jineoloji konferenzBericht von der ersten europäischen Jineolojî-Konferenz in Köln

Jineolojî – radikales Denken aus Frauensicht

Anja Flach, Ethnologin, Rat der kurdischen Frauen in Hamburg

Jineolojî ist der Versuch einer Wissenschaft, die nicht – losgelöst von der Basis der kämpfenden Frauen – von Theoretikerinnen im Elfenbeinturm der Universitäten erarbeitet wird. Jineolojî wird von den Frauen und mit den Frauen selbst entwickelt, die ihre gesellschaftlichen Probleme lösen wollen, sei es in den Bergen Kurdistans, in den Städten der besetzten kurdischen Gebiete in der Türkei oder im befreiten Nordsyrien – Rojava; Theorie und Praxis sind eins.
Die Konferenz in Köln sollte dazu beitragen, diesen neuen Ansatz mit Vertreterinnen von Frauenbewegungen weltweit und mit Aktivistinnen hier in Europa zu diskutieren.

 

Das Programm war vollgepackt, für jede Rednerin waren 15 Minuten vorgesehen; eine Vorgabe, an die sich nicht eine einzige Frau, auch keine der Mitorganisatorinnen hielt. Das machte Stress, wir hetzten durch das Programm, Platz für Diskussionen und die so wichtigen Vernetzungsgespräche in den Pausen blieb wenig. Das und die Tatsache, dass die Sitzordnung in einem solchen Universitätssaal: vorn die Rednerinnen, gegenüber das Publikum, nicht zu einer Diskussion auf Augenhöhe führt, sind Kritikpunkte, die sicher bei weiteren Konferenzen Beachtung finden werden.

Wichtiger der Inhalt – und der war bedeutend. Die Teilnehmerinnen kamen überwiegend aus Europa und Kurdistan, außer Grace Pampiri Bothman vom südafrikanischen ANC, die das Publikum mit erhobener Faust und »Amandla« – die Macht (dem Volke) – begrüßte, ein sehr emotionaler Moment.

Aufgrund der Fülle der Beiträge will ich hier nur auf einige eingehen. Auch wenn die Grußbotschaft der Frauenfreiheitspartei Kurdistans (PAJK) nicht zu Beginn verlesen wurde, so will ich sie doch an den Anfang meines Berichtes stellen.

PAJK-Grußbotschaft: »Wir kritisieren an den europäischen Frauenbewegungen die Erwartungshaltung gegenüber dem Staat«

Die PAJK-Frauen, sozusagen die Begründerinnen der Jineolojî, erklären in ihrer Grußbotschaft, dass das Thema Frauenbefreiung seit 30 Jahren in der kurdischen Bewegung diskutiert werde, es jedoch bisher nicht ausreichend gelungen sei, diese Diskussionen zu verbreitern. Einer der Hauptgründe dafür sei die Isolation der PKK auf internationaler Ebene.

Hauptthema der Bildungsarbeit innerhalb der kurdischen Bewegung, die Tausende junger Menschen erfahren haben, sei der gesellschaftliche Sexismus. Dadurch sei ein Wandel auch innerhalb der Zivilgesellschaft, ein kollektives Bewusstsein, angeschoben worden, der vielleicht noch gar nicht in vollem Umfang erkannt worden sei. »Oft ist dann der Blickwinkel von Frauen, die zu uns kommen, um uns kennenzulernen, hilfreich. Wir haben nicht nur als Frauen, sondern als Gesamtgesellschaft einen radikalen Wandel erfahren. Natürlich ist dieser Prozess nicht abgeschlossen. Noch immer gibt es schwerwiegende Probleme. Aber wir glauben, dass wir auf dem richtigen Weg sind und die richtigen Methoden gefunden haben.«

Die PAJK-Frauen betonen, wie wichtig es sei, dieses Wissen an alle Frauen in der Gesellschaft weiterzuvermitteln. Dafür seien überall in Kurdistan, aber auch in der Diaspora Frauenakademien aufgebaut worden. Dort werde in einer Sprache fern von akademischem Fachchinesisch unterrichtet. Die Diskussionen an den Akademien führten zur Weiterentwicklung der Frauenorganisierung, diese wiederum zu einer Weiterentwicklung der Theorie.

