Teil des rechten Lagers und der »bürgerlichen Mitte« umgesetzt. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, um aktuelle Ereignisse besser einordnen und ihnen etwas entgegensetzen zu können.

In den letzten Monaten haben wir uns mit der Strategie der Neuen Rechten auseinandergesetzt und dafür Sellners »Regime Change von Rechts« (2023) gelesen. Denn wir können dieser Strategie nur dann etwas entgegensetzen, wenn wir sie analysiert und verstanden haben. Wir wollen hier eine kurze Zusammenfassung seiner Ideen vorstellen.

Die »Reconquista« ist in vollem Gange

Am 6. Januar 2025 beauftragte der österreichische Bundespräsident den Vorsitzenden der rechtsradikalen FPÖ, Herbert Kickl, mit der Formierung einer Bundesregierung. Am gleichen Tag sprach die deutsche Innenministerin Nancy Faeser von »Abschiebungen krimineller Asylbewerber«. Wirtschaftsminister Robert Habeck erklärte, dass diejenigen abzuschieben seien, die »sich nicht integrieren und nicht arbeiten wollen«. Am 31. Januar 2025 stimmten Abgeordnete der Union, AfD und ein Großteil von FDP und BSW im Bundestag gemeinsam für das Unionsgesetz zur »Zustrombegrenzung«. Das Gesetz verpasste nur knapp eine Mehrheit.

Im Mittelpunkt der »Reconquista«-Strategie der Neuen Rechten steht die von ihnen so betitelte »Remigration«. Es geht dabei jedoch nicht darum, dass die AfD an die Macht kommt und die »Remigration« alleine umsetzt. Ganz im Gegenteil ist es ihr Ziel, diese Forderungen zu normalisieren, sodass auch die »großen Volksparteien« sie umsetzen. Die AfD ist dabei nur ein Mittel, um den Diskurs (auch) im Bundestag weiter nach rechts zu verschieben.

Für die Leitstrategie der Neuen Rechten ist das Werk »Regime Change von Rechts« von zentraler Bedeutung. Es wurde von dem Neonazi Martin Sellner verfasst, der einige Jahre Vorsitzender der Identitären Bewegung in Österreich war und im engen Austausch mit den Nachfolgestrukturen des rechten »Instituts für Staatsforschung« in Thüringen steht. Er pflegt unter anderem Kontakte zu Elon Musk und ist in das weltweit agierende Netz der Neuen Rechten eingebunden. Nicht erst durch das erwähnte Buch inszeniert er sich als junge, eloquente Führungspersönlichkeit des rechten Spektrums im deutschsprachigen Raum.

Sellners Analyse der politischen Rechten

Sellner beginnt mit einer Kritik an seinen Gesinnungsgenossen, insbesondere wirft er ihnen »Strategielosigkeit« vor. Durch seine Vorschläge wolle er die verschiedenen rechten Strömungen vereinen und in eine gemeinsame Richtung bewegen. Er beschwört ein Szenario mit dringendem Handlungsbedarf herauf: Die Migrationspolitik der letzten Jahre führe zu einem demographischen Kipppunkt, der nicht mehr lange aufzuhalten sei. Viele Themen des rechten Lagers blieben laut Sellner zwar relevant, aber für jegliche weitere politischen Arbeiten müsse die »Bewahrung ethnokultureller Identität und Substanz« als Voraussetzung akzeptiert werden. Aus diesem Grund schlägt er vor, alle Kräfte zunächst für das Erreichen dieses Ziels zu bündeln. Ist dies einmal gelungen, würden die verschiedenen Akteure des rechten Lagers (sozial, konservativ, libertär – wie er sie unterscheidet) wieder ihre »größeren« Pläne verfolgen können. Bis dahin brauche es aber eine »radikale Wende der Identitäts- und Bevölkerungspolitik«, um den vermeintlich drohenden »Bevölkerungsaustausch« aufzuhalten. Die ideologischen Phrasen Sellners stehen für die menschenverachtende Vorstellung, nicht nur das Recht auf Asyl bis auf wenige Ausnahmen einzuschränken, sondern im großen Stil mit verschiedenen Mitteln Menschen mit Aufenthaltsstatus als auch Staatsbürger:innen zur Ausreise aus Deutschland zu bewegen oder diese gewaltsam umzusetzen.

