Aktuelle politische Lage von Tim Krüger, freier Journalist
Bereits ein kurzer Blick in die Nachrichtenseiten und Zeitungen dieser Welt genügt um zu erkennen, dass wir in einer Epoche weltweiter Konflikte und Kriege leben. Egal ob auf dem afrikanischen Kontinent, in Osteuropa, dem Mittleren Osten oder auch dem Pazifikraum: An allen Ecken und Enden dieser Welt toben bewaffnete Auseinandersetzungen und wachsen die Spannungen. Immer öfter brechen sich die Interessenskonflikte zwischen den unterschiedlichen Machtblöcken, Staaten und Kapitalfraktionen als offene Kriege Bahn und verheeren Landstriche und ganze Regionen. Für das Jahr 2023 allein wird die Zahl der bewaffneten Konflikte, kriegerischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriege mit 59 angegeben. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer der vielen schwelenden Konflikte und innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen noch bei Weitem höher liegt. Die hohe Zahl ergibt sich dabei nicht unbedingt aus einer gestiegenen Zahl der zwischenstaatlichen Kriege, also der klassischen Kriege zwischen zwei oder mehr Staaten. Vielmehr spiegelt sie die Vielzahl der Konflikte »niedriger Intensität«, Bürgerkriege und Stellvertreterkonflikte wieder. Große Auseinandersetzungen im Maßstab der zwei großen Aufteilungskriege des 20. Jahrhunderts stellen in der aktuellen Weltlage eine Ausnahme dar. Doch auch die Vorbereitungen für größere Kriege staatlicher Akteure laufen auf Hochtouren. So sind laut dem schwedischen Friedensinstitut SIPRI die weltweiten Rüstungsausgaben mit einer Gesamtbilanz von 2,44 Billionen US-Dollar 2023 zum neunten Mal in Folge gestiegen. Platz eins im globalen Rüstungswettlauf belegen weiterhin unangefochten die USA mit 916 Milliarden US-Dollar und nehmen damit einen Anteil von 37% der globalen Rüstungsausgaben ein. Die Volksrepublik China folgt noch weit abgeschlagen mit 296 Milliarden US-Dollar.
Der Dritte Weltkrieg
Folgt man der Analyse der Freiheitsbewegung Kurdistans, so können die verschiedenen Schlachtfelder der aktuellen Auseinandersetzungen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Sie können nur als Teil einer seit nunmehr fast 35 Jahren andauernden globalen Auseinandersetzung verstanden werden. Abdullah Öcalan und die Freiheitsbewegung Kurdistans, entwickelten bereits in den 2000er Jahren, ihre These vom bereits heute tobenden Dritten Weltkrieg. Heute wird auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der Begriff des Dritten Weltkriegs wieder in die Debatten eingeführt. Man spricht von der heraufziehenden Gefahr eines Dritten Weltkriegs und meint damit oft die offene und nuklear geführte Auseinandersetzung zwischen den Großmächten dieser Welt. Die Freiheitsbewegung Kurdistans hat stets darauf beharrt, dass das entscheidende Charakteristikum des Dritten Weltkriegs nicht unbedingt in der Größenordnung oder in technischen Fragen der Auseinandersetzung liegt. Stattdessen können auch die aktuell an vielen verschiedenen Fronten ausgetragenen Konflikte als Weltkrieg gewertet werden, da sie eben, so wie der Erste und der Zweite große Aufteilungskrieg, um die Schaffung einer neuen Weltordnung geführt werden. Die beiden großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts haben zum einen die Dominanz des kapitalistischen Weltsystems zementiert und zum anderen eine Ordnung geschaffen, welche von 1945 bis zum Beginn der 1990er Jahre als bipolare Weltordnung das Antlitz dieser Erde prägten.
Mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Staatenblocks Anfang der 1990er Jahre ist diese bipolare Weltordnung nicht nur ins Wanken geraten, sondern vollständig in sich zusammengebrochen. Als letzte verbliebene Weltmacht sahen sich die Vereinigten Staaten von Amerika dazu berufen, nun als erstes Imperium in der Geschichte der Menschheit eine unipolare Weltordnung unter ihrer alleinigen Führung zu errichten. Folgt man dem US-amerikanischen Geostrategen und ehemaligen nationalen Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński, so war diese neue Weltordnung nicht nur eine Chance, sondern fast schon eine heilige Mission, eine Verantwortung, welche mit dem Wegfallen der alten Weltordnung nun auf den Schultern des Superhegemons lastete: Entweder die Errichtung einer Pax Americana, notfalls auch gewaltsam durchgesetzt, oder der Übergang ins Chaos und entgrenzte Machtkämpfe in allen Winkeln dieser Erde. Die Durchsetzung der liberalen Weltordnung erfolgt dabei laut Brzeziński, nicht nur mit der brutalen Gewalt der Waffe, sondern vor allem durch den planvollen Einsatz von »Soft Power«. Die Hegemonie der US-amerikanischen Kulturindustrie, die Kontrolle eines großen Teils der Massenmedien und modernen Kommunikationstechnologien sowie die US-amerikanische Dominanz in den zahlreichen vermeintlich multilateralen internationalen Institutionen und nicht zuletzt ein entscheidender Vorsprung in Forschung, Technik und politisch-wissenschaftlicher Theoriebildung genügen, um einen Großteil der Gesellschaften der Welt für den »American Way of Life« zu begeistern und damit die unumstrittene Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu sichern.
Interessen des transnationalen Kapitals
Wo sich dennoch geweigert werden sollte, sich in die neue liberale Weltordnung einzufügen, da gilt es dann doch, mit dem letzten Hilfsmittel staatlicher Politik nachzuhelfen: der organisierten Anwendung von Gewalt. Das kapitalistische Weltsystem, besitzt mit seinem unersättlichen Streben nach Maximalprofit seit jeher eine starke Tendenz zur Globalisierung. Der europäische Kapitalismus konnte nur auf Grundlage der aus den überseeischen Kolonien geraubten Werte gedeihen. Die moderne Industrieproduktion hungert stets und unstillbar nach neuen Ressourcen, während die im Überschuss hergestellten Waren immer größere Absatzmärkte benötigen, um gewinnbringend veräußert zu werden. Doch anders als noch im 19. oder großen Teilen des 20. Jahrhunderts, sind es heute nicht mehr ortsgebundene nationale Kapitalfraktionen, welche den Löwenanteil der globalen Profite einheimsen. Die existierende Wirtschaftswelt des globalisierten Finanzkapitalismus, wird heute vielmehr von Monopolen dominiert, welche durch vielfache Investitionen und Anteilskäufe die gesamte Welt umspannen.
Das transnational agierende Finanzkapital und die immer einflussreicher werdende Fraktion des digitalen Kapitals – der Softwareindustrie, der künstlichen Intelligenz und all jener, welche ihre Geschäfte mit dem Sammeln und Verkaufen von Daten machen – benötigen weder fixe Produktionsstandorte noch eine feste Belegschaft. Auch die globale Güterproduktion und der Absatz der Waren findet heute durch weltumspannende Produktions- und Lieferketten statt. Um die Profitrate zu erhöhen, werden die Preisunterschiede für Ressourcen, Transport und die menschliche Arbeit – als bis heute wichtigste Ware in der kapitalistischen Produktion – geschickt genutzt. Die Voraussetzung hierfür jedoch sind zum einen intakte und möglichst ungestört verlaufende Handelsrouten als auch die Möglichkeit, Kapital schnell von einem Ort zum anderen zu transferieren, zu liquidieren und wieder auf ein Neues an anderer Stelle zu investieren. Unterschiedliche nationale Gesetzgebungen, eine restriktive Zollpolitik, Hindernisse für ausländische Investitionen, schwankende Wechselkurse oder starke nationale Währungen stellen dabei einen Faktor der Unberechenbarkeit dar. Dieselbe Auswirkung haben auch instabile politische Strukturen und andauernde ungelöste Krisen und Konflikte. Sie alle stellen Hindernisse für den freien Fluss des Kapitals dar. Ebenso wie das nationale Kapital den Nationalstaat als rechtlichen Rahmen für die Schaffung eines einheitlichen Marktes benötigte, ist das globale Kapital heute auf eine »regelbasierte Weltordnung« angewiesen. Diese hebt die nationalstaatliche Ordnung zwar nicht vollständig auf, sie formt sie aber den Interessen des globalen Kapitals entsprechend um.
