Die befreiende Mythologie ist die Soziologie der Freiheit
Dilzar Dîlok
Die Geschichte des Mittleren Ostens hat sich zu jeder Zeit aus dem heranreifenden Leben entwickelt, aus den daraus hervorgegangenen ungeordneten Lebensweisen, dem Chaos.
Wer im Mittleren Osten lebt, weiß, dass dank derjenigen Kräfte, die mit der Geschichte und den Menschen dort fühlen und die Lage analytisch angehen, der Ausweg aus den chaotischen Zuständen und der resultierenden Apokalypse geschafft wird. Die befreiende Mythologie bildet einen mächtigen Teil der Tradition des Mittleren Ostens. Sie ist so stark, dass sie nicht leicht zu erschaffen ist und anschließend nicht leicht zu stürzen.
Der Mensch im Mittleren Osten ist in der Verfassung, jederzeit seine Situation analysieren zu können. Zu jeder Zeit erkennt er die negativen und positiven Seiten der Chaos stiftenden Kräfte, kennt sie und wägt sie ab. Er vergisst niemals die Bedeutung seiner Kraft und die der Rolle des Befreiers in diesem Chaos. Hierbei ist die Identität des Mittleren Ostens von Bedeutung und steht im Vordergrund. Nicht nur ethnische und religiöse Identitäten konzentrieren sich auf die befreiende Mythologie. Betrachten wir heute die aktuelle Situation so wie die Vergangenheit, dann erkennen wir, dass die Tradition der befreienden Mythologie des Mittleren Ostens kurz vor einem neuen Schritt steht. Es handelt sich hierbei nicht um einen Propheten oder eine neue göttliche Kraft. Diesmal wird der Befreier die entschiedene und organisierte Kraft der Menschen aus dem Mittleren Osten sein, die sich ihrer selbst bewusst sind und wissen, wie sie leben wollen.
Die kurdische Freiheitsbewegung horcht auf die Stimme des Mittleren Ostens und fasst sie in Worte:
»Das Schicksal Deiner Geschichte ist der große, mit Hindernissen versehene Marsch der Zivilisation. Ein Strom wie die starken Flüsse Nil und Euphrat. Du verfluchter minderwertiger Spross, ich werde es Dir nicht verzeihen, wenn Du nicht wie er sein wirst.«
Die Worte, die der Zunge des Mittleren Ostens entspringen, haben eine bedeutende Geschichte, Gesellschaft und Kultur durchlaufen und sind bis heute getragen worden. Der Mittlere Osten ist Kandidat für den Beginn des großen Marsches der Zivilisation und der eindringlichen Schaffung einer demokratischen Zivilisation. Es muss, wie der Fluss Euphrat, ein historischer Fluss in Gang gesetzt werden. Falls das die Menschheit im Mittleren Osten nicht schafft, dann wird alles vertrocknen und sogar verfaulen.
Wieso sollen diese großen Flüsse austrocknen und sich die grüne Erde in ihrem Umfeld in Wüsten verwandeln?
Dieser Boden, der durch die Kultur der Frau zu leben begonnen hat, wird zu Ödland werden, je weiter sich die Kultur der Frau entfernt. Die Heimat der Göttinnen, die Kultur der Göttinnen, die die schönsten Lebensmöglichkeiten geschaffen hat, wird heute allzeit mit Vergewaltigungsangriffen getötet. Die Massaker an den Frauen und die Massaker an der Gesellschaft stehen regelrecht im Wettkampf miteinander. Im Namen der Tradition und der Religion oktroyieren die Kalifen heute mit den Waffen des Westens das rückständigste und vergewaltigende System und verwüsten das Leben im Mittleren Osten. Und dies zeigt mit täglich wachsender Kargheit, dass die männliche Kultur nicht anerkennt, dass die Frauen und ihre Werte getötet werden. Ein solches Leben zu akzeptieren, ist Verrat am Leben.
In der tiefen Intuition und Gedankenwelt Abdullah Öcalans wird diese Stimme wieder auf der Zunge des Mittleren Ostens widerhallen:
»Die Heimat der Götter des Mittleren Ostens ruft: Hey, Ehemann, verblödet und bettlägerig! Ich werde nicht mit Dir sein. Lieber verbrenne ich, werde zu Staub, als mit Dir den Verrat am Leben zu teilen. Die Heimat der Götter ruft: Hey, Ihr Zwerge, ich akzeptiere Euch nicht einmal als Untertanen. Ihr Verfluchten seid nur wert, in der Hölle lichterloh zu brennen.«
Heute brennt der Mittlere Osten. Wo das Paradies geschaffen wurde, ist heute unter der Macht der Systeme die Hölle, und er brennt lichterloh. Und wenn wir, diejenigen, die im Mittleren Osten frei leben wollen, nicht aufs Neue die Schönheit des Lebens, die Bedeutung des freien Lebens schaffen, dann werden uns die dortige Geschichte und Gesellschaft ins Gesicht sagen: »Wir werden Euch nicht verzeihen.«
Bei den Aktionen des Sterbens und Tötens in der Geschichte des Mittleren Ostens und der heutigen Gesellschaft handelt es sich im Grunde um einen Fall von Selbstmord. Der Mittlere Osten, der mit der Revolution der Frau neues Leben schafft, erlebt, angesichts des schweren Drucks der männlichen Kultur, gegenwärtig einen Selbstmord. Die herrschende Männlichkeit tötet sowohl sich selbst als auch das Leben. Wir erleben einen regionalen Suizid. Ein Organ erschlägt ein anderes Organ, schneidet es heraus und wirft es hinaus. Das von außen eingebrachte künstliche Organ, der IS, führt dieses Töten aus, aber da er nicht mit dem Körper harmoniert, propagiert er seinen Bezug zur Tradition, um erfolgreich sein zu können. Schließlich kommt dabei wieder ein Selbstmord heraus.
