Die demokratische Nation als Antwort auf die Krisen unserer Zeit
Für die Zukunft Israels zeichnen sich zwei Wege ab
Zusammengestellt aus dem »Manifest für eine demokratische Zivilisation«1
von Abdullah Öcalan
Solange nationalstaatliches Denken, sei es in Form eines religiösen oder eines säkularen Nationalismus, fortbesteht, sind weitere Desintegration und Konflikte in diesen Gesellschaften vorprogrammiert.
Die Katastrophen der nationalstaatlichen Sackgasse erleben wir derzeit sehr deutlich in Afghanistan und seinen Nachbarregionen: An der afghanisch-pakistanischen Grenze, beim damit zusammenhängenden Kaschmirproblem oder beim pakistanisch-indischen und pakistanisch-bangladeschischen Problem. Es liegt in der Natur der Sache, dass nationalstaatliche Auswege aus Konflikten zu Lösungslosigkeit und Krieg führen. Die genannten konkreten Beispiele veranschaulichen dies sehr gut. In Afghanistan wurde versucht, sowohl republikanische, monarchische als auch realsozialistische Nationalstaatsmodelle anzuwenden. Das Ergebnis ist eine zusammengebrochene afghanische Gesellschaft, die die Fähigkeit verloren hat, sich in einem Umfeld blinder, entfesselter Gewalt zu behaupten.
Außer den Theorien und Konzepten der demokratischen Nation gibt es keine andere Geisteshaltung und keine andere Perspektive, die diese Gesellschaften umgestalten und zu einem freieren und demokratischeren Leben führen könnten. Gesellschaftliche Probleme können nicht strukturell gelöst werden, wenn wir die Frage der Geisteshaltung außer Acht lassen. Und die Geisteshaltung der demokratischen Nation stellt den geeignetsten integrativen Rahmen für Kulturen und Völker von Zentralasien bis Indien dar. Darüber hinaus haben die Kulturen und Völker in diesen Regionen ihre Existenz und Einzigartigkeit nur dadurch bewahren können, dass sie ihre kollektiven und konföderalen Lebensformen auch unter verschiedenen Herrschaftsformen – wenn auch nicht in ihrer vollen Entfaltung – erhalten konnten.
Solange nationalstaatliches Denken, sei es in Form eines religiösen oder eines säkularen Nationalismus, fortbesteht, sind weitere Desintegration und Konflikte in diesen Gesellschaften vorprogrammiert. Indem sie den Islam, dem sie sich angeblich so verbunden fühlen, als Ideologie des Terrorismus darstellen, verleugnen sie auch diese Tradition. Für diese Gebiete wie auch für den Iran ist es notwendig, zunächst auf lokaler Ebene und dann im Verbund mit den regionalen Nachbarn eine Selbstorganisation im Sinne der demokratischen Nation zu entwickeln. Insbesondere für Nationalstaaten wie Pakistan, die sich bereits in einer Phase des inneren Zerfalls befinden, ist das Projekt der demokratischen Nation, das im gesamten Mittleren Osten entwickelt werden muss, die beste Alternative.
In der Analyse der Realität Israels, des hegemonialen Vorreiters des Nationalstaates, spielen Theorien und Konzepte der demokratischen Nation eine entscheidende Rolle. Für die Zukunft Israels zeichnen sich zwei Wege ab. Der erste Weg ist, dass Israel sich zu einem regionalen Imperium entwickelt, indem es ständig Kriege führt, um seine Hegemonie mit seiner gegenwärtigen Linie aufrechtzuerhalten. Es ist bekannt, dass Israel das hegemoniale Projekt verfolgt, seine Einflusssphäre vom Nil bis zum Euphrat und darüber hinaus auszudehnen. Trotz einiger Fortschritte ist der Staat Israel noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Die jüngste Konfrontation mit dem Iran, der ähnliche hegemoniale Ziele verfolgt, hat zu Spannungen zwischen beiden Ländern geführt. Spannungen gibt es in dieser Hinsicht auch mit der Türkei. Es findet also ein regionaler Hegemonialkampf statt, der sehr konfliktreich sein wird. Diese Hegemonialkämpfe resultieren aus der Idee des Nationalstaates und werden sich in Zukunft zwangsläufig verschärfen.
Der zweite Weg für Israel und das jüdische Volk besteht darin, aus der Umzingelung durch seine Feinde auszubrechen und sich dem Projekt einer Konföderation demokratischer Nationen im Nahen und Mittleren Osten anzuschließen. Das geistige und materielle Kapital, das Israel zur Verfügung steht, kann in diesem Projekt eine sehr wichtige Rolle spielen. Israel könnte sich nicht nur als demokratische Nation konsolidieren, sondern auch den dauerhaften Frieden und die Sicherheit erreichen, die es so dringend braucht.