Linke Systemanalyse

Für die Ausarbeitung seiner Strategie bedient sich Sellner zahlreicher linker Theorien. Wichtig ist für ihn dabei das Konzept der Metapolitik, das u.a. durch die Philosophen Antonio Gramsci und Louis Althusser geprägt wurde. Der grundlegende Gedanke hinter der Metapolitik ist der, dass Macht in kapitalistischen Staaten nicht allein durch ihre gewaltsame Durchsetzung mithilfe von Militär, Polizei und Justiz gebildet wird. Vielmehr bildet sie sich durch ein ideologisches Fundament, bestehend aus zivilgesellschaftlichen, kulturellen, medialen, schulischen und teils religiösen Institutionen. Diese Institutionen vermitteln durch ihre Inhalte eine »zwangsfreie« Legitimierung des Staates, die viel effektiver wirkt, als der Versuch, die Legitimation mit Gewalt durchzusetzen; denn Gewalterfahrungen lösen meist Widerstand aus. Eine freiwillige Kooperation hat dagegen den Vorteil, dass man sich nicht beherrscht fühlt, sondern denkt, aus freien Stücken zu agieren. Damit eine Partei oder eine politische Bewegung im Allgemeinen etwas bewegen kann, ist das Erlangen metapolitischer Macht – also an den Kern des ideologischen Fundaments zu kommen – relevanter als parlamentarische Mehrheiten.

Metapolitik ist kein neues Thema der Rechten. Joseph de Maistre (1753-1821), gegenaufklärerischer, absolutistischer Zeitgenosse der Französischen Revolution, sah den Erfolg der Revolution vor allem in der Aufklärung, welche aus heutiger Sicht als Metapolitik verstanden werden kann. Die Aufklärung war eine Kulturrevolution, die der französischen Revolution als eigentliche politische Revolution vorangestellt war. Politische Theaterstücke, Flyer oder Karikaturen prägten die Gesellschaft und ebneten den Weg für die politischen Veränderungen.

Laut Sellner zwang die Niederlage der Linken im Nationalsozialismus diese zu einer schonungslosen Analyse. Durch tiefgreifende Theorien von z.B. Althusser und Poulantzas sei ihr dies auch gelungen. Linke Kräfte hätten ihre Aktivitäten fortan metapolitisch ausgerichtet und damit die Kulturrevolution der 1968er erreicht. Es gäbe zwar schon lange eine rechte Auslegung von Gramscis Theorien, diese seien aber immer nur theoretisch geblieben. Bei Linken ginge sie Hand in Hand mit der Praxis. Die »metapolitische Wühlarbeit linker Bürgerrechtsbewegung, Studentenbewegung, Thinktanks und NGOs war nachhaltiger.«

Der Autor macht also keinen Hehl daraus, dass er sich für seine Leitstrategie vor allem bei linken Theoretiker:innen bedient. Das einzige, was daran rechts bleibt, ist die Weltanschauung – und damit auch die konkrete Praxis und Politik. Er fasst es selbst zusammen: »Diese historische Genese zeigt, dass die Leitstrategie der Reconquista das Ergebnis einer neurechten Weltanschauung in Verbindung mit marxistischer Systemanalyse und Revolutionstheorie sowie progressiv-linksliberaler Praxis ist.«

Das Konzept des »Sanften Totalitarimus«

Das politische System, in dem wir uns bewegen, bezeichnet er als »Sanften Totalitarismus«. Im Grunde bleibt er auch hier Analysen linker Theoretiker:innen treu. Vier Ebenen ließen sich beschreiben:

Mit »Meinungsklimaanlage« beschreibt Sellner Mechanismen zur »Desinformation, Meinungskontrolle, Sedierung und mentalen Steuerung« der Bevölkerung. Das gesellschaftliche Klima sei nicht das Ergebnis eines evolutionären Wettbewerbs der besten Argumente auf dem »Markt der Ideen«, sondern werde künstlich durch eine sogenannte »Meinungsklimaanlage« hergestellt, die sich in den Händen seiner politischen Gegner:innen befinde. Sie werde betrieben von Massenmedien, Schulen, Universitäten, Kirchen, Gewerkschaften, der Unterhaltungsindustrie, also kurz von allem, was Gramsci als »Zivilgesellschaft« und Althusser als »ideologischen Staatsapparat« bezeichnet. Die Klimaanlage befeuere Gleichgültigkeit, durch welche die Menschen durch Konsum und Unterhaltung in Apathie verfallen würden. Je totalitärer ein Regime, desto mehr versuche es, die apolitische Zone auszuweiten. Ziel einer rechten Revolutionstheorie sei laut Sellner, »die Meinungsklimaanlage auszuschalten«.