»Die Jineolojî umfasst alle Informationen und Wissenschaftsbereiche, die wir als Frauen brauchen, um das patriarchale Herrschaftssystem zu überwinden. Gleichzeitig stellt sie die gewonnenen Erkenntnisse der Organisierung und dem Kampf zur Verfügung.«

Auch äußern die PAJK-Frauen den Wunsch, sich mit Frauen außerhalb der kurdischen Bewegung zu vernetzen und auszutauschen, und kritisieren die Frauenbewegungen in Europa:
»An der Stelle revolutionärer Zielsetzungen, wie der radikalen Veränderung des Systems, wurden Lösungen innerhalb des Systems gesucht. Wir kritisieren daran nicht den Kampf innerhalb des Systems. Wir selbst setzen auch nicht ausschließlich auf einen bewaffneten Kampf von außen gegen das System. Der Punkt, den wir kritisieren, betrifft die Fokussierung auf staatliche Institutionen beim Kampf innerhalb des Systems, also die Erwartungshaltung gegenüber dem Staat und rechtlichen Regelungen. Außerdem kritisieren wir, dass das modernistische Leben nicht abgelehnt wird.«

Die PAJK-Frauen sind weiterhin der Ansicht, dass die Queer-Theorie, der Ansatz, die Geschlechterdefinition auszulassen, nicht zu einer Überwindung der patriarchalen Kultur beitrage, sondern vielmehr Lösungen verstelle. Sie kritisieren die feministische Bewegung für ihre Konzentration auf den Westen, die Nichtbeachtung der Kultur des Mittleren Ostens. Die PAJK selbst wolle in nächster Zeit vor allem dort die Diskussion verbreitern.

Sie weisen vor allem auf die große Rolle der Frauen in Rojava, dem befreiten Westkurdistan, hin: »In Rojava spielen Frauen eine maßgebliche Rolle im Aufbau eines demokratischen Systems.«

Die PAJK betont, dass sie Kontakte zu anderen kämpfenden Organisationen weltweit aufbaue und mit ihnen im Austausch stehe, um die Jineolojî weiterzuentwickeln.

Die Beiträge der Konferenz waren in Blöcke unterteilt, der erste befasste sich mit dem herrschenden Geschichtsbild:

I. »Verzerrte Geschichte, verzerrte Identitäten«

Am Beginn der Konferenz standen zwei Beiträge zum Thema Matriarchat bzw. Matrilinearität, der eine von Dr. Camilla Power aus London, der andere von Gunnel Christine Hinrichsen von der Akademie Hagia1. Warum führen wir überhaupt eine Diskussion um Matriarchate?

Diese Diskussion zeigt auf, dass es den größten Teil der Menschheitsgeschichte über keine Patriarchate gab. Es hat Gesellschaften gegeben ohne Ausbeutung der Natur, ohne Hierarchien, ohne Gewalt, und es gibt sie bis heute. Besonders beeindruckt hat mich ein Beispiel, das Camilla Power gab. In einer von ihr untersuchten, matrilinearen Gesellschaft in Afrika könne keine Person einer anderen sagen, was sie zu tun habe, noch nicht einmal einem Kind.

Gunnel Christine Hinrichsen beschrieb matriarchale bzw. matrilineare Kulturen des Mittleren Ostens; ganz bekannt Çatal Hüyük, eine Ausgrabungsstätte in der heutigen Türkei bei Konya, im Fruchtbaren Halbmond, der Wiege der neolithischen Revolution. Alle Häuser in Çatal Hüyük sind gleich groß, was als Beweis dafür gesehen wird, dass es keine Stratifizierung der Gesellschaft gab. Weiterhin beschrieb sie die nichtpatriarchale Familie am Beispiel der IrokesInnen, die zur Zeit ihres Erstkontaktes mit den europäischen Konquistadoren in Langhäusern lebten, denen jeweils eine sogenannte Matrone vorstand, eine ältere Frau, die Vertreterin des Clans war. Biologische Vaterschaft hatte keine Bedeutung, vielmehr waren die über die mütterliche Linie verwandten Männer die männlichen Bezugspersonen für die Kinder.

Auch heute noch existierende matrilineare, egalitäre Gesellschaften, die in Rückzugsgebieten wie am Amazonas und in anderen Randgebieten der Zivilisation um ihr Überleben kämpfen, sind von großer Bedeutung für unsere Forschung über eine freie Gesellschaft. Sie leben im Einklang mit der Natur, betreiben Subsistenzwirtschaft, ohne der Natur zu schaden, wirtschaften nachhaltig, kommen ohne Macht und Gewalt aus.
In diesem Zusammenhang kritisiert die kurdische Bewegung auch das lineare Geschichtsbild der MarxistInnen, die vom sogenannten Primitiven zum Komplexen eine quasi zwangsläufige Entwicklung determinieren, was die natürlichen Gesellschaften als rückständig und primitiv festschreibt. In den natürlichen Gesellschaften jedoch sind Wissen und Wissenschaft Teil der ethischen und politischen Gesellschaft.

