Überwindung der Belagerung
- Juli 2, 2023
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Die Region Şehba jenseits der Flüchtlingscamps Überwindung der Belagerung Leseempfehlung von Gisela Rhein / Kurdistan Report
Die Region Şehba jenseits der Flüchtlingscamps Überwindung der Belagerung Leseempfehlung von Gisela Rhein / Kurdistan Report
Im Mai 2023 erschien eine neue Publikation des Rojava Information Centers1: Overcoming The Siege: Sheba Region Beyond The Refugee Camps. Qamislo 2023: 45 Seiten auf Englisch, mit Karten und zahlreichen Fotos. Eine Deutsche Übersetzung ist in Planung.
»Es ist einer der besten Berichte. Er zeigt die Widerstandskraft der Bevölkerung, ihre notwendige Kreativität und die menschenverachtende Unverschämtheit, die Bewohner diese Region in solch eine Lage zu bringen.« Das sind die Worte einer Freundin, die mich auf diesen Bericht aufmerksam machen wollte.
Die Region Şehba wird mit Flüchtlingscamps, der Blockade durch die syrische Regierung, der militärischen Bedrohung durch die Türkei und schwierigsten Lebensbedingungen in Verbindung gebracht. Täglich lesen wir vom Beschuss der Dörfer. Diese Region steht stellvertretend für den fehlenden Frieden in Syrien, für die menschenfeindlichen Kräfte, die in einem Krieg dominieren.
Aber es gibt auch die andere Seite: Menschen, die in der vom Krieg zerstörten Region geblieben oder in ihre Heimat zurückgekehrt sind, die vielen Tausend geflüchteten Einwohner Efrîns, die dort Schutz gefunden haben und auf die Möglichkeit zur Rückkehr hoffen.
»Wir sind wegen Efrîn hiergeblieben. Ich habe eine Tochter und zwei Söhne. Wir sind hier nicht weggegangen trotz der Bombardierung und des Beschusses. Wir wurden aus Efrîn gewaltsam vertrieben und haben in Tel Rifat Zuflucht gefunden. Und wir werden Tel Rifat auf keinen Fall verlassen, wenn wir nicht nach Efrîn kommen. Wir haben uns auf diese Weise versprochen, dass wir nicht mehr fliehen werden. Was auch immer geschieht, wird geschehen. Welcher Feind auch immer über uns herfällt, wir sind vorbereitet.« – (Reshid Shekho Muhamed, Binnenflüchtling aus Efrîn, lebt zurzeit in Tel Rifat.)
Wie gelingt es den Menschen, dort nicht den Mut zu verlieren und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, ohne sich Illusionen über ihre schwierige Lage zu machen?
Darüber informiert dieser genau und ausführlich recherchierte Bericht des Rojava Information Centers. Viele Fotos und