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Kenan Ayaz – kurdischer politischer Gefangener in Deutschland

  • Februar 6, 2025
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Ein Beispiel für eine Justiz, die die Kurd:innen der Außenpolitik opfert Anja Flach, Autorin und Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung und bei Gemeinsam Kämpfen.Sie hat den Prozess gegen Kenan

Kenan Ayaz – kurdischer politischer Gefangener in Deutschland

Ein Beispiel für eine Justiz, die die Kurd:innen der Außenpolitik opfert

Anja Flach, Autorin und Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung und bei Gemeinsam Kämpfen.Sie hat den Prozess gegen Kenan Ayaz als Mitglied des Komitees #FreeKenan begleitet

Am 3. September verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg den kurdischen Politiker und Aktivisten Kenan Ayaz wegen des Vorwurfs der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« gemäß § 129b StGB zu vier Jahren und drei Monaten Haft. Dem 50-Jährigen wurde vorgeworfen, sich als »Gebietsverantwortlicher« der Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK) betätigt zu haben. Dabei soll er lediglich an der Organisation von »Propagandaveranstaltungen und Versammlungen« wie Demonstrationen und Festivals beteiligt und in Spendensammlungen eingebunden gewesen sein.

Seit 2013 lebte Kenan Ayaz als anerkannter Flüchtling auf Zypern. Im März 2023 wurde er aufgrund eines von der deutschen Justiz erwirkten europäischen Haftbefehls auf Zypern festgenommen und nach Deutschland überstellt. Seit Juni 2023 befindet er sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis. Das Verfahren gegen Ayaz hatte im November 2023 begonnen.

12 Jahre unschuldig im Gefängnis unter Folter und Misshandlung

Kenan Ayaz stammt aus dem Dorf Halexe in der Provinz Mardin. In seiner persönlichen Erklärung[1] beschrieb er sein erstes Trauma: »Ich habe Türkisch unter Schlägen gelernt. Unser Lehrer hatte einen Stock. Er war sehr streng und sehr beängstigend. Er hat uns nicht nur geschlagen, wenn wir Kurdisch gesprochen haben, sondern er schlug uns auch, wenn wir Fragen nicht richtig beantworteten, entweder auf den Kopf oder auf die Handflächen. Manchmal hat er uns auch getreten und geohrfeigt«.

Die Familie schickte Kenan und seinen jüngeren Bruder nach Alanya, damit sie der Repression in den kurdischen Gebieten der Türkei nicht so stark ausgesetzt wären. Aber, so Kenan Ayaz: »Am 9. September 1993 wurde ich zusammen mit meinem 13-jährigen Bruder von der Polizei festgenommen. Ich selber war damals 18 Jahre. Grund für unsere Festnahme war die Aussage einer Person, Mehmet Tuncay, die zuvor selber festgenommen worden und der schweren Folter nicht hatte standhalten konnte. Um die Folter zu beenden, sagte er das aus, was die Polizei hören wollte, vor allem dazu, wer angeblich von den Kurden alles der PKK angehören solle (…).

Wir wurden unbeschreiblich gefoltert. Sie haben mir am ganzen Körper Stromschläge verpasst, besonders an den Händen und Zehen. Sie bespritzten mich mit kaltem Wasser, ich musste mich nackt auf den feuchten Beton legen. Sie wandten die Bastonade-Folter an: Sie zwangen mich zu Boden und schlugen mir viele Male auf die Fußsohlen.

In jenen Jahren betrug die offizielle Dauer des Gewahrsams 15 Tage in den westlichen Provinzen der Türkei und 30 Tage in Kurdistan. Ich wurde 15 Tage lang festgehalten, und 15 Tage lang wurden mir die Augen verbunden, und sie ließen mich nicht schlafen«.

