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Die Tugend der Gewalt als neues nationales Selbstbild: Kulturelle Hegemonie und Spezialkriegsführung in der Türkei

  • April 8, 2025
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  Ali Kaan Korkmaz, Historiker Kulturelle Hegemonie bezeichnet die Produktion zustimmungsfähiger Ideen. Diese kann insbesondere mittels Medien in bestimmte Richtungen gelenkt und somit als Werkzeug des Spezialkriegs verwendet

Die Tugend der Gewalt als neues nationales Selbstbild: Kulturelle Hegemonie und Spezialkriegsführung in der Türkei

 

Ali Kaan Korkmaz, Historiker

Kulturelle Hegemonie bezeichnet die Produktion zustimmungsfähiger Ideen. Diese kann insbesondere mittels Medien in bestimmte Richtungen gelenkt und somit als Werkzeug des Spezialkriegs verwendet werden, um gesellschaftliche Stimmung und Vorstellungen zu manipulieren. In der Türkei wird dies vom Staat mit besonders hohem Aufwand betrieben, um das eigene Handeln auf allen Ebenen abzusichern.

Das Konzept der kulturellen Hegemonie, das im öffentlichen Diskurs in Nordkurdistan und der Türkei oft als Klischee abgetan wird, gibt wichtige Einblicke in die Ausrichtung des Staatsapparats. Die Tatsache, dass etwas zum Klischee – oder sogar zum Witz – wird, kann ein Hinweis auf seine tiefgreifenden Auswirkungen auf das Thema sein, das es behandelt. Um dieser Frage nachzugehen, ist es hilfreich, die Rolle von zwei Schlüsselfiguren in der Debatte über kulturelle Hegemonie zu untersuchen: Fahrettin Altun und Nuh Yılmaz. Beide haben in den offiziellen und inoffiziellen Strukturen des Staates Karriere gemacht und bekleiden heute prominente Präsidentschafts- oder Ministerämter. Altun ist zwar bekannter, aber beide sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung der kulturellen Hegemonie im Kontext der Spezialkriegsführung.

Fahrettin Altun

Fahrettin Altun hat mit einer vergleichenden Analyse der Medientheorien von McLuhan und Baudrillard promoviert. Seit sieben Jahren bekleidet er ein eigens geschaffenes Amt, das von seinem Einfluss zeugt. Sein beruflicher Werdegang umfasst Positionen an Institutionen wie der Şehir-Universität, der SETA¹ sowie der Ibn-Haldun-Universität und gipfelte in seiner Ernennung zum Leiter der Medien und Kommunikationsabteilung des Präsidenten im Jahr 2018. Diese Position festigte seine Rolle als wichtiger Architekt der Kommunikationsstrategie des Staates.

An dieser Stelle ist es angebracht, eine historische Anmerkung zu machen: Das »Propagandaministerium« der AKP und die enormen Befugnisse seines Koordinators Fahrettin Altun erinnern an Nazi-Deutschland und Goebbels. Die »Behörde für Kommunikation«, die ein 20-stöckiges Gebäude in ­Ankara belegt und rund 1500 Mitarbeitende beschäftigt, ist wegen ihres Budgets von über 377 Millionen türkischen Lira (2019)² bemerkenswert. Von dieser Summe werden 47 Millionen³ unter dem Titel »Ausgaben für soziale Medien« ausgegeben, um Armeen von Trollen zu füttern. Die Institution beherrscht derzeit den gesamten Bereich der politischen Kommunikation und hat die sichtbare Aufgabe, die Regierung zu verteidigen und jede Aktivität, die im Namen der Präsidentschaft durchgeführt wird, bekanntzumachen.

Nuh Yılmaz

Nuh Yılmaz‘ Karriere begann mit einer abgebrochenen akademischen Laufbahn, bevor er in den Staatsdienst wechselte. Von 2013 bis 2023 arbeitete er für die den türkischen Geheimdienst (MİT) und wechselte später an die Seite von Hakan Fidan ins Außenministerium. Yılmaz‘ Karriere, auch wenn sie weniger bekannt ist als die von Altun, ist eng mit dem Umfeld von Fidan verwoben. Seine Erfahrung in der Spionageabwehr und seine derzeitige Rolle als stellvertretender Außenminister unterstreichen seinen Einfluss auf die Gestaltung der staatlichen Kommunikations- und Geheimdienststrategien.