Der Mittlere Osten im Zentrum des Dritten Weltkriegs
So wie jede rechtliche Ordnung nur durch ihre potentiell gewaltsame Durchsetzung wirkliche Gültigkeit verliehen bekommt, will auch die anvisierte neue Weltordnung durch das strenge Auge einer Weltpolizei bewacht werden. Der Mittlere Osten besitzt vor diesem Hintergrund bis heute eine ganz besonders strategische Bedeutung. Allein seine geografische Lage, als Schnittstelle zwischen den Kontinenten, machte die Region schon immer zu einem der wichtigsten Knotenpunkte der weltweiten Handelsrouten. Von der antiken Seidenstraße bis zum Suezkanal und den neuen Großprojekten des 21. Jahrhunderts: Alle Wege des Handels von Ost nach West, müssen auf die eine oder andere Weise die Region passieren. Die Nationalstaaten im Mittleren Osten mit ihren überalterten, nationalistischen und oft despotischen Regimen, ihrer staatlich gelenkten oder in weiten Teilen verstaatlichten Wirtschaft waren dabei zum Anbruch des neuen Jahrtausends zu einem Hindernis für die vollständige Globalisierung der kapitalistischen Moderne geworden. Im 20. Jahrhundert hatte die nationalstaatliche Nachkriegsordnung, wie sie durch die damaligen Hegemonialmächte Großbritannien und Frankreich geschaffen wurde, einen großen Nutzen bei der Zersplitterung und Kontrolle der Region geleistet. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wendete sich diese jedoch zusehends zu einem Hemmnis für den freien Fluss des Kapitals. Die bis heute andauernde US-amerikanische Intervention in der Region, beginnend mit dem zweiten Golfkrieg 1990, verfolgt, anders als von von den USA selbst erklärt, nicht das Ziel, wahrhaftig demokratische Verhältnisse im Sinne der Völker der Region zu erstreiten, sondern eben jene rechtlichen und politischen Hindernisse aus dem Weg zu schaffen und den Mittleren Osten einem neuen Design zu unterziehen.
Eben aufgrund dieser strategischen Rolle, welche die Region spielt, hat die Freiheitsbewegung Kurdistans stets betont, dass ungeachtet der Eskalation des Krieges um die Ukraine 2022, der wachsenden Spannungen in Ostasien und der immer heftiger ausbrechenden Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent, auch weiterhin der Mittlere Osten das Zentrum der globalen Auseinandersetzungen darstellen wird. Dabei ist nicht gesagt, dass die Auseinandersetzungen mit Blick auf die materiellen Schäden oder menschlichen Verluste unbedingt die heftigsten sein müssen. Was aber gesagt wird, ist, dass es weiterhin der Mittlere Osten sein wird, in welchem die unterschiedlichsten regionalen und internationalen Mächte aufeinanderprallen und die nächsten entscheidenden Schlachten im Kampf um die Neugestaltung der Weltordnung geschlagen werden. Auch wenn diese Position, insbesondere seit Februar 2022, immer wieder von verschiedenen Seiten belächelt wurde, so haben doch die vergangenen 17 Monate des Krieges in aller Deutlichkeit unter Beweis gestellt, dass die Region vorerst einer der wichtigsten Schauplätze des globalen Ringens bleiben wird. Dabei haben der rücksichtslos geführte israelische Krieg in Gaza, die Invasion im Libanon und zuletzt die Implosion des Assad-Regimes bereits jetzt das Antlitz der Region unwiederbringlich verändert. Es sind allerdings nur die ersten Vorboten der neuen Ordnung, welche vor unseren Augen mit aller Gewalt aus dem Stein gemeißelt wird.