Nach drei Tagen hörte Ayaz die Schreie seines Bruders nicht mehr. »Sie grinsten dreckig und sagten: ‚Wir haben ihn in die Hölle geschickt, und wenn du nicht akzeptierst, was wir sagen, schicken wir dich auch dorthin‘,« beschreibt Kenan seine Sorge um den Bruder, der sich nie wieder von der Folter erholte. In einer Nachbarzelle wurde ein Paar vergewaltigt.

»Diese 15 Tage, die ich im Gewahrsam verbrachte, waren unsagbar schrecklich. Unter diesen Bedingungen und in der unermesslichen Angst um meinen Bruder habe ich schließlich alle Papiere, die man mir vorlegte, mit geschlossenen Augen unterschrieben. Den Inhalt dieser Papiere erfuhr ich, als wir zur Staatsanwaltschaft gebracht wurden. Da hieß es, dass Mehmet Tuncay den Auftrag gehabt hätte, im Bezirk ein Komitee zu gründen, und ich als Mitglied dieses Komitees organisatorische Tätigkeiten durchgeführt hätte«. Kenan Ayaz blieb 12 Jahre in verschiedenen türkischen Gefängnissen, erlebte immer wieder Folter und Misshandlungen, aber auch die starke Solidarität unter den Gefangenen.

KCK-Operation erneute Verfolgung

»Wie können wir die Zukunft heilen, wie können wir die blutenden Wunden schließen, die nicht heilen konnten?« Mit dieser Frage im Kopf wurde Kenan Ayaz 2005 aus dem Gefängnis entlassen und gründete mit anderen einen Verein in Amed, der sich die Bildung der Bevölkerung zum Ziel gesetzt hatte. Es war eine Art Akademie, die Forschung betrieb, u.a. darüber, wie Menschen verschiedener Ethnien und Religionen zusammenleben können. Ayaz selbst hatte in seiner Kindheit in Mardin diese Vielfalt gelebt.

Bei den Kommunalwahlen 2009 unterstützte Ayaz den Kandidaten der DTP Ağri, Murat Öztürk, im Wahlkampf. Obwohl dieser die Wahlen gewann, konnte er sein Amt aufgrund von Wahlfälschung nicht antreten. Bei den Protesten dagegen wurde Ayaz wiederum festgenommen. Diesmal folgte jedoch nach sechs Monaten ein Freispruch. Im April desselben Jahres begannen aber die sogenannten »KCK-Operationen«[2]. 2010 wurde Anklage gegen Ayaz erhoben, wie gegen tausende andere Aktive der kurdischen Zivilgesellschaft. Er floh nach Zypern, beantragte dort politisches Asyl und wurde nach zwei Jahren anerkannt.

»Wichtigster Grund für meine Anerkennung war, dass ich in dem politischen KCK-Verfahren beschuldigt und gesucht wurde. Ich rechnete aufgrund der aktuellen Informationen damit, dass ich, wie andere nicht verhaftete Angeklagte auch, durch die Türkei wegen dieses Verfahrens bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben werde«, so Ayaz.

Auslieferungsgesuch der Bundesrepublik Deutschland

Trotz Asylschutz jedoch wurde Kenan Ayaz im März 2023 auf Zypern aufgrund eines Auslieferungsgesuchs der Bundesrepublik Deutschland festgenommen und – von großen Protesten und einer breiten Solidaritätsbewegung begleitet – nach dreimonatiger Inhaftierung an die deutschen Strafverfolgungsbehörden ausgeliefert.