Der Tod als Zeichen der Existenz ist die Fortsetzung dieser Mentalität. Sich als Arm eines Gottes, als ein Organ zu betrachten, den Tod des Königs als eigenen Tod anzusehen und diesen zu akzeptieren, macht keinen Unterschied. Das ist der aktualisierte Ausdruck eines kollektiven Gedächtnisses. Den Tod als Rettung zu verstehen und darzustellen, ist ein Massaker. Der stärkste Pfeiler, die Herrschaft des Mannes zu schaffen, ist das Eintrichtern dieser Gesinnung als Gesellschaftskonzept in das gesellschaftliche Gedächtnis. Mit Gewalt oder durch Überzeugung ... Die Folge ist die neue herrschende Mentalität, das Sterben als Rettung und den Tod – als unabwendbar bei der Wahl zwischen Tod oder Leben – als Retter zu betrachten.
Der Mittlere Osten erlebt derzeit die heftigste Zeit dieses Dilemmas. Entweder der Rückschritt zum IS, der angelehnt an Traditionen und Religion Unmenschliches tut und das als Gesetzmäßigkeit auszugeben versucht, oder Resignation vor den imperialistischen Kräften, die gegen Traditionen sind ... Das Schicksal des Mittleren Ostens wird neu zu bestimmen versucht. Und das mithilfe des Tod-Tod-Dilemmas. Die imperialistischen Angriffe haben die Versklavung der regionalen Bevölkerung zum Ziel. Und die unmenschlichen Kräfte, die sich als Gegner gerieren, aber im Grunde dieselbe Versklavung auf der Grundlage traditionell-religiöser Argumente anstreben, nehmen in diesem Chaos in der Region ihren Platz ein.
Die Unordnung im Mittleren Osten verschlimmert sich. Das verhindert keine einzige Kraft und keine einzige Kraft positioniert sich außerhalb dieses Durcheinanders. Denn das Chaos in seiner jetzigen Lage drängt den betreffenden Kräften Folgendes auf: Du bist gezwungen, in diesem Chaos zu sein, wenn du existieren willst. Das freie Leben ist mit dem Ausbruch aus dem Chaos möglich.
Es gibt viele Methoden, das Chaos erfolgreich zu verlassen. Das Ziel der Befreiungsbewegungen ist es, dies mit dem Modell des freien Lebens erfolgreich zu verwirklichen. Die befreiende Mythologie ist aktualisiert. Die Realität der historischen Gesellschaft ist heute Zeugin, dass sich die befreiende Mythologie zur befreienden Soziologie gewandelt hat. Die Soziologie der Freiheit ist die Mythologie selbst. Es geht weder um einen Propheten, einen Gott noch ein Wunder noch etwas anderes Übermenschliches ...
Die befreiende Mythologie bedeutet, dass sich die Gesellschaft auf der Grundlage der Soziologie der Freiheit selbst analysiert und ihr eigenes System schafft.
Abdullah Öcalan erklärt zum Ausweg aus dem Chaos des Mittleren Ostens und einem sinnvollen Leben:
»Wenn das Leben an jenem Ort, dem Mittleren Osten, wo die Zivilisation geboren und aufgezogen wurde, bedeutungsvoll und ehrenhaft seine Fortsetzung finden soll, dann werden Antworten auf die Frage ›Wie leben?‹ nötig. Es ist wahrscheinlich nicht möglich, gesunde Antworten darauf zu geben, ohne den seit Jahrhunderten existierenden gordischen Knoten, ohne die versteinerten Köpfe und Seelen zu öffnen.«
Die Frage, wie zu leben ist, sind die Zauberworte der Freiheit der Soziologie, die unsere neue befreiende Mythologie ist. Eine Gesellschaft, die nach der Art und Weise des Lebens zu fragen beginnt, ist eine Gesellschaft, die sich zu ihrer Befreiung entschieden hat.
Das aktuellste und schönste Beispiel für eine Gesellschaft, die sich zur Befreiung entschieden hat, ist Rojava-Kurdistan. Der Widerstand in Rojava-Kurdistan und der Aufbau des Modells der demokratischen Selbstverwaltung sind das neue befreiende Modell für das Schicksal des Mittleren Ostens. Und die Kräfte, die das Chaos vertiefen und alles Unmenschliche tun, um dem erfolgreich zu entgehen, sind sich der Realität Rojavas als Modell für den Mittleren Osten bewusst. Daher greifen alle möglichen Kräfte in der Region die Revolution Rojavas an und der Imperialismus der Welt schaut diesem Angriff zu. Das Volk von Rojava-Kurdistan hat sich mit seiner Selbstverteidigung, seiner Selbstverwaltung und damit einhergehend mit seiner eigenen Ökonomie und der Frau als lebensbegründender Farbe in allen Dimensionen der Revolution außerhalb des Herrschaftssystems des Mannes herausgebildet und Entschiedenheit darin gezeigt, eine freie Gesellschaft aufzubauen. Diese Entschiedenheit ist ein Modell für den gesamten Mittleren Osten. Die Revolution in Rojava ist ein Symbol für die Aktualisierung der befreienden Mythologie des Mittleren Ostens und dessen Verkörperung in Kurdistan.