Veränderung im Mittleren Osten
Abdullah Öcalan selbst hat den Zusammenbruch des syrischen Regimes als das Ende des Status quo beschrieben, wie er mit dem Abkommen von Sykes-Picot und der Nachkriegsordnung des Ersten Weltkriegs geschaffenen wurde. Mit dem Fall der Baath-Dikatur, welche Syrien über 60 Jahre in ihrem Klammergriff gehalten hatte, wurde eine wichtige Etappe in der Neugestaltung der Region begonnen. Es liegt auf der Hand, dass der Fall der Familie Assad aufs engste mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre verbunden ist. So war es nicht zuletzt die massive Schwächung des Iran, dem wichtigsten Unterstützer Syriens, und seiner regionalen Verbündeten, die den Weg für den Zusammenbruch des Baathismus ebnete. Die israelische Invasion im Libanon ab September 2024 sowie die seit 2020 konstant anhaltenden Schläge der US-amerikanisch-britisch-israelischen Koalition gegen iranische Militärziele und Organisationen der so genannten »Achse des Widerstands«, vom Jemen bis in den Irak, haben die Bewegungsfreiheit der mit dem iranischen Regime verbündeten Kräfte entscheidend eingeschränkt. Auch Russland, welches als wichtigster Verbündeter Assads das marode Regime künstlich am Leben erhalten hatte, hat durch die Kämpfe um die Ukraine und die mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Folgen hohe Verluste erlitten und einen großen Teil seiner Handlungsfähigkeit eingebüßt. Auch ein Ausgleich zwischen den USA und Russland scheint vielen Beobachter:innen vor dem Hintergrund der Verhandlungen um die Ukraine nicht mehr unwahrscheinlich.
Mit dem Ende des Baathismus in Syrien und dem Eintritt in eine neue Etappe der Neuordnung des Mittleren Ostens ist ein für alle Mal das Ende der Epoche der klassischen Nationalstaaten in der Region angebrochen. Die Türkei und der Iran als letzte zwei verbliebene Mächte, welche noch auf dem Status quo des 20. Jahrhunderts beharren, stehen damit unter Zugzwang. War im 20. Jahrhundert die Türkei noch der entscheidende Staat in der westlichen Strategie im Mittleren Osten, beansprucht heute Israel mehr als selbstbewusst die Position als zentrale Ordnungsmacht in der Region. In den vergangenen Jahrzehnten hat die türkische Führung vor allem versucht, von der günstigen geografischen Position der Türkei zu profitieren. Als Tor zu Asien war die Türkei schon immer eine wichtige Schnittstelle für den Ost-West-Handel und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem angestrengt, zu einer Schnittstelle für den globalen Energie- und Gütertransfer zu werden. Die Transanatolische Pipeline TANAP, welche seit 2020 aserbaidschanisches Gas an die Europäische Union liefert, und der so genannte »Südliche Gaskorridor«, welcher zukünftig Gas aus den noch weitgehend unerschlossenen Reserven Turkmenistans Richtung Westen transportieren könnte, stellen für Europa nach dem Abbruch der Lieferungen russischen Pipelinegases eine wichtige Alternative für die europäischen Märkte dar. Der so genannte »Mittlere Korridor«, ein Netz von Handelswegen von China über die zentralasiatischen Turkstaaten und die Türkei bis nach Zentraleuropa, könnte durch seinen Ausbau die Türkei in Zukunft zu einer der wichtigsten Drehscheiben für den Gütertransfer nach Europa machen.
Die Europäische Union, und allen voran auch die Bundesrepublik Deutschland, haben dabei durchaus auch ein Eigeninteresse am Ausbau der türkischen Projekte. Langfristig stellen diese einen Ausweg aus der vollständigen Abhängigkeit von US-amerikanischen Flüssiggasimporten dar und könnten die strategische Autonomie der EU gegenüber den USA stärken. Doch die europäischen Mächte besitzen aktuell nur einen Bruchteil ihrer vormaligen Kraft. Darüber hinaus machen die unklare Zukunft der Türkei und der Nachbarländer sowie die anhaltende Instabilität und Kriegssituation in der Türkei das Land derzeit zu einem wenig attraktiven Ziel ausländischer Investitionen. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Türkei ohne eine Lösung der kurdischen Frage nicht in der Lage sein wird, sich aus dieser Situation zu befreien. Währenddessen haben die USA, Israel und auch die Staaten der Europäischen Union im September 2023 mit einer Absichtserklärung den Startschuss zu einer neuen Initiative gegeben. Der am Rande des G20 Gipfels in Neu-Delhi bekannt gegebene Wirtschaftskorridor Indien-Nahost-Europa (IMEC) soll Asien und Europa zukünftig unter Umgehung der Türkei und des Suez-Kanals über Indien, die Golfmonarchien, Jordanien, Israel, Südzypern und Griechenland miteinander verbinden. Die Lieferzeiten soll dies laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen um 30 – 40% verkürzen. Stand das Projekt bis vor Kurzem noch auf wackeligen Beinen, wurden mit der militärischen Niederlage der Hisbollah im Libanon sowie dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien und der damit einhergehenden Sicherung der Handelswege durch das Ostmittelmeer, die größten Hindernisse aus dem Weg geräumt.