Seit Ende der 1980er Jahre kriminalisiert die Bundesregierung Menschen aus Kurdistan, die sich auch hier in der Bundesrepublik gegen die Vernichtungspolitik des türkischen Staates zur Wehr setzen mit dem Vorwurf der »terroristischen Vereinigung«. Damals fand ein groß angelegter Paragraph 129a-
Prozess gegen 19 vermeintliche Mitglieder der Kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK vor dem OLG Düsseldorf statt. Der damalige Generalbundesanwalt Rebmann hatte die PKK vor dem Verfahren zum »Hauptfeind der inneren Sicherheit« erklärt. Während dieses Verfahrens fand eine breite Solidarisierung mit der kurdischen Bewegung statt. Der Prozess war zudem von internationaler Kritik an der menschenrechtswidrigen Verfahrensführung sowie den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei begleitet. Dieser erste Versuch, die PKK gemäß Paragraph 129 a als terroristisch zu definieren, scheiterte, da die PKK faktisch niemals die Voraussetzung für eine Verfolgung nach diesem Paragraphen erfüllte. Von 1997 bis heute wurden zahleiche vermeintliche PKK-Mitglieder unter anderem deshalb nach dem Vereinsgesetz oder § 129 (Mitgliedschaft oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) verurteilt.

2012 wurde erstmals der § 129 b – Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im Ausland – gegen einen Kurden eingesetzt. Gegen Ali Ihsan Kitay vor dem OLG Hamburg. Dadurch, dass das Bundesministerium für Justiz durch eine Ermächtigung entscheidet, welche Bewegung strafrechtlich verfolgt wird und welche nicht, würden Strafrecht und Gerichte für politische Interessen missbraucht, erklärte damals Carsten Gericke, Anwalt von Ali Ihsan Kitay. Die Entscheidung über eine Bewertung der Bewegungen falle bei der Ermächtigung zur Verfolgung gemäß § 129 b nicht in einem öffentlichen und transparenten juristischen Verfahren, sondern hinter verschlossenen Türen auf politischer Ebene. 

»Durch den § 129 b erhält die Regierung einen breiten Spielraum, die Strafverfolgung nach strategischen und außenpolitischen Interessen zu steuern. In der strafrechtlichen Literatur wird dies durchaus kritisch gesehen«, erklärte Kitays damalige Verteidigerin Cornelia Ganten-Lange.[3]

 Europäischer Haftbefehl

Seit etwa zwei Jahren weitet sich die Strafverfolgung der deutschen Justizbehörden gegen politisch aktive Kurd:innen zunehmend auf das europäische Ausland aus. Grundlage bildet der 2004 in Kraft getretene Europäische Haftbefehl.

Fast wöchentlich werden seither kurdische Aktivist:innen aufgrund deutscher Auslieferungsgesuche im europäischen Ausland festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert. Im Januar 2023 erfolgten Auslieferungen von Sabri Çimen aus Frankreich und im März 2023 von Mehmet Çakas aus Italien. Am 23. Mai erfolgte die Festnahme des kurdischen Journalisten Serdar Karakoç in den Niederlanden. Am 12. Juni wurde der kurdische Aktivist Ferit Çelik von Schweden ausgeliefert. Am 13. Juni 24 wurde Gülhatun Kara, Aktivistin der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E) in Frankreich festgenommen.

Politisches Interesse

Kenan Ayaz wurde am 15. März 2023 in Zypern ebenfalls auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen und am 2.6.2023 nach Deutschland ausgeliefert. Gegen die Anwendung des europäischen Haftbefehls gegen politisch aktive Kurden gibt es Kritik von juristischer Seite. Kenans Anwältin Antonia von der Behrens kritisierte, es gebe »keinerlei erkennbares innenpolitisches Interesse daran, warum es Deutschland darauf anlegen sollte, sich aus ganz Europa kurdische Menschen – anerkannte Flüchtlinge, Journalist:innen, Menschen wie Herrn Ayaz, die massivste Verfolgung durch die Türkei erlitten haben, – zusammenzuklauben, um sie in Deutschland vor Gericht zu stellen und auf diese Verfahren Staatsschutzressourcen zu verschwenden«. Dahinter könne nur ein außenpolitisches Interesse stehen.