In einem weiteren Beitrag von Songül Ömürcan wurde Kritik an der patriarchalen Geschichtsschreibung (HISTORY) geübt. Aus dem Blickwinkel der Herrschenden, die im Fokus patriarchaler Geschichtsschreibung stehen, wird die Vergewaltigungskultur, Landraub, das Aufstellen von Armeen, Ausbeutung von Boden und Menschen als quasi natürlich angesehen. Sie forderte stattdessen eine Geschichtsschreibung aus der Sicht der Basis der Bevölkerung – OURSTORY.

II. »Epistemologie der Wissenschaft – Die Konstruktion einer Wissenschaft, die Frauen außerhalb des Lebens lässt«

Im zweiten Teil der Konferenz sprach zunächst Nazan Üstündağ, eine Dozentin aus Istanbul, Mitglied der HDP, der Demokratischen Partei der Völker. Sie kritisierte die etablierten Sozialwissenschaften: Männer stellten ihre Wissenschaft als objektiv und unparteiisch dar, diejenige von Frauen als subjektiv.

Allen im Gedächtnis geblieben ist sicher vor allen Grace Pampiri Bothman, Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Südafrika (SACP). Grace beschrieb den langen Kampf in Südafrika und die Auswüchse des Kapitalismus und der Apartheid. Sie glaubt, Sozialismus und die Basisorganisierung der Frauen seien die Zukunft. Sie wies darauf hin, dass unsere Herangehensweise sehr verschieden ist, wenn wir die Macht ergreifen oder die Mentalität ändern wollen. Wenn wir über Ökonomie reden, müssen wir uns konkret fragen, wie wir leben wollen. Wollen wir die Hausarbeit mit den Männern teilen? »In unserem Land sieht es so aus, dass wir die Hausarbeit machen. Und alle werden bezahlt, nur wir nicht.« Sie fordert ganz konkret eine Rente für Frauen, die Kinder aufgezogen haben.

III. »Feminismus – Die Rebellion der ersten Kolonie«

Im dritten Teil der Konferenz ging es um die Bedeutung des Feminismus für zukünftige Frauenkämpfe.

Muriel Gonzales Athenas, eine feministische Wissenschaftlerin von der Universität Köln, forderte eine neue feministische Epistemologie (Lehre von neuen Wegen zu Wissens- und Erkenntnisgewinn) unter Berücksichtigung der weiblichen Perspektive. Die Kategorie Geschlecht müsse als die Manifestierung einer gesellschaftsordnenden und -normierenden bipolaren Einteilung gespiegelt werden, also als Macht-Ordnungsprinzip. Nur eine derart gelagerte Forschung in Verbindung mit sozialen Bewegungen könne die Gesellschaft in unserem Sinne bewegen. Ihr war leider teilweise schwer zu folgen, da sie es nicht schaffte, ihre akademische Ausdrucksweise abzulegen.

Ayşe Düzkan, Feministin und Autorin aus Istanbul, analysierte die bisherigen Kämpfe von Frauen. Die erste Welle des Feminismus habe das Frauenwahlrecht erkämpft, die zweite Welle sei nicht Kritik an der ersten, sondern Kritik an der 68er-Bewegung gewesen. Die RevolutionärInnen hätten ihre eigene Sozialisation im Patriarchat außen vor gelassen und die Frauenunterdrückung zum Nebenwiderspruch erklärt. So sei die Parole »Das Private ist politisch« aufgekommen. Ayşe erklärte, der Konservatismus sei weltweit wieder erstarkt, z. B. werde vielerorts, wie aktuell in Spanien, das Recht auf Abtreibung wieder infrage gestellt.
Ausgangspunkt der dritten Welle des Feminismus, in der Ayşe auch die Feministinnen der Türkei vertreten sieht, sind die von den Vereinten Nationen seit 1975 veranstalteten Weltfrauenkonferenzen, die eine Plattform für die internationale Vernetzung bildeten. Ayşe erklärte, nach wie vor lägen weltweit nur drei Prozent des Besitzes in der Hand von Frauen.

Die Mitbegründerin der International Free Women´s Foundation und der Frauenbegegnungsstätte UTAMARA e. V., Ann-Kristin Kowarsch, leistete dann einen wichtigen Beitrag zur Einordnung feministischer Kämpfe.
Sie erklärte, der Feminismus verfüge bis heute über keine einheitliche Theorie, dennoch gäbe es wichtige Errungenschaften mit historischer und globaler Relevanz. Diese bildeten auch bedeutende Grundlagen für den Aufbau der kurdischen Frauenbewegung bzw. ein Fundament der Jineolojî. Ein wichtiger Verdienst des Feminismus sei die Definition von patriarchaler Unterdrückung sowie die Sichtbarmachung der systematischen Unterdrückung von Frauen und ihres Ausschlusses aus dem öffentlichen Leben:

Frauen wurden sich dessen bewusst, dass sie eine gesellschaftliche Gruppe darstellen, die allein aufgrund ihres Geschlechtes mit Benachteiligung und Unterdrückung konfrontiert ist.