Die Perspektive der demokratischen Nation und der konföderalen Selbstverwaltung
Im Irak gibt es statt eines Nationalstaates quasi drei staatsähnliche Gebilde [gemeint sind die kurdische Autonomieregion im Norden, das sunnitisch dominierte Gebiet im Zentralirak und die schiitischen Gebiete im Süden des Landes; Anm. d. Red.], in Israel-Palästina haben wir drei Staatsgebilde [Israel, Westjordanland und Gaza; Anm. d. Red.], und in Afghanistan werden die Probleme in Mikrostaaten verlagert, die von Stammesführern und Warlords kontrolliert werden. Wenn zu den vorhandenen und ohnehin schon schwerfälligen Macht- und Staatseliten noch weitere hinzukommen, führt das zu noch mehr Unterdrückung und Ausbeutung. Das wiederum bedeutet mehr soziale Probleme und Konflikte.
Wenn es der Revolution in Kurdistan hingegen gelingt, die Lösung der demokratischen Nation durch die Schaffung konföderaler Selbstverwaltungen zu institutionalisieren, kann dieses Modell zu radikalen Veränderungen bei der Lösung der jahrtausendealten Probleme und Krankheiten der Staatlichkeit im Nahen und Mittleren Osten führen. Was die Völker und Kulturen der Region dringend brauchen, ist Demokratie. Jede andere Lösung, die auf Machtexperimenten und staatlicher Gewalt beruht, wird die Probleme nur verschärfen und das gesellschaftliche Leben kaum noch aufrechterhalten können. Die bisher erprobten Wege und »Lösungen« beweisen dies zur Genüge.
Die westliche Hegemonie hat zwar nicht die Kraft, sich im Nahen und Mittleren Osten zu institutionalisieren, aber es ist ihr gelungen, die Region durch die Bildung von Nationalstaaten an ihr System zu binden. Gegenwärtig erleben wir jedoch das Scheitern dieser Methode. Die Strukturen, die die Revolution in Kurdistan in den Dimensionen einer demokratischen Nation hervorbringen und aufbauen wird, können die westliche Tradition umkehren. Sie kann die Konföderation demokratischer Nationen von unten entwickeln. Die demokratischen Elemente der Kulturen des Nahen Ostens sollten nicht unterschätzt werden. Die immer noch starken Stammes- und Clantraditionen und die Tradition der religiösen und sektiererischen Gemeinschaften können in eine Kraft der Demokratisierung umgewandelt werden, wenn sie mit den Prinzipien und Institutionen des Aufbaus der demokratischen Nation zusammengebracht werden.
Je stärker die despotische Macht ist, desto notwendiger und realisierbarer ist die Notwendigkeit der Demokratie. Das dürfen wir nicht vergessen. Überall dort, wo Machtstrukturen stark sind, hat die Demokratie als ihr Gegenpol ein großes Entwicklungspotential. Es ist überdeutlich geworden, dass der Nahe und Mittlere Osten mit dem bisherigen Verständnis von Nation und Macht nicht regiert werden kann.
Um die nationalen und regionalen Probleme zu lösen, ist es dringend notwendig, den Rahmen der Konföderationen demokratischer Nationen zu schaffen. Es ist klar, dass kein Staat allein die wachsenden Probleme bewältigen kann. Gerade deshalb sind Kooperation und gemeinsames Handeln der Gesellschaften unumgänglich. So kann ein nationalstaatlicher Weg Kurdistans nicht als revolutionäre Entwicklung für die Kurd:innen bezeichnet werden. Er würde den gravierenden regionalen Problemen nur ein noch gravierenderes weiteres Problem hinzufügen. Der im Irak angestrebte kurdische Nationalstaat kann nur dann eine positive Rolle in Kurdistan und im Mittleren Osten spielen, wenn er in den Prozess der Bildung demokratischer Nationen eingebettet wird. Andernfalls ist zu erwarten, dass er ähnlich schwerwiegende Probleme hervorrufen wird wie das israelisch-palästinensische.