Die zweite Ebene ist das Overtonfenster, das auf den amerikanischen Politologen Joseph Overton zurückgeht. Es beschreibt einen Meinungskorridor der gesellschaftlich vertretbaren Ansichten. Nach Sellner sei das Fenster aktuell stark nach links verrutscht (Anmerkung der Autor:innen: Wir können jeden Tag beobachten, wie es sich weiter nach rechts bewegt!). Links, oder wie Sellner es nennt, Globalismus, stehe heute für Fortschritt, Offenheit und Zukunft; Rechts gelte als überholt und veraltet. Deswegen würden beispielsweise rechte Sticker in deutschen Großstädten schneller entfernt werden als linke. Ziel der Rechten sei es demnach, das Fenster des Sagbaren nach rechts zu verschieben.

Darin sind die Neuen Rechten aktuell leider sehr erfolgreich.

Die dritte Ebene beschreibt die vier »Filter der Repression«, mit deren Hilfe ein Staat nach Sellners Buch, unliebsame Aktivitäten bestrafe. Die erste Maßnahme sei sozialer Druck, der durch eine mediale Dämonisierung, Isolation oder das Aufkündigen von Freundschaften ausgeübt werden könne. Viele würden bereits daran zerbrechen, bevor es überhaupt zu Repression durch den Staat komme. Darauf würde der wirtschaftliche Druck durch Kündigung, Verlust von Arbeitsplatz und Aufträgen oder Sperrung von Konten folgen. An diesem Punkt würden die meisten oft aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer eigenen Familie die politische Arbeit aufgeben. Den dritten Filter beschreibt er als »terroristischen Druck«, der sich durch »linksextreme Angriffe« äußere und durch die Presse verharmlost werde. Das vierte und letzte Druckmittel sei der juristische Prozess, der zermürben würde und häufig ein finanzielles Ausbluten der Beteiligten zur Folge habe.

Als Überleitung von der Analyse zur Entwicklung der Strategie geht Sellner auf den »Fließkreislauf der Macht« ein. In diesem Kreislauf gebe die herrschende Ideologie (also Metapolitik) dem Staat Legitimation und Autorität. Durch diese Autorität könne der Staat wiederum über das Volk herrschen. Durch Akzeptanz und Kooperation würde das Volk als dritten Schritt die herrschende Ideologie stützen und bekräftigen, wodurch es dann wiederum die Herrschaft durch den Staat legitimiere. Dieser »Fließkreislauf« ist eine Darstellung der ­Ideen von Gramsci und Althusser. Sellner zitiert in diesem Zusammenhang Hannah Arendt: Die Macht des Staates entstehe durch »fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird, ohne dass Zwang und Überredung notwendig sind.«

Fokus auf die herrschende Ideologie, statt auf den Staat

Aus dem »Fließkreislauf« ergeben sich für Sellner verschiedene Implikationen. Schwächen im ideologischen Staatsapparat würden den Zwang erhöhen, den der Staat auf die Bevölkerung ausübe; z.B. durch die vier »Filter der Repression«. Höherer Zwang und direkte Gewaltanwendung durch den Staat würden aber immer zu seiner Entlarvung und zum Widerstand der Beherrschten führen.