Für die Türkei würde die Umsetzung des Abkommens eine strategische Schwächung bedeuten und das Land langfristig als Player an den Spielfeldrand manövrieren. Auch das seit 2024 offensiv propagierte Projekt der Iraq-Developement Road, welche als türkisch-irakische Alternative zum IMEC gewertet werden kann, scheint vor dem Hintergrund der anhaltenden Auseinandersetzungen im Nordirak und der ungeklärten kurdischen Frage innerhalb der Türkei immer noch in weiter Ferne. Die Türkei hat sich mit ihrem Beharren auf eine militärische Lösung der kurdischen Frage in vielerlei Hinsicht selbst ins Abseits manövriert. Die vergangenen fast zehn Jahre des Krieges gegen die Freiheitsbewegung Kurdistans haben das Land nicht nur immer wieder in Konflikt mit seinen unmittelbaren Nachbarn gebracht, sondern auch die türkische Wirtschaft dem freien Fall preisgegeben. Trotz aller Anstrengungen und des massiven Einsatzes hochentwickelter Kriegstechnologie ist es der türkischen Armee nicht gelungen die Bewegung militärisch in die Knie zu zwingen. Auch die Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens stellt heute eine nicht zu unterschätzende Kraft dar, welche auf die eine oder andere Weise ihren Anteil an der Schaffung eines neuen syrischen Staatswesens haben wird. Die Türkei befindet sich heute selbst einmal mehr an einem Scheideweg. Auf der einen Seite kann sie sich unterordnen und in die neue Ordnung einfügen, die im Mittleren Osten unter israelischer Führung an Gestalt gewinnt, womit sie auch ihre Stellung als Regionalmacht zu großen Teilen einbüßen würde. Auf der anderen Seite kann sie die ausgestreckte Hand Abdullah Öcalans und der Freiheitsbewegung Kurdistans ergreifen und sich auf Grundlage einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage neu erfinden.
Die Türkei und eine Lösung der kurdischen Frage
Der scheinbare Sinneswandel der türkischen Führung seit dem Herbst vergangenen Jahres und die Schritte auf Abdullah Öcalan zu, können nur vor dem Hintergrund der veränderten geopolitischen Situation verstanden werden. Nicht umsonst betonen der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in gebetsmühlenartiger Weise immer wieder, dass es in Zeiten verstärkter Berdrohungen von Außen nun gelte die innere Front zu stabilisieren. Abdullah Öcalan hat seine Absicht bereits am 28. Dezember vergangenen Jahres klar zum Ausdruck gebracht und erklärt, dass nur eine friedliche Lösung der kurdischen Frage »das Land auf das Niveau bringen« wird, »das es verdient«. In der neuen Ordnung des Mittleren Ostens und der Welt, gibt es keinen Platz mehr für die türkische Republik des 20. Jahrhunderts. In seinem Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft machte Abdullah Öcalan auf die »tausendjährige gemeinsame Geschichte« und das »freiwillige Bündnis« des kurdischen und türkischen Volkes aufmerksam. Er betonte, dass die kapitalistische Moderne in den letzten zwei Jahrhunderten alles in ihrer Macht stehende unternommen hat, um eben dieses Bündnis zu brechen und beide Völker gegeneinander auszuspielen. Öcalan unterstrich in den vorausgegangenen Gesprächen und den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, dass weder die Kurd:innen, noch die Republik Türkei von der Weiterführung des Krieges profitieren. Er betrachtet dabei die kurdische Frage als ein vom Imperialismus geschaffenes und weiterhin aufrechterhaltenes Problem, welches ebenso wie die anderen ungelösten ethnischen und religiösen Konflikte im Mittleren Osten als Spielball in der Hand der Hegemonialmächte genutzt wird, um die Region geschwächt und unter Kontrolle zu halten. Schon während der Gespräche 2009/2010 bekundete Abdullah Öcalan mehrfach seine Absicht zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes und erklärte, das »Töten und getötet werden«, eine Situation des konstanten Konfliktes wie in Israel und Palästina, könne keine Lösung darstellen. Sein Ziel sei es, »die Pläne aller zu durchkreuzen«.