Freude beim Waffenbruder Erdoğan

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan lobte bei seinem Deutschlandbesuch im November 2023 die deutsche Justiz für das Verfahren gegen Kenan Ayaz. Die FAZ fasst die Äußerungen Erdoğans in einem Artikel vom 19. November 2023 wie folgt zusammen: »Der Besuch in der deutschen Hauptstadt habe ‚ein neues Kapitel unserer tiefen Beziehungen aufgeschlagen‘, sagte Erdoğan. Er zeigte sich erfreut über einen Strafprozess vor dem Oberlandesgericht Hamburg gegen einen mutmaßlichen Funktionär der kurdischen Terrorgruppe PKK. Der Mann war auf Betreiben der Bundesanwaltschaft in Zypern festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden.«[4]

Der Prozess – Drei Besonderheiten

Die Staatsanwaltschaft warf Kenan die Mitgliedschaft in der PKK vor, in deren Strukturen er verschiedene Führungspositionen in Norddeutschland besetzt haben soll. Die Anklagepunkte beinhalten keinerlei Beweise auf verübte Gewalttaten seitens Ayaz‘. Vielmehr ging es in dem am Oberlandesgericht (OLG) Hamburg geführten Strafverfahren um organisatorische Betätigungen und Reden für pro-kurdische Kundgebungen und Demonstrationen und das Organisieren von Lautsprecherwagen. Des Weiteren soll Ayas zwischen 2018 und 2020 in engem Kontakt mit Personen gestanden haben, die für die deutschen Sicherheitsbehörden als Anhänger:innen der PKK gelten und somit als Mitglieder einer »ausländischen terroristischen Vereinigung« einzuordnen seien.

Der Prozess gegen Kenan Ayaz war durch drei Besonderheiten geprägt: Erstens die groteske Richterin Wende-Spohrs. Regelmäßig rastete sie aus, sobald ein/e Zuschauerin auch nur einen Ton von sich gab, z.B. bei der Beschwerde über die Tonqualität in einem der Verhandlungssäle. Sie beschimpfte die Anwältin Antonia von der Behrens, schnitt dem Angeklagten das Wort ab und zeigte keinerlei Mitgefühl, als der Angeklagte das sein persönliches Schicksal und das der Kurd:innen teilte. Stets ging sie ohne Federlesens zur Tagesordnung über. Neben ihr wirkte selbst die Staatsanwaltschaft nahezu menschlich.

Kenans Anwältin, Antonia von der Behrens, merkte an, sie habe noch nie ein PKK-Verfahren erlebt, in dem die Vorsitzende Richterin die Öffentlichkeit so sehr angegangen und die Verteidigung derartig erschwert worden sei. So sei die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers abgelehnt worden, obwohl der Generalbundesanwalt mit zwei Personen anwesend war und das bei diesen Verfahren ansonsten üblich sei. Auch sei die Kommunikation der Verteidigung mit Kenan Ayaz durch eine Trennscheibe und aufgrund einer sogenannten Leserichteranordnung erschwert.

Zweitens: das vollkommende Fehlen von Beweisen. Die angeblichen »mitgliedschaftlichen Betätigungshandlungen« von Kenan Ayaz wurden allein auf Grundlage von Erkenntnissen des Verfassungsschutzes als Beweis erhoben. Geheimdienstangaben seien jedoch naturgemäß mangels Überprüfbarkeit das genaue Gegenteil eines Beweises, so Stephan Kuhn, einer der Anwälte von Kenan Ayaz. Teilweise waren die angeblichen Beweise vollkommen an den Haaren herbeigezogen. So wurde die Nachfrage von Kenan Ayaz, ob das Essen schon beim Jugendmarsch angekommen sei, von der Staatsanwaltschaft und der Richterin als Frage nach illegalen Spenden bewertet, was komisch wäre, hätte es für Kenan nicht so ernste Konsequenzen. Im Türkischen übliche Begriffe, wie arkadaş (Freund) oder abi (für eine ältere männliche Person), die jeder beliebigen Person auch außerhalb eines politischen Kontextes nachgestellt werden, wurden im Prozess als der PKK zugeordnete Geheimsprache behandelt.