Anderseits zeige der »Fließkreislauf«, dass es leichter sei, dem Lauf zu folgen, als gegen ihn zu arbeiten. Direkter Widerstand gegen den Staat, z.B. durch Militanz, sei zum Scheitern verurteilt, da der Staat durch die herrschende Ideologie geschützt sei. Sellner spricht sich (vermutlich eher aus taktischen als aus moralischen Gründen) sehr klar gegen Konfrontation aus. Leichter sei es, der herrschenden Ideologie die Akzeptanz und Kooperation durch das Volk zu entziehen, sprich: Metapolitik zu betreiben. Es gehe also darum, durch Kampagnen und Aktivismus Non-Kooperation bis hin zu zivilem Ungehorsam der Bevölkerung zu stärken. Dafür seien Mehrheiten für rechte politische Parteien zwar hilfreich, aber keine notwendige Bedingung. Aus unserer Sicht als Autor:innen ist ein Verständnis über diese Ausrichtung der Neuen Rechten essentiell, um aktuelle politische Entwicklungen entsprechend einzuordnen.

Im weiteren Verlauf des Buches entwickelt Sellner das »Reconquista«-Narrativ. Dazu grenzt er es zunächst von sogenannten »Non-Strategien« und schlechten Strategien ab. »Non-Strategien« sind für den Autor Strategien, die als solche erscheinen oder verkauft werden, aber in Wirklichkeit keine seien. Beispiele für Non-Strategien seien u.a. der Rückzug aufs Land (»Arche-Noah-Taktik«), der alleinige Fokus auf eine Änderung der Verfassung, soziale Medien (»Infokrieg«) oder Bewegung auf der Straße (»Demowende«). Als wenig hilfreiche Strategien geht er – insbesondere als Antwort auf innerrechte Diskurse und Tendenzen – auf Militanz und »Parlamentspatriotismus« ein. Er arbeitet beide als klare Irrwege heraus und grenzt sich von der »alten Rechten« sowie Reichsbürgern ab. Diese würden sich subkulturell verhalten und keine strategischen Diskussionen führen. Eine Kooperation mit diesen altrechten Kräften sei daher kaum möglich.

Die Phasen der »Reconquista«

Der kurzen Darstellung der »Reconquista« möchten wir einen Punkt voranstellen: Der Plan und die darin vorgestellten Phasen sind keine bloße Theorie, sondern werden bereits umgesetzt. Aktuell sehen wir, wie sich die zweite Phase in der Umsetzung befindet.

In der »Vorbereitungs- und Profilierungsphase« (1. Phase) gehe es laut Sellner darum, einen Diskurs über die Vorgehensweise zu führen und diese als eine gemeinsame Vorgehensweise zu etablieren. Dabei sollten sich Bewegung und Partei gut vernetzen; auf organisatorischer Ebene gehe es darum, kampagnenfähig zu werden. Eine Gegenkultur sollte aufgebaut und mittels aktivistischer Avantgarde die neurechte Weltanschauung propagiert werden. Dies gelinge z.B. über die Etablierung bestimmter Begriffe (»Bevölkerungsaustausch«, »Ersetzungsmigration«, »Identität«, »Remigration«). In diesem Kontext ist die Wahl des Begriffes »Remigration« zum Unwort des Jahres 2023 ein großer Erfolg, denn sie verhalf ihm zu noch größerer Popularität.

In der »Dispersions- und Aufbauphase« (2. Phase) gehe es zum einen um den Aufbau von »People Power« (mindestens drei Prozent der deutschen Bevölkerung), zum anderen um die weitere Normalisierung und Popularisierung eigener Begriffe und Konzepte (Verschiebung des Overton-Fensters). Sellner beschreibt genauer, wie er sich People Power vorstellt: Drei Prozent der Bevölkerung würden in die rechte Bewegung eingebunden sein, d.h. sie würden nicht nur rechte Parteien wählen, sondern wären selber Teil der Bewegung. Diese Orientierungszahl stammt von Gene Sharp, einem US-amerikanischen Politikwissenschaftler, der sich mit einem gewaltfreien Politikwechsel durch Non-Kooperation, wirtschaftliche Boykotts, Streiks und gewaltfreie Interventionen beschäftigte.