Frauen erkannten, dass diese Unterdrückung nicht »natürlich« oder »gottgegeben«, sondern gesellschaftlich bzw. politisch konstruiert ist.

Frauen erlebten, dass sie kämpfen müssen, um diese Situation verändern zu können. Hierzu gehört auch, eigene Ziele, Strategien und Politik zu entwickeln.

Frauen wurden sich der Notwendigkeit eigenständiger Organisierung und der stärkenden Bedeutung von Solidarität und Zusammenarbeit unter Frauen bewusst.

Im feministischen Diskurs über Zukunftsvisionen und Utopien kristallisierten sich, so Ann-Kristin, vier Ansätze heraus:

das liberale Konzept von der »Gleichberechtigung durch Teilhabe an der Macht«, die in der Aktionsplattform der UN-Frauenkonferenz von Peking 1995 als »Gender Mainstreaming« vorgesehen wurde;

die Utopie des separatistischen Feminismus, abgekoppelte alternative »Frauenwelten« zu schaffen;

das Ziel, herrschaftsfreie Gesellschaften aufzubauen und den Weltfrieden zu sichern, das der libertäre, sozialistische Feminismus verfolgte;

die Vision der individuellen und sozialen »Dekonstruktion der Geschlechter«, wie sie z. B. von Judith Butler in der dritten Welle des Feminismus konzipiert wird.

Ann-Kristin führte aus, die kurdische Frauenbewegung sei zu dem Schluss gekommen, dass ohne eine radikale, umfassende Systemkritik das Patriarchat nicht überwunden werden könne. Zur Überwindung der patriarchalen HERRschaft und des herrschenden Monopols patriarchaler Denkmodelle sowie deren Einflusses auf unsere Seele, auf unser Denken und Handeln sei die Infragestellung aller bestehenden Religionen, Wissenschaftsauffassungen, nationalistischer, kapitalistischer und sexistischer Denkweisen notwendig. Der Feminismus und seine Perspektive dürften nicht auf das Erlangen von »Frauenrechten« eingeschränkt werden, sondern müssten zugleich als ein Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus, Imperialismus und jegliche Form von Unterdrückung verstanden und geführt werden.

Der liberale Feminismus habe viele Frauen – insbesondere in den westeuropäischen Ländern – zu dem Trugschluss geführt, »frei« zu sein und »frei entscheiden« zu können.

Ann-Kristin beschrieb einige wichtige Eckpunkte für die Erfolge des Frauenbefreiungskampfes und die gesellschaftlichen Umbrüche in Kurdistan, die auch für eine Wiederbelebung bzw. Weiterentwicklung feministischer Theorie und Praxis in Europa und anderen Teilen der Welt von Bedeutung sein könnten. Hierzu gehören die Themen:

Geschichtsbewusstsein und Systemanalyse;

Ideologie – Frauenbefreiungsideologie und Jineolojî (kollektives Bewusstsein);

Organisierung und Selbstverteidigung (autonome Frauenorganisierung; gesellschaftliche Basisorganisierung).

Dann beschrieb sie die Frauenorganisierung in Kurdistan, die Überwindung der Vereinzelung in der Gesellschaft, die der Kapitalismus durchgesetzt habe, um die Gesellschaft handlungsunfähig zu machen. Diese Entwicklung wurde an anderer Stelle bereits beschrieben und wird daher hier nicht wiederholt.

Kurz erwähnt sei nur, dass die PKK ein System autonomer Frauenorganisierung geschaffen hat, das einen Prototypen für den Aufbau eines alternativen Gesellschaftssystems darstellt und die Grundlage für kollektive Selbstverwaltungsstrukturen bietet, an denen alle Frauen mitwirken können. Welche Wirkungskraft dieses Modell entwickeln konnte, wird wohl am besten an den aktuellen Entwicklungen in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) deutlich, die als eine Frauenrevolution im Mittleren Osten beschrieben werden könnte.

Ann-Kristin zufolge bedeutet der »Aufbau der Zukunft« eigentlich, uns die Frage zu stellen, wie wir das Erbe des Feminismus weitertragen und »die Revolution im Hier und Jetzt« vorantreiben können. Revolution sei weiblich und beruhe keinesfalls auf Machtübernahme. Eine Revolution könne nicht für die Gesellschaft oder für Frauen realisiert werden, sondern durch die Gesellschaft und durch Frauen.