Die von Abdullah Öcalan in den letzten Monaten entwickelte Initiative kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Bereits im Januar erklärte die DEM-Partei nach einem Treffen auf der Gefängnisinsel İmralı, Abdullah Öcalan arbeite »am Aufbau eines Modells, das die Tür für imperialistische Ambitionen gegenüber dem Iran, dem Irak, Syrien und der Türkei schließen wird.« Dabei beharre Abdullah Öcalan wie 1993 auch heute noch darauf, dass das einzige Modell, dass den Ländern der Region langfristige Stabilität, Sicherheit, Wohlstand, wirkliche Demokratie und vollständige Unabhängigkeit gewährleisten kann, kein anderes als die gemeinsame Koexistenz der Völker und das Konzept einer miteinander geteilten Heimat sein kann. Um zu verhindern, »dass die Völker ein neues Gaza und ein neues Bagdad erleben«, sei die demokratische Lösung der kurdischen Frage unabdingbar. Heute entscheide sich »entweder meine Lösung, oder die Lösung der USA«, so Abdullah Öcalan bereits im Januar. In Zeiten in denen weltweit der Faschismus um sich greift, in denen ein von Trump und Musk geführtes US-Imperium den Takt der globalen Konfrontationen immer weiter beschleunigt und nicht nur der Mittlere Osten im Chaos versinkt, kann der Vorstoß Öcalans als durchaus gewagter, aber mutiger Vorstoß und Suche nach einer demokratischen Alternative verstanden werden. Es bleibt zu hoffen, dass man dem historischen Aufruf Abdullah Öcalans auch in Ankara mit der nötigen strategischen Weitsicht begegnen wird und die Chance zu einer Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, aber auch der weiterreichenden demokratischen Transformation der gesamten Region, nicht ungenutzt verstreichen lässt.
Doch der Umstand, dass die türkische Führung bis dato, trotz einseitigen Waffenstillstandes der PKK, beharrlich weiter an ihrer Kriegspolitik festhält, tagtäglich die Gebiete Südkurdistans und Nord- und Ostsyriens mit Bombardements überzieht und auch in der Sprache keinen Schritt von der hasserfüllten und gewaltvollen Rhetorik zurückgeht, lässt immer wieder Zweifel an den Absichten des Staates laut werden. In Anbetracht der Geschichte der bisherigen Lösungsversuche seitens Abdullah Öcalans und der Freiheitsbewegung Kurdistans und der konsequenten Sabotage dieser durch sowohl innere als aus äußere Kräfte, welche von der Fortsetzung des Krieges profitieren, gilt es, die Entwicklungen mit höchster Aufmerksamkeit zu verfolgen. Es darf nicht vergessen werden, dass der Staat auch in der Vergangenheit jede Gelegenheit und jede noch so kleine Schwachstelle genutzt hat, um der Freiheitsbewegung schwere Schläge zuzuführen. Abdullah Öcalan selbst hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass der Kampf um den Frieden noch größere Anstrengungen als die Fortsetzung des Krieges erfordern werde. Daher gilt es für die demokratischen Kräfte in der Türkei, aber auch für die internationale Solidaritätsbewegung, in diesen Tagen nicht locker zu lassen, sondern ganz im Gegenteil, den politischen Druck aufrechtzuerhalten und noch weiter zu erhöhen. Wenn versucht werden sollte eine demokratische Lösung zu verzögern oder sich dieser gar vollständig verweigert werden sollte, so muss die Gesellschaft den Staat an den Verhandlungstisch zwingen. Internationaler Druck vor allem aus den europäischen Staaten und der Bundesrepublik Deutschland wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Es gilt daher auch, die scheidende und die kommende Bundesregierung stets zur Verantwortung zu rufen und durch vielfältige zivilgesellschaftliche Aktivitäten dazu zu bewegen, eine konstruktive Rolle im aktuell laufenden Prozess einzunehmen.