Gearbeitet werden sollte in dieser Phase mit anschlussfähiger Provokation. Es gelte herauszufinden, was gesellschaftlich gerade noch akzeptabel sei, um an dieser Stelle den Diskurs weiter im eigenen Sinne zu verschieben. Genauso würde an der Etablierung von Konzepten und Begriffen gearbeitet, z.B. den Begriff »Remigration« auf dem Fronttransparent einer großen Demo zu präsentieren. In dieser zweiten Phase sei mit Repression zu rechnen. Sellner beschreibt, wie auch diese Repression metapolitisch genutzt werden könne, ohne sich in ihr zu verlieren. Als ein Beispiel dafür sehen wir die zahlreichen veröffentlichten Videos, in denen die Identitäre Bewegung versucht, die gegen sie eingesetzte »Repression« zu skandalisieren.

Die »Konzentrations- und Umsetzungsphase« (3. Phase) beschreibt die letzte Phase der Reconquista. »Sie stellt einen koordinierten, massenbasierten Tabubruch dar, der die Meinungsklimaanlage derart überlasten soll, dass sie zusammenbricht.« Die ersten beiden »Filter der Repression« (sozial & wirtschaftlich) würden dann keine Wirkung mehr zeigen.

Sellner beschreibt den Zustand in der 3. Phase: »Die herrschende Elite ist uneinig, Krisen erschüttern das System und die Widersprüche zwischen Wirklichkeit und herrschender Ideologie sind offenkundig.« Während die Kampagnen in Phase 2 vor allem vorbereitenden Charakter hätten, sollten sie in Phase 3 die Situation zuspitzen.

Ziel sei zunächst der »Social Change«, wofür Sellner auch den Begriff »Orbanisierung« (nach Viktor Orban, dem Präsidenten Ungarns) verwendet. In Ungarn habe man es durch jahrelange metapolitische Vorarbeit geschafft, staatspolitische Gestaltungsmacht zu erlangen und damit das Ziel zu erreichen, den »Erhalt ethnokultureller Identität« in der Verfassung festzuschreiben. Spannend an dem Beispiel ist, dass die Regierungspartei Fidesz die Politik einer noch rechteren Partei (also quasi einer rechten Hilfsflanke), der Jobbik, umsetzte. Sellner lässt offen, ob es für die Neue Rechte auch im deutschsprachigen Raum Sinn mache, mit mehr als einer rechten Partei zusammen zu arbeiten. Das Treffen verschiedener rechter Kräfte in Potsdam am 25. November 2023 und andere Hinweise lassen erahnen, dass die Neue Rechte nicht nur in der AfD gut vernetzt ist. Dass aktuell die CDU die Politik der AfD vorantreibt und sich dabei weiterhin als »Partei der Mitte« zu inszenieren versucht, zeigt, wie sehr diese Strategie aufgehen kann.

Sollte es aber in der dritten Phase nicht möglich sein, den »Social Change« herbeizuführen, müsse auf den »Regime Change« gesetzt werden. Dazu verwendet Sellner den Begriff der »Maidanisierung« (nach der Besetzung des zentralen Maidan-Platzes in Kiew 2013-2014). »Regime Change« werde notwendig, wenn der Staat nicht mehr nur auf »sanften«, sondern auf »offenen« Totalitarismus setzt. In diesem Fall brauche es die Bewegung auf der Straße: Platzbesetzungen, Streiks und massive Non-Kooperation. Die Auseinandersetzung müsse so weit geführt werden, bis Sicherheitskräfte oder einzelne Politiker:innen die Seiten wechseln würden. Durch einen Wechsel in der Regierung könne dann wieder auf den »Social Change« durch Metapolitik gesetzt werden.

Über die gesamte dritte Phase hinweg bleibt das Ziel der Reconquista-Strategie also, staatspolitische Gestaltungsmacht zu erlangen. Über die Maßnahmen, die daraus folgen sollen, hat Sellner 2024 ein weiteres Buch geschrieben. Darin behandelt er konkrete Vorschläge und Rechenbeispiele zur Umsetzung der von ihm gewünschten »Remigration«.

Fragen der Persönlichkeit

Neben strategischen Aspekten behandelt Sellner im Buch auch das Thema Persönlichkeit. Er endet mit dem Kapitel »Was tun?« – ein direkter Bezug auf den russisch-kommunistischen Revolutionär Lenin. Aus dem Wissen heraus, dass eine Strategie noch so wohldurchdacht sein kann und doch keinen Erfolg hat, wenn sie nicht korrekt realisiert wird, fragt Sellner, was einen guten Aktivisten ausmacht. Es gehe darum

– emotional stabil, statt von der Organisation abhängig zu sein

– seinen eigenen Platz zu finden, mit realistischen Selbsteinschätzungen und der Möglichkeit, bei Bedarf verschiedene Rollen einzunehmen

– sich zu vernetzen, Einzelkämpfertum entgegenzuwirken, in den Gruppen zu motivieren und so Spaltung entgegenzuwirken.