Entschlossene, radikale Aktionsformen und wissenschaftliche Diskurse seien genauso notwendig wie lokale und internationale Vernetzung.

Am Ende zitierte sie eine Frau aus der PAJK: »Heute Revolutionärin zu sein ist sehr viel schwerer als in den 60er oder 70er Jahren. Denn die Kraft, die uns gegenübersteht, (...) hat sich auf eine sehr vielfältige Weise organisiert und sehr subtile Herrschaftsmechanismen. Es bleibt zu schwach nur zu sagen, ich lehne diese Kraft ab, ich stelle mich dagegen. Deswegen ist es jetzt mehr als notwendig, dass wir wirklich Revolutionärinnen sind.«

IV A. »Jineolojî: Die Re-Konstruktion von Wissenschaft auf dem Weg zu einem kommunalen und freien Leben«

Im vierten Teil der Konferenz befasste sich Gönül Kaya genauer mit dem Jineolojî-Projekt. Der Begriff Jineolojî bedeutet »Frauenwissenschaft«. »Jin« ist Kurdisch und bedeutet »Frau«, »-logie« stammt vom griechischen Begriff für »Wort« oder »Lehre« ab, »Jin« wiederum vom kurdischen »jiyan« – »Leben«. Im indoeuropäischen Sprachgebrauch und im Mittleren Osten sind »jin«, »zin« oder auch »zen«, die alle »Frau« bedeuten, gleichbedeutend mit Leben und Vitalität.

Die etablierten Wissenschaften geben laut Gönül keine Antworten auf die brennenden Fragen dieses Zeitalters. Der Grund dafür sei die Verknüpfung von Wissen und Macht bei gleichzeitiger Ausgrenzung von Ethik.
Jineolojî sei ein direkter Zugang der Frauen und der Gesellschaft zum Bereich des Wissens und der Wissenschaft, der momentan von den Herrschenden kontrolliert wird. Laut Gönül baut die Jineolojî ein Bildungssystem für Frauen und die Gesellschaft sowie Frauenakademien auf, um den Einfluss des bestehenden Systems auf unser Denken und unser Handeln zu hinterfragen.

Zudem sei es wichtig, Wissen und Wissenschaft nicht vom sozialen Bereich loszulösen, nicht zu elitisieren, nicht zur Grundlage von Macht zu machen und die Verbindungen zur Gesellschaft immer stark zu halten.
Als wichtigste Aufgaben im 21. Jahrhundert bezeichnete Gönül:

  • das gegenseitige Ergänzen von Feminismus, ökologischen und demokratischen Bewegungen;
  • die Erneuerung aller gesellschaftlichen Institutionen (beispielsweise der Familie) entsprechend freiheitlichen Prinzipien;
  • die Grundzüge freier Zweisamkeit;
  • die Schaffung des Verständnisses einer alternativen Sozialwissenschaft auf der Grundlage von Frauenbefreiung;
  • das Feld einer neuen Sozialwissenschaft für alle Kreise zu entwickeln, die nicht Teil von Macht und Staat sind.

Dies sei Aufgabe aller antikolonialistischen, antikapitalistischen Anti-Macht-Bewegungen, Individuen, Frauen. Die kurdische Bewegung bezeichne diese alternativen Sozialwissenschaften als Soziologie der Freiheit.
Zum Abschluss sagte Gönül Kaya: »Als kurdische Frauen sagen wir: Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Revolution der Frauen und Völker sein.«

Der letzte Beitrag dieser Session wurde von Havin Güneşer von der »Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« gehalten. Ihr war es ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass Frauen in allen Revolutionen und gesellschaftlichen Umbrüchen eine große Rolle spielten, es sei jedoch wichtig, für Errungenschaften und Siege nachhaltige und dauerhafte Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, sich ständig selbst zu erneuern.

Sie kritisierte die Methoden der etablierten Sozialwissenschaften, die in der Regel auf Machterhalt der Eliten abzielten. Erneut erklärte sie, wie wichtig es sei, unabhängig von den Einrichtungen staatlicher Herrschaft zu forschen und neue methodische Herangehensweisen zu entwickeln und zu diskutieren, die mit den sozialen, politischen und ökonomischen Zielen nicht nur der Frauenbefreiungsbewegung übereinstimmen, sondern hinsichtlich der Befreiung der gesamten Gesellschaft.

Sie beschrieb einige frühere Ansätze kritischer Forschung, die Frankfurter Schule, action research etc. Sie alle hätten die Frage nicht beantworten können, für wen Wissen produziert wird und wofür. Sie erläuterte die zunehmende Kritik am Positivismus, der von der Selbstverständlichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts ausgehe und die komplizierten Probleme der Geschichte und der Gesellschaft verschleiere.