Die Lösung, die das Modell der demokratischen Nation bietet, erfordert nicht die Negation der Nationalstaaten, sondern ihre Integration in eine demokratische Verfassungslösung. Das westeuropäische Modell einer vermeintlichen Verschränkung von Demokratie und Staatlichkeit ist nicht das einzige Lösungsmodell. Im Gegenteil, es ist ein Modell, das selbst problematisch ist und die wirkliche Lösung gesellschaftlicher Probleme verzögert. Das Modell, das im Nahen und Mittleren Osten erprobt werden muss, sollte auf einer demokratischen Verfassungslösung beruhen, die sowohl die Existenz und Autonomie der Staatsnation als auch der demokratischen Nation garantiert. Andernfalls werden die entstehenden Kooperations- und Bündnismodelle nicht über Organisationen wie die Islamische Konferenz und die Arabische Liga hinausgehen. Die demokratische Konföderation der Nationen, die unter den Nationen (der Begriff Nation bezieht sich hier auf die Supranation oder Nation der Nationen, die aus der Versöhnung der Staatsnation und der demokratischen Nation hervorgeht) gebildet werden soll, wäre zweifellos ein großer Schritt nach vorn. Sie würde nicht nur die Verwirklichung eines dauerhaften Friedens bedeuten, sondern auch die wirtschaftliche Produktivität und die kulturelle Renaissance der arbeitslosen Massen durch die Verbindung von kommunaler Wirtschaft und ökologischer Industrie ermöglichen.
Niemand kann im heutigen Informations- und Technologiezeitalter die Arbeitslosigkeit, die Ineffizienz der Wirtschaft und die Aussichtslosigkeit des kulturellen Lebens in der Region als Schicksal ansehen. Wer dies tut, ist ideologisch verblendet oder lebt unter der ideologischen Hegemonie des Systems. Nur unter dem Dach der Konföderation demokratischer Nationen wird der Nahe und Mittlere Osten die globale Rolle spielen können, die er in der Geschichte so lange gespielt hat. Wie ich immer gesagt habe, können die Kurd:innen eine zentrale Rolle beim Aufbau der demokratischen Zivilisation spielen. Das Potential der Revolution in Kurdistan und die Lösung der kurdischen demokratischen Nation bieten die ganze Kraft, die dafür notwendig ist. Die Revolution in Kurdistan ist mehr denn je eine Revolution des Mittleren Ostens. Die kurdische demokratische Nation ist der Ausgangspunkt für eine demokratische Konföderation der Nationen des Mittleren Ostens.
Deshalb wird der Weg der kurdischen Revolution über die demokratische Konföderation der Nationen des Mittleren Ostens führen. Viele regionale Bündnisse, die auf den nationalstaatlichen Einheiten der kapitalistischen Moderne basieren (nationalstaatliche Unionen in Europa, Asien, Amerika und Afrika) und die UNO haben seit ihrer Gründung keine Lösung für irgendein globales oder regionales Problem gefunden. Das liegt daran, dass die dem Nationalstaat innewohnende Lösungsunfähigkeit auch für diese regionalen Bündnisse und die UN-Einheiten gilt.
Anstelle dieser gescheiterten Beispiele ist die Bildung neuer inter- und supranationaler Bündnisse, die über die Nationalstaaten hinausgehen, eine Notwendigkeit, die keinen Aufschub duldet. So, wie es einen Bedarf für regionale Bündnisse demokratischer Nationen gibt, gibt es auch einen dringenden Bedarf für eine Weltunion demokratischer Nationen (WDU), die aus Einheiten demokratischer Nationen besteht, welche über die Nationalstaaten hinausgehen. Unabhängig davon, ob wir regional oder global denken, muss die Konföderation demokratischer Nationen ein Zusammenschluss sein, an dem nicht nur staatliche Einheiten, sondern auch demokratische Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligt sind. Weltfrieden kann nicht mit Nationalstaaten erreicht werden, die die Quelle von Kriegen sind. Gleichzeitig kann Entwicklung nicht mit den Institutionen der Moderne erreicht werden, die die Quelle von Krisen sind. Aktuelle Beispiele belegen dies eindrucksvoll. So, wie der Weltfriede nur durch demokratische Nationen möglich ist, so sind das Recht auf Arbeit und die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Völker der Welt nur durch eine gemeinschaftliche und ökologische Wirtschaft und Industrie möglich, in der die Arbeit der Freiheit der Einzelnen und der Gesellschaft dient und nicht den Finanzmonopolen des Kapitalismus, die nach irrsinnigen Profiten streben.
Fußnote
1 Zusammenstellung aus Band V. Diesen stellte Abdullah Öcalan 2010 fertig, 2012 erschien er auf Türkisch. Die deutsche Übersetzung ist noch nicht erschienen.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024