Das Buch endet mit folgendem Zitat von Lenin: »Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung.«

Was also tun?

Im Angesicht einer neuen Rechten, die weltweit vernetzt ist, und zunehmend nicht nur vom deutschen mittelständischen Kapital getragen wird – Elon Musk bezieht sich nicht nur auf die AfD, sondern auch direkt auf Martin Sellner – stehen wir einem gut organisierten Gegner mit enormen Kapitalressourcen und klarer Zielsetzung gegenüber.

Die Situation sollte realistisch betrachtet und die eigene Organisation mit gebührendem Fokus aufrechterhalten werden. Beschäftigung mit den theoretisch-ideologischen Grundlagen der Neuen Rechen kann dahingehend motivieren und stärken, denn sie ermöglicht eine bessere Einordnung der Geschehnisse und kann verhindern, in Denkweise und Methodik des politischen Gegners eingespannt zu werden.

Einige der von Sellner vorgestellten Muster reihen sich in eine lange sozialistische Tradition ein. Wir – und nicht Sellner oder andere Rechte – stehen in dieser Tradition. Vieles über die Funktionsweise von Macht finden wir in unserem eigenen Paradigma wieder, nämlich jenem der demokratischen Moderne. Um die demokratische Moderne zu stärken, wurden diese Analysen entwickelt. Dass linke Systemanalysen zutreffen, sehen wir leider an der Effektivität neurechter Metapolitik.

Martin Sellner verlässt – und das entspricht unserer Analyse von Faschismus – trotz gegenteiliger Darstellung in keinster Weise die kapitalistische Moderne. Er stärkt das faschistische Potential, das permanent darin liegt. Sicherlich bedient die Neue Rechte mit ihrem Fokus auf eine vermeintlich einheitliche deutsche Identität eine Leerstelle, die viele linke und liberale Kräfte in den letzten Jahrzehnten haben entstehen lassen. Als Gegenentwurf zu einem neuen »Deutschland den Deutschen« setzen wir das Konzept der demokratischen Nation. Die demokratische Nation beschreibt das Zusammenleben verschiedener Identitäten in Einheit und Vielfalt auf der Basis demokratischer Werte.

Die Frage nach der eigenen Existenz und Identität liegt allen Gesellschaften zugrunde. Das nationale Bewusstsein, das Bewusstsein über die Gemeinsamkeit von Werten, Sprache, Kultur und Geschichte, stellt eine Antwort auf diese Frage dar. Die Identität als Unterschied zu anderen zu begreifen, ihre Besonderheit anzuerkennen, ist Grundlage, um wiederum Einigkeit in der Vielfalt anerkennen zu können. Die Entwicklung eines Bewusstseins für die eigene Nation ist nicht gleichbedeutend damit, zum Staat, also zur Staatsnation, zu werden. Zur Staatsnation zu werden, basiert auf der Ideologie des Nationalismus, der alle Aspekte der Identität der Gemeinschaft extrem nationalisiert, ihre vermeintliche Überlegenheit anderen gegenüber betont und somit die Gesellschaft wie in keinem anderen Maße zum Teil der Macht und Ausbeutung werden lässt. Regionale Identitäten, basierend auf einem starken Bewusstsein über ihre Geschichte und Werte, sind der Ausgangspunkt für eine demokratische Nation. Auf diese Weise lässt sich das vermeintlich alternativlose Entweder-oder zwischen globalistisch-neoliberaler und konservativ-nationalstaatlicher Ideologie auflösen.

Wir werden der Suche nach lokaler, widerständiger Geschichte weiterhin nachgehen, den Aufbau lokaler Selbstverwaltung stärken und uns über ethnische und kulturelle Grenzen hinweg mit denjenigen verbinden, die für die Stärkung der demokratischen Moderne kämpfen.

¹ www.i-dk.org