Eine neue Phase des Kampfes
Für die Freiheitsbewegung Kurdistans und die internationale Solidaritätsbewegung bedeutet die erreichte Etappe mit Sicherheit große Chancen, wird aber auch neue Herausforderungen bereithalten. Wie schon die PKK in ihrer Erklärung vom 1. März in aller Deutlichkeit festgehalten hat, stellt der Aufruf Abdullah Öcalans nicht das Ende eines Kampfes, sondern den Beginn einer völlig neuen Kampfphase dar. Ebenso wie der Prozess der Umgestaltung der Region mit aller Heftigkeit weiter andauern und wohl in der kommenden Zeit auch weiter an Fahrt aufnehmen wird, gilt es, die Phase der Umstrukturierung und der Neuaufstellung der Freiheitsbewegung mit der nötigen Initiative, Kraft und Energie anzugehen. Abdullah Öcalan hat in den Gesprächen der vergangenen Monate und seinen an die Öffentlichkeit gelangten Erklärungen klargestellt, dass der Schritt zur Auflösung der PKK und Umstrukturierung der Bewegung vor allem dazu dient, den Kampf um Sozialismus und Demokratie auf ein neues Niveau zu heben und die bestehenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Die besondere Vorreiterrolle, die Abdullah Öcalan dabei der Frauenbewegung einräumt und sein Beharren darauf, dass der einzige Weg zum Sozialismus über die Frauenbefreiung führt, zeigt sehr deutlich, dass es für die Schaffung der im Aufruf geforderten »demokratischen Gesellschaft« weit mehr bedarf als bestimmter rechtlicher Zugeständnisse seitens des Staates. In seiner am 8. März veröffentlichten Botschaft, erklärte Öcalan, dass »die sozialistische Haltung eines Mannes […] sich in seiner Beziehung zur Frau« zeige und verdeutlichte damit, dass die Demokratisierung zuallererst auch bei den innergesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern ansetzen müsse.
Abdullah Öcalan und die Freiheitsbewegung Kurdistans zeichnen sich in ihrer mehr als 50-jährigen Kampfgeschichte vor allem durch die Eigenschaft aus, flexibel auf jede Veränderung zu reagieren, die eigene Praxis, Arbeitsweise und sogar Organisationsform immer wieder kritisch zu hinterfragen und auf ihre Zweckmäßigkeit abzuklopfen und dort wo nötig, auch ohne zu zögern radikale Veränderungen einzuleiten, ohne dabei die eigenen Prinzipien aufzugeben. Mit seinem Aufruf versucht Abdullah Öcalan, die Kampfweise und Methoden der Bewegung entsprechend der Zeit und den Umständen anzupassen. Er stellt fest, dass der bewaffnete Kampf und auch die Arbeiterpartei Kurdistans ihre Rolle gespielt haben, es nunmehr aber an der Zeit sei, die Waffen schweigen zu lassen und den Weg für eine breite gesellschaftliche Beteiligung zu ebnen. Krieg und demokratische Gesellschaft sind zwei einander ausschließende Dinge. Das stellte Öcalan schon in seinen Verteidigungsschriften in den 2000er Jahren fest. In einer Atmosphäre der Gewalt, der Konfrontation und der Repression kann keine organisierte und damit demokratische Gesellschaft gedeihen. Die PKK erklärte in ihrer Stellungnahme vom 1. März, dass das durch Abdullah Öcalan entwickelte Bewusstsein und das große Erbe der Erfahrung der PKK dem Volk die Kraft verleihen, den Kampf für das Gute, das Wahre, das Schöne und die Freiheit auf der Grundlage der demokratischen Politik fortzuführen. Damit erklärt die PKK sehr deutlich, dass der von Abdullah Öcalan anvisierte Prozess der Umstrukturierung nur durch die aktive und massenhafte Beteiligung aller Teile der kurdischen Bevölkerung und der demokratischen Kräfte der Türkei erfolgreich sein kann.
Parallel dazu lässt sich ohne Zweifel sagen, dass auch in der kommenden Phase eine stark aufgestellte Solidaritätsbewegung in Europa und der Welt, mehr als jemals zuvor, von Nöten sein wird. Dabei gilt es, nicht in Passivität zu verfallen oder abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt. Die sich öffnenden politischen Fenster müssen genutzt und die sich bietenden Möglichkeiten in Erfolge umgewandelt werden. Die Chancen für eine langfristige und bleibende Lösung der kurdischen Frage, einen würdevollen Frieden, wie ihn die Freiheitsbewegung seit Jahrzehnten immer wieder eingefordert hat, standen niemals besser.