Die marxistische Sichtweise trug laut Havin dazu bei, Geschichte und Gesellschaft hinsichtlich ihrer Ökonomie und Klassenstruktur zu erklären. Aber diese Annäherung enthalte auch mehrere grundlegende Mängel insbesondere in ihrer Definition von Arbeit.

Die kurdische Frauenbewegung und Abdullah Öcalan dagegen gründeten ihre Analyse auf einer »moralischen und politischen Gesellschaft«. Moral werde als kollektives Bewusstsein der Gesellschaft und Politik als kollektive Weisheit definiert.

Die drei Hauptaufgaben seien für sie 1. intellektueller, 2. moralischer und 3. politischer Natur.

Um in der Lage zu sein, die Beibehaltung von Kapital- und Machtakkumulation zu stoppen als auch die Reproduktion von Hierarchie, sei es notwendig, Strukturen für eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft zu schaffen.

Um dies zu erreichen, braucht es laut Havin:

A) Intellektuelle Aufgaben und Bildung

Um das Wissensmonopol der Herrschenden zu brechen, brauche es Frauenakademien wie auch Akademien für demokratische Politik und Kultur. Intellektuelle und wissenschaftliche Unterstützung, die für eine Re-Konstruktion sozialer Institutionen notwendig sei, könne an solchen Akademien entwickelt werden. Hier sollten LehrerInnen und SchülerInnen freiwillig und ohne Weiteres den Übergang zwischen diesen beiden Positionen schaffen. Alle sollten zur Teilnahme an solchen Akademien ermutigt werden, unabhängig von ihrem Bildungsstand. Wissensmonopole sollten ausgemerzt werden. Um dem Motto gerecht zu werden, Praxis sei die wichtigste Kraft für Veränderung, sollten alle ermuntert werden, an der Umsetzung teilzuhaben. Solche Akademien sollten aufgebaut werden, wo immer und wann immer sie gebraucht werden, unabhängig von praktischen Anforderungen und Voraussetzungen.

B) Männerbildung

Abdullah Öcalan hat in seinen Büchern viel darüber geschrieben, den dominanten Mann zu überwinden. Eines seiner Bücher trägt sogar den Titel »Den Mann in sich töten«. Während es auf der einen Seite für Frauen wichtig sei, einen Kampf gegen die hierarchische und dominante Denkart zu führen, die sie verinnerlicht haben, sei es genauso notwendig, diese Geisteshaltung bei Männern zu bekämpfen, indem sie an Frauenakademien ausgebildet werden. An dieser Stelle halte ich selbst es für wichtig zu betonen, wie dringend wir EuropäerInnen die EuropäerInnen in uns töten sollten, denn es sind hier wohl hauptsächlich Eurozentrismus und Rassismus, die eine gemeinsame Organisierung verhindern.

C) Ökonomie, Industrialisierung und Ökologie

Die Ökonomie sei nach Ideologie und Gewalt die dritte Größe, von der Frauen und in der Folge auch die gesamte Gesellschaft betroffen sind und die sie auch zwinge, Abhängigkeit zu akzeptieren. Aber in Bezug auf Frauen sei die Akkumulation weder für den Handel noch für Märkte bestimmt gewesen, sondern für die Familie. Doch für kapitalistische Ökonomien sei nur das wichtig, was produktiv ist und in Geld gemessen werden kann. Daher sei die Verbindung zwischen unsichtbarer Frauenarbeit und kapitalistischer Akkumulation entdeckt worden, als die Rolle der Hausarbeit im Kapitalismus ins Blickfeld geriet. Diejenigen, die Hausarbeit als ein Arbeitsverhältnis ohne Lohn durchsetzen wollen, müssten dies mit struktureller und direkter Gewalt erzwingen.

Diese strukturelle und direkte Gewalt charakterisiere alle ausbeuterischen subsistenziellen Beziehungen: zwischen Menschen und Natur, LandarbeiterInnen und Industrie, Metropolen und Kolonien. Dies sei einer der Gründe, warum Maria Mies und Abdullah Öcalan beide die Beziehung zwischen Mann und Frau für zutiefst kolonialistisch halten – und daher die Frauen für die erste Kolonie.

Rosa Luxemburg hatte bereits in »Die Akkumulation des Kapitals« (1913) nachgewiesen, dass es, um die Akkumulation von Kapitel auszuweiten, nicht reiche, das klassische Proletariat auszubeuten, sondern mehr und mehr auch die »nicht kapitalistischen Milieus« ausgeplündert werden müssten. Sie argumentierte, dass dies LandarbeiterInnen, mittelständische HandwerkerInnen, TagelöhnerInnen und auch ArbeiterInnen in den Kolonien seien, wozu natürlich auch Hausarbeit gehört.