Drittens: Der Prozess wurde sehr intensiv beobachtet, insbesondere aus Zypern. In den Medien erschienen regelmäßig Berichte von dem Prozess, neben ANF[5] auch in der Taz[6] und der Hamburgischen MOPO[7], von weiteren Verfolgten des KCK-Verfahrens. Schon als Kenan Ayaz sich in Auslieferungshaft auf Zypern befand, zeigte die zyprische Öffentlichkeit Unverständnis über die geplante Deportation nach Deutschland. Kenan wurde nur unter der Maßgabe nach Deutschland überstellt, dass er nach seiner Verurteilung zurück nach Zypern verbracht und dort seine Haftstrafe absitzen könne. Der Prozess wurde neben dem Komitee »FreeKenan« auch von zahlreichen Prominenten, wie dem Parlamentsabgeordnete Giorgos Koukoumas (AKEL) und linken Zyprern begleitet, die unter https://www.kenanwatch.org/ den Prozess coverten. Neben seinen deutschen Anwältinnen gehörte auch Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou aus Zypern zum Verteidigerteam.

Auf Zypern ist die PKK nicht terroristisch, sondern legitim

Auf Zypern gilt die PKK nicht als terroristisch, sondern als legitime Befreiungsbewegung. Efstathiou kritisierte unter anderem das sogenannte Selbstleseverfahren, welches in Deutschland gängiges Procedere zur zeitlichen Verkürzung der Verhandlungen ist, da ein Großteil der von der Staatsanwaltschaft eingeführten Beweismittel aus Abhörprotokollen besteht. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, werden nicht in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen, sondern nur vom Gericht und den Verfahrensbeteiligten.  Es gebe ein ganz erhebliches Interesse der zypriotischen Öffentlichkeit an diesem Strafverfahren gegen Kenan Ayaz. Da die Kenan Ayaz vorgeworfenen Taten in Zypern nicht strafbar sind, habe die zypriotische Öffentlichkeit ein Interesse daran zu erfahren, wie die Beweisführung in Deutschland erfolge, so der zypriotische Strafverteidiger.

 »Kollateralschaden der türkisch-deutschen Beziehungen«

Nach 40 Prozesstagen erklärte Rechtsanwältin Antonia von der Behrens in ihrem Plädoyer, das Strafverfahren gegen Kenan Ayaz folge maßgeblich einer politischen und keiner rechtlichen Logik. Wie schon in der Hauptverhandlung verwies sie auf die im Zuge der NATO-Beitrittsverhandlungen von der Türkei gestellte Forderung, PKK-Mitglieder in Schweden, Finnland, Deutschland und den übrigen NATO-Staaten noch stärker strafrechtlich zu verfolgen. Die deutschen Sicherheitsbehörden würden von dem Erdoğan-Regime öffentlich und im diplomatischen Verkehr sowie bei der Sicherheitszusammenarbeit unter Zugzwang gesetzt, immer mehr vermeintliche Anhänger der PKK zu verhaften. Dieser Druck sei besonders effektiv, weil die PKK eine Organisation sei, auf deren Verfolgung sich die Türkei und Deutschland einigen können. Der Haftbefehl stütze sich auf eine dünne Ermittlungsakte mit vermeintlichen Erkenntnissen aus Telekommunikationsüberwachungen, eine Passkontrolle, drei Auskünfte von Geheimdiensten sowie auf zwei Observationen. Alle diese Maßnahmen hätten kaum konkrete Informationen zutage gefördert. Das Verfahren wäre irgendwann eingestellt worden, hätte nicht Russland die Ukraine angegriffen. Nur deshalb sei Kenan Ayaz zum »Kollateralschaden der türkisch-deutschen Beziehungen« geworden, so von der Behrens. Die Hauptverhandlung sei von Anfang an auf eine Bestätigung der Anklage ausgerichtet und nicht auf Aufklärung der offenkundig vorhandenen Widersprüche.