Während seiner zehn Jahre beim MİT arbeitete er hauptsächlich als Presseberater. Im Allgemeinen besteht die türkische Aufgabenbeschreibung dieser Position darin, den Mainstream-Medien zu diktieren, über welche Themen sie wöchentlich berichten und wie sie diese behandeln sollen. Mit anderen Worten: Es wird behauptet, dass die türkische Presse unter ständigem Druck der Regierung steht, und es ist die Presseberatungseinheit des MİT, die diesen Prozess mittels einer Kontrolle durch die Hintertür koordiniert. Insbesondere während des so genannten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 waren es diese Einheit und Nuh Yılmaz persönlich, die die türkischen Fernsehsender anriefen und ihnen sagten, was und wie sie berichten sollten. Das bekannteste Beispiel für seinen Auftritt in dieser Nacht: Nuh Yılmaz‘ rief die CNN Türk-Moderatorin Hande Fırat⁴ an, als Recep Tayyip Erdoğan über die FaceTime-Anwendung in die Live-Sendung eingeschaltet wurde. Natürlich bleibt die Frage im Raum stehen: Wer ist Nuh Yılmaz und warum rief er Hande Fırat in diesem Moment an?

Kampf zwischen den Herrschenden

Kulturelle Hegemonie und Spezialkriegsführung sind eng miteinander verbunden, auch wenn diese Beziehung im öffentlichen Diskurs oft übersehen wird. Kulturelle Hegemonie wird in der Regel im Sinne einer quantitativen Dominanz der kulturellen und künstlerischen Produktionen verstanden und meist auf einen simplen Vergleich dahingehend reduziert, welches ideologische Lager mehr Kunst produziert. So wird beispielsweise die überproportionale Anzahl linker Künstler:innen häufig als Beweis für kulturelle Dominanz angeführt. Diese Sichtweise lässt jedoch die wirtschaftliche Dynamik von Sektoren wie Film und Fernsehen außer Acht, in der das Fehlen einer klaren finanziellen Gewichtung den wahren Charakter der Debatte verschleiert.

Im Kern bezieht sich kulturelle Hegemonie auf die Gesamtheit der Ideen, die das Denken, die Wahrnehmung und das Leben einer Gesellschaft beherrschen. Ausgehend von Marx‘ Behauptung, dass die vorherrschenden Ideen einer Epoche die der herrschenden Klasse sind, ist es klar, dass die kapitalistische Moderne die kulturelle Produktion weitgehend kontrolliert hat, mit nur kurzen Unterbrechungen wie dem Kalten Krieg. Während der Zeit des Kalten Krieges ließen starke kommunistische Parteien die antisystemischen Gedanken in den westlichen Mainstream-Diskussionen aufleben. Während Gegenkulturen und Untergrundbewegungen fortbestehen, funktioniert die kulturelle Hegemonie durch die Produktion und Reproduktion dominanter Ideen in Literatur, Kunst und Medien.

In der Türkei hat die Debatte über kulturelle Hegemonie eine besondere Form angenommen: einen islamisch orientierten Angriff der AKP auf die zuvor dominierende kemalistische Kultur. Diese Strategie zielt darauf ab, die kemalistische kulturelle Dominanz zu demontieren und durch ein neues Narrativ zu ersetzen, wie der berüchtigte Tweet⁵ von Fahrettin Altun zeigt. Kulturelle Hegemonie beinhaltet also die Beziehung zwischen Herrschenden und Unterdrückten sowie die interne Dynamik innerhalb der herrschenden Klasse.

Die Aufrechterhaltung der politischen Macht hängt oft davon ab, wie die Bevölkerung denkt und sich verhält. Besonders deutlich wird dies bei den Bemühungen, eine neue Hegemonie zu etablieren, wie z. B. bei dem Versuch, die kemalistische Herrschaft abzubauen. Das Aufeinandertreffen zweier hegemonialer Narrative – des Kemalismus und der islamisch orientierten Vision der AKP – hat das Konzept einer »Neuen Türkei« hervorgebracht. Dieses beinhaltet die Infragestellung kemalistischer Werte, die Förderung alternativer kultureller und künstlerischer Produktionen und die Umgestaltung gesellschaftlicher Denkmuster. Es ist kein Zufall, dass sowohl Altun als auch Yılmaz als Kommunikationsexperten die Presse und die Kommunikation als Instrumente des Cultural Engineering geprägt haben.