Hier müssten wir zunächst eine andere Vision eines guten Lebens entwickeln als die uns vom Kapitalismus vorgegebene. Wir sollten nicht länger dem Verlangen nach unbegrenzt vielen Waren und der Vermehrung von Geld anhängen und alles am Geldwert messen. Stattdessen sollten wir ein Leben mit unmittelbarer Produktion im Zentrum aller sozialen und ökonomischen Aktivitäten leben.

Subsistenz als ökonomische Perspektive bedeute die Verbannung all dieser kolonialisierten Beziehungen. Diese Annäherung bedürfe eines anderen Verständnisses von Natur als des dominanzbasierten Modus, den wir kennen.

Daher Kooperativen, Kollektive und das Produzieren für deine eigenen Bedürfnisse, wie auch das Entscheiden darüber, welches die Bedürfnisse sind, denen auf lokaler Ebene begegnet werden sollte.

D) Familie, Beziehungen zwischen Männern und Frauen

Kritik an der Familie sei zentral. Überbleibsel aus vergangenen patriarchalen und staatlichen Gesellschaften und Mustern moderner westlicher Zivilisationen hätten keine Synthese gebildet, sondern seien in einer Sackgasse gelandet. Das wichtigste Problem für Freiheit im sozialen Kontext stellten daher Familie und Heirat dar. Absoluter Besitz von Frauen bedeute, sie von allen politischen, intellektuellen, sozialen und ökonomischen Bereichen abzuschirmen. Es sei daher notwendig, Familie und Heirat von Grund auf zu hinterfragen und neue Leitlinien mit dem Ziel von Demokratie, Freiheit und Geschlechtergleichheit zu entwickeln. Eine dementsprechende Diskussion werde von der kurdischen Frauenbewegung über freie Beziehungen zwischen Männern und Frauen geführt. Hier sollten Frauen die Leitlinien für solche Beziehungen festlegen. Für freiheitliche Beziehungen zwischen Frauen und Männern bestehe genauso, wie es ein Bedürfnis sei, freie Frauen zu werden, ein Bedürfnis, zu freien Männern zu werden. Daher bedeute dies eine radikale Transformation von Familie und dieser Art von Beziehung. Die Familie sollte nicht länger die Einheit sein, auf der Patriarchat und kapitalistisches Patriarchat basieren. Hier sollten die Leitlinien weit darüber hinausgehen und alle von Frauen selbst bestimmt werden.

E) Selbstverteidigung

Die Selbstverteidigung sollte nicht ausschließlich in physischem Sinne verstanden werden, sei aber auch enthalten. Der Staat habe das Macht- und Gewaltmonopol über alle Männer und Frauen. Feminizide, Gewalt und Vergewaltigung gegen Frauen passierten weiterhin unter verschiedenen Deckmänteln in der Welt, sogar in als weit entwickelt geltenden Ländern. Daher sollten sich Frauen intellektuell, psychisch und physisch organisieren, um sich selbst und ihre Strukturen zu verteidigen.

Jede Kraft sollte auf der Basis von Selbstverteidigung und auch gegen Angriffe von außen aufgestellt werden, und Frauen sollten daher auch über ihre eigenen Frauenselbstverteidigungseinheiten verfügen. Dies sei zurzeit in Rojava der Fall und innerhalb der kurdischen Frauenbewegung im Allgemeinen. Dieses Verständnis von Selbstverteidigung beinhalte auch, dass Gerichte mit Frauen besetzt werden, um Ungerechtigkeiten aufzudecken und zu beseitigen.

F) Kultur, Ästhetik und Schönheit

Dies werde in Übereinstimmung mit dem Konstrukt von Frauen als Sexualobjekt und als das schwächere Geschlecht definiert. Daher sei es eine weitere Aufgabe der Akademien, Kultur, Ästhetik und Schönheit für Frauen zu re-konstruieren und neu zu definieren. Darauf sollte ein Schwerpunkt gelegt werden, weil es heute keinen Bereich des Körpers mehr gebe, der verschont bleibt und nicht zum Objekt wird.
Letztlich seien auch der Neuaufbau von Medien, der Filmkunst und des Festhaltens an bestimmten Frauenbildern auf diesem Gebiet wichtige Aspekte. Dieser Bereich sei auch insofern von Belang, als Frauen dort überlegen müssten, wie sie sich selbst definieren wollen.