Das geforderte Strafmaß von vier Jahren und sechs Monaten sei für eine Person wie Kenan Ayaz, der massiver Verfolgung ausgesetzt gewesen sei, der viele Jahre und mehrfach unschuldig in der Türkei inhaftiert war, dem keine einzige Gewalttat vorgeworfen werde und der nicht vorbestraft sei, völlig unverständlich und selbst bei Unterstellung des Anklagevorwurfes völlig unverhältnismäßig. Solch eine hohe Strafforderung, die viel höher als verhängte Urteile in vergleichbaren Verfahren sei, lasse sich nur politisch erklären. Es solle der Türkei wohl augenscheinlich auch durch diesen hohen Strafantrag des Generalbundesanwalts die unnachgiebige Verfolgung von Kurden in Deutschland bewiesen werden.

Warum Menschen in Zypern den kurdischen Kampf nicht als Terrorismus ansehen

Rechtsanwalt Efstathiou warf dem Gericht und der Staatsanwaltschaft vor, »die Ausübung grundlegender Menschenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit als terroristische Handlungen zu deklarieren«. Die deutsche Art und Weise könne die Zyprer:innen nicht überzeugen: »Wenn man jede Handlung eines angeblichen PKK-Mitglieds als Terrorismus bezeichnet, was macht man dann mit echtem Terrorismus, dessen Ziel es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten, und warum bezeichnet man die grausamen und rechtswidrigen Handlungen des türkischen Militärs nicht als Terror? Außerdem überzeugt diese deutsche Sichtweise die Menschen in Zypern nicht, denn sie sehen den kurdischen Kampf als bewaff­neten Konflikt, als Kampf der Unterdrückten gegen das unter­drückerische türkische Regime.«

Auch Nelson Mandela oder Che Guevara hätten einst als Terroristen gegolten. »All diese Versuche, den freien Menschen zum Schweigen zu bringen, sind angesichts der Wahrheit zusammengebrochen. Ich bin sicher, dass es auch in diesem Verfahren der Fall sein wird. Die willkürliche Konstruktion von Kenan Ayaz als Terrorist wird der Geschichte nicht standhalten«, so Efstathiou.

Kenan Ayaz: »Ich bin kein Terrorist«

In seinem »letzten Wort« erklärte Kenan Ayaz: »Ich bin kein Terrorist«. Erdoğan sei der größte Terrorist des 21. Jahrhunderts. Gemeinsam mit dem IS habe er den Nahen Osten in ein Blutbad getaucht. Er müsste vor Gericht stehen. »Aber auf sein Verlangen prozessieren Sie gegen mich. Es ist unerträglich für mich, im Zusammenhang mit Kurdistan und den Kurd:innen immer nur die Totschlagworte Terrorismus, Aufstand, Milizen bekämpfen, PKK-Stellungen vernichten, Operation zur Verdrängung etc. zu hören. Als wäre dieses kurdische Volk, das nur nach Autonomie und Freiheit strebt, der Superterrorist Europas, ja, der Welt. (…) Abdullah Öcalan, der vom Großteil der kurdischen Bevölkerung als legitimer politischer Repräsentant gesehen wird, muss endlich, nach bald einem Vierteljahrhundert totaler Isolation, in dem er sich nicht einmal äußern durfte, freigelassen werden. Er wird am Lösungsplan für Kurdistan entscheidend mitarbeiten können. Er ist die große Befreiungsfigur für die Kurd:innen. Seine Freilassung wird die Grundbedingung für eine friedliche Zukunft werden, letztlich auch für die Türkei.«