Kulturelle Hegemonie und Spezialkriegsführung

Spezialkriegsführung ist von Natur aus ein gegenkulturelles Konzept, das aus der Kritik an den dominanten kulturellen Arten und Weisen hervorgeht. Im Kontext des antikurdischen Konflikts in der Türkei bezieht sich der Begriff der Spezialkriegsführung auf die kulturellen Praktiken des Staates, die darauf abzielen, seine Handlungen zu rechtfertigen und die öffentliche Unterstützung für seine Politik zu gewinnen. Dazu gehören auch Bemühungen, staatliche Gewalt und Kriminalität zu normalisieren und die Bevölkerung zur Komplizin der Operationen zu machen. Die Spezialkriegsführung stellt somit eine Form der praktischen kulturellen Hegemonie dar. Jede Hegemonie beinhaltet definitiv Gewalt und repressive Praktiken.

Das Konzept der Spezialkriegsführung gewann bereits an Bedeutung, als Persönlichkeiten wie Altun und Yılmaz noch ihre Jugend durchlebten, also noch lange bevor diese in den Mittelpunkt der Debatte um kulturelle Hegemonie rückten. Dies wirft die Frage auf: Wie überschneidet sich dieses frühere Konzept mit ihrer späteren Arbeit über kulturelle Hegemonie?

Historisch gesehen führt jede Entwicklung zu einer widersprüchlichen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Herrschenden und den Unterdrückten. In der Debatte über Spezialkriegsführung und kulturelle Hegemonie geht es im Wesentlichen darum, wie das Vokabular der Spezialkriegsführung geschaffen und legitimiert wird. Für das islamisch orientierte Projekt der AKP ist der Aufbau von Kompetenz in dieser Art von Kriegsführung eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines hegemonialen Narratives. Ohne dieses wäre es unmöglich, die herrschende Klasse unter einer gemeinsamen Vision von Souveränität zu vereinen.

Ein hegemoniales Narrativ eint die Herrschenden und stärkt gleichzeitig ihre Vorherrschaft über die Unterdrückten. In der Türkei geht es dabei um die Schaffung eines neuen nationalen Selbstbilds, das auf Militarismus, antiwestlichen Gefühlen und Ultranationalismus beruht. Traditionelle Nationalfeiertage und westlich inspirierte kulturelle Darbietungen wurden durch Veranstaltungen wie das TechnoFest⁶ ersetzt, bei dem Militärtechnologie gefeiert und eine neue Form des Nationalstolzes gefördert wird. Dieses neue Selbstbild wird sowohl durch Kommunikationsstrategien als auch die Dominanz in den neuen Medien und den Aufstieg der rechtsextremen Kultur verstärkt, wie man an globalen Beispielen wie dem Einfluss von Elon Musk in den USA sehen kann.

Ein neues nationales Selbstbild

Das neue nationale Selbstbild beruht auf einer Kombination aus Militarismus, antiwestlicher Rhetorik und einer Ablehnung des kemalistischen Säkularismus. Es ist gekennzeichnet durch die Verherrlichung staatlicher Gewalt, Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bewegung und die Ausweitung der staatlichen Verantwortung für kriminelle Handlungen auf die breite Bevölkerung. Dieser kulturelle Wandel wird durch eine Kommunikationsstrategie vorangetrieben, die den Staat als ultimative Autorität positioniert, wobei Figuren wie Altun und Yılmaz eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung dieses Narrativs spielen.

Das neue nationale Selbstbild beruht in diesem Sinne darauf, dass die Gewalt zu einer Praxis der Bevölkerung wird und zwar sowohl eine Denk- als auch Handlungspraxis. In jedem Sinne wird das neue nationale Selbstbild ein hegemoniales kulturelles Dispositiv⁷ organisieren. Es unterscheidet sich jedoch vom kemalistischen hegemonialen Diskurs in einem neo-islamistischen oder konservativen Sinne. Um ein Beispiel zu nennen: Die neue Wahrnehmung der nationalen »Tugend« durch das TechnoFest ist die Tugend der Anwendung von Gewalt gegen ein neues Feindbild; der neuen Vorliebe für die nationale Ehre; der hegemonialen Gewalt gegen andere. Dies unterscheidet sich grundlegend vom kemalistischen Verständnis der nationalen Entwicklung, welches eine Bindung der nationalen Ehre an westliche Werte beinhaltet. In jedem Fall aber ist dieses Verständnis der nationalen Kultur als hegemoniale Kultur mit der Erzeugung von Feindschaft sowie dem Lob der Gewalt gegen andere verbunden.