G) Demontage von Macht und Hierarchie

Der Demokratische Konföderalismus und die Demokratische Autonomie verkörperten das Gesellschaftssystem der demokratischen Moderne; dieses System stelle keine alternative Staatsformation dar, aber eine Alternative zum Staat. Unsere heutigen Demokratien hätten sich entsprechend der römischen Demokratie repräsentativ statt partizipativ entwickelt. Daher herrsche eine Mehrheit oder werde beherrscht und eine Elite entscheide in unserem Namen über essenzielle Themen. Demokratische Autonomie auf der anderen Seite sei eine radikale Demokratie mit einer über allem stehenden organisierten Teilhabe von Frauen an Entscheidungen. Doch auch alle anderen Bereiche der Gesellschaft seien so organisiert, dass die Teilhabe an der Entscheidungsfindung bei unmittelbar und mittelbar betreffenden Themen direkt stattfinde.

Dies werde bereits innerhalb der kurdischen Frauenbewegung praktiziert. Frauen seien in allen Strukturen der Entscheidungsbildung organisiert. Sie träfen alle in eigener Sache anstehenden Entscheidungen selbst und seien auf allen Ebenen vertreten, von der lokalen bis hin zu Beschlüssen, welche die ganze Gesellschaft betreffen.

IV B. »Erfahrungen von Frauenbewegungen« – Internationalismus

Im letzten Teil der Konferenz ging es um Erfahrungen von Frauenbewegungen. So sprach Zarife Karasungur von der Bewegung Demokratischer und Freier Frauen (DÖKH) aus Nordkurdistan, die gerade als BDP-Abgeordnete in den Stadtrat von Çewlik (Bingöl) gewählt worden ist, über die Basisorganisierung von Frauen. Die 81-jährige britische Menschenrechtsanwältin Margaret Owen schilderte mit leuchtenden Augen die Revolution in Rojava, die sie als Revolution der Frauen beschrieb. Im Winter hatte sie Rojava besucht.2 Sie sagte, Mandela oder auch Gandhi sei weit davon entfernt gewesen, für eine geschlechterbefreite Gesellschaft zu kämpfen. Niemand habe die Rolle von Frauen und Mädchen so radikal in den Mittelpunkt gestellt wie Abdullah Öcalan. Consie Lozano, Aktivistin der militanten philippinischen Frauenorganisation GABRIELA3 aus den Niederlanden, stellte diese Grassroots-Bewegung vor, die mit mehr als 200 Mitgliedsorganisationen Frauenrechtskampagnen durchführt und für eine freie, unabhängige Gesellschaft kämpft, in der Frauen ihr eigenes Land besitzen und an gesellschaftlichen Entscheidungen partizipieren. Ihr Ziel sei es, in jedem Haushalt ein Mitglied bei den GABRIELA-Frauen zu organisieren. Marta Jorba und Maria Rodó de Zárate von der katalanischen Frauenorganisation Gatamaula5 sprachen über ihre Kampagnen zum Aufbau feministischer Kooperativen und zur Verteidigung des Rechtes auf Abtreibung.

Fazit

Diese erste Jineolojî-Konferenz in Europa hat aufgezeigt, dass es eine überaus radikale Abkehr vom Fortschrittsglauben, von der kapitalistischen Moderne geben muss, um das kapitalistische Patriarchat zu überwinden, um die Erde, die Zukunft unserer Nachfahren zu retten, einen ökologischen Kollaps zu verhindern. Dafür braucht es äußerst radikale Einschnitte, es reicht nicht aus, individuelle Lösungen zu suchen, sondern Organisierungskraft und eine gemeinsame ideologische Basis sind unvermeidbare Prämissen. Auch wenn die Übermacht des Systems unüberwindbar scheint, hat die kurdische Bewegung nie davor zurückgeschreckt, sich sehr weite Ziele zu stecken und diese dann ohne zu zögern in die Tat umzusetzen. So scheute sich die kurdische Frauenbewegung auch nicht, eine neue Frauenwissenschaft auf die Beine zu stellen, die dem etablierten System den Kampf ansagt und für sich in Anspruch nimmt, eine wirkliche Alternative darzustellen. Ermutigend auch die auf der Konferenz vertretenen Frauenbefreiungsbewegungen aus Europa und Afrika sowie die Ansage der PAJK, sie organisiere sich mit den kämpfenden Frauen weltweit, um sich zu vernetzen und auszutauschen.

Die Zentren der Revolution liegen heute weit entfernt von Europa, in Kurdistan, in Lateinamerika, in Indien, aber der Erfolg dieser Kämpfe ist unsere Hoffnung.

Fußnoten:

1 Hagia, Internationale Akademie für Moderne Matriarchatsforschung und Matriarchale Spiritualität; http://www.hagia.de

2 http://peaceinkurdistancampaign.wordpress.com/resources/pik-campaign-statements/margaret-owen-returns-from-solidarity-visit-to-rojava/

3 www.gabrielaph.com

4 www.gatamaulafeminista.blogspot.com