Mit den Worten: »Die Bundesrepublik Deutschland könnte sowohl bei der Durchsetzung des universellen Rechts als auch bei der Entwicklung der Türkei zu einem säkularen Rechtsstaat eine wesentliche Rolle spielen, indem sie den Appell dieser nobelpreisgekrönten Intellektuellen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen[8] als Gewissen der Menschheit aufgreift und ihre engen Beziehungen zur Türkei für einen politischen Dialog über die kurdische Frage nutzt. Die Bundesrepublik Deutschland kann einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage leisten, indem sie Verantwortung übernimmt und die Initiative ergreift. Damit kann sie einen Beitrag zur Bewältigung des historischen Problems der Türkei leisten. Deutschland hat die Macht dazu, wenn es will«, schloss Ayaz sein letzes Wort.

Er dankte seinen Verteidiger:innen und den Unter­stüt­zer:in­nen. Er habe viel Post von Deutschen bekommen, diese seien das Gewissen des deutschen Volkes.

Erwartungsgemäß verurteilte die Richterin Wende-Spohrs Kenan Ayaz zu vier Jahren und drei Monaten, indem sie behauptete, der kurdische Befreiungskampf sei nicht legitim und Kenan Ayaz sei ein Terrorist, obwohl er sich nur demokratischer Mittel bedient habe.

Der Anwalt von Kenan Ayas Stephan Kuhn kommentierte das Urteil folgendermaßen:

»Leider reiht sich das heutige Urteil nahtlos in die verschärfte Verfolgungspraxis des deutschen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung ein. Immer deutlicher werden dabei vermeintliche geopolitische Interessen über Grund- und Menschenrechte gestellt, immer maßloser Menschen für ihr gewaltfreies politisches Engagement bestraft. Es ist bitter zu sehen, dass das türkische Regime auch vom deutschen Staat für seine völker- und menschenrechtsverachtende Politik belohnt wird, während der Glaube an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eine weitere Enttäuschung erfährt.«

Die schriftliche Urteilsbegründung wird für Anfang Dezember erwartet. Die Verteidigung kann dann prüfen, wie sie eine Revision begründen kann. Solche Revisionsverfahren ziehen sich erfahrungsgemäß viele Monate hin. Lange Monate, in denen Kenan in seiner Einzelzelle des Untersuchungsgefängnisses Holstenglacis verbleiben muss, in dem während des Nazi­faschismus 468 Gefangene hingerichtet wurden, statt nach Zypern zurückzukehren.


[1]     https://anfdeutsch.com/hintergrund/pkk-prozess-in-hamburg-
personliche-erklarung-von-kenan-ayaz-40038

[2]     KCK steht für »Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans« (Koma Civaken Kurdistan), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, der nach Ansicht zahlreicher Vertreter:innen von Staatsanwaltschaft, Justiz und Sicherheitsbehörden den städtischen Arm der PKK darstelle. Über 5.000 Menschen wurden festgenommen, mehr als 1.700 inhaftiert https://www.rav.de/publikationen/rav-infobriefe/infobrief-105-2011/anhaltende-repression-in-der-tuerkei-das-kck-verfahren

[3]     http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18137&css=print

[4]     https://www.faz.net/aktuell/politik/rueckkehr-in-die-tuerkei-so-sieht-
erdogan-seinen-besuch-in-berlin-19324031.html

[5]     https://anfdeutsch.com/aktuelles/prozess-gegen-kenan-ayaz-ein-
originar-politisches-verfahren-39804

[6]     https://taz.de/Prozess-gegen-kurdischen-Aktivisten/!6023648/

[7]     https://www.mopo.de/hamburg/sie-folterten-mich-sie-verpassten-mir-
stromschlaege-am-ganzen-koerper/

[8]     https://www.fr.de/politik/rund-70-nobelpreistraeger-fordern-die-freilassung-von-abdullah-oecalan-der-seit-ueber-drei-jahren-in-isolationshaft-ist-besonders-fuer-eine-zr-93220289.html