Um es in anderen, kurzen Worten auszudrücken: Ein neues nationales Selbstbild stellt die Tugend der Gewalt in den Vordergrund und nicht den Diskurs über die nationale Entwicklung oder die Zugehörigkeit zur westlichen Gesellschaft. In diesem Sinne unterscheidet sich das neue nationale Selbstverständnis als kulturelle Hegemonie in seinen Kernwerten von den alten kemalistischen Werten. Die neue nationale Vorstellung, die die Beteiligung an der Gewalt hervorbringt, beinhaltet mit ihrer Erhöhung des TechnoFests und einem hegemonialen Gewaltdiskurs einen Ansatz zur Spezialkriegsführung.

Die von Altun geleitete Behörde für Kommunikation und die Abteilung für Spionageabwehr, der Yılmaz angehörte, waren maßgeblich an der Organisation dieser neuen kulturellen Hegemonie beteiligt. Ihre Arbeit spiegelt einen breiteren Trend zur Militarisierung und Konsolidierung der staatlichen Macht wider, wobei die künstlerische Produktion als Instrument zur Aufrechterhaltung der Kontrolle dient.

Schlussfolgerung

Im Kontext der kulturellen Hegemonie repräsentieren Figuren wie Fahrettin Altun und Nuh Yılmaz einen neuen Typus von Kommunikationsingenieuren, deren Aufgabe es ist, ein hegemoniales Narrativ zu konstruieren, welches in der Spezialkriegsführung verwurzelt ist. Ihre Arbeit symbolisiert die Auflösung alter Narrative und den Vorstoß in Richtung einer neuen Nationalisierung, die durch Militarismus, Anti-Westlichkeit und Ultranationalismus gekennzeichnet ist. Als Kommunikationsstrategie organisiert die kulturelle Hegemonie die Einheit der Herrschenden und stärkt gleichzeitig ihre Vorherrschaft über die Unterdrückten. Ihre militärisch-informative und staatszentrierte Ausrichtung spiegelt die Hintergründe ihrer Architekten wider, die eine neue Form der kulturellen Hegemonie geformt haben, welche tief mit der Logik der Spezialkriegsführung verwoben ist.

 

¹ SETA: Eine der AKP nahestehende politische Stiftung in der Türkei.

² Dies entspricht umgerechnet etwa 60 Millionen Euro (entsprechend dem durchschnittlichen Wechselkurs von 2019)

³ Dies entspricht etwa 7,4 Millionen Euro

⁴ Hande Firat ist eine türkische Journalistin und Fernsehmoderatorin. Sie ist eine bekannte Persönlichkeit in den Mainstream-Medien in der Türkei und eine langjährige Mitarbeiterin von CNN Türk. Es ist bekannt, dass Hande Fırat in der Zeit, als Nuh Yılmaz Presseberater der MİT war, organische Verbindungen zum Geheimdienst aufbaute. Fırat, die auch heute noch als Geheimdienstjournalistin gilt, soll dem MİT sowohl bei dem Aufbauen von Netzwerken in der Pressegemeinschaft als auch als auch bei der Ausrichtung dieser entsprechend der Agenda des MİT gedient haben.

⁵ Am 5. Juli 2018 schrieb Fahrettin Altun auf X (ehem. Twitter): »Eure politische Hegemonie ist vorbei, eure kulturelle Hegemonie wird ebenfalls enden…«

⁶ Technofest, kurz für Tecknofest Aerospace and Technology Festival, ist das größte Luft-, Raumfahrt- und Technologiefestival der Welt, das in der Türkei stattfindet. Es wurde erstmals im September 2018 von der Turkish Technology Team Foundation (T3) in Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen, Ministerien und akademischen Einrichtungen am Flughafen Istanbul veranstaltet.

⁷ Unter Dispositiv wird in den Sozialwissenschaften im Anschluss an Michel Foucault eine Vielzahl von Vorkehrungen verstanden, die es erlauben, eine strategische Operation, vor allem zum Zwecke der Ausübung von Macht, durchzuführen. Dabei handelt es sich unter anderem, aber nicht ausschließlich, um Motive, die sich in bestimmten Diskursen und gesellschaftlich für die Wahrheitsproduktion relevanten Institutionen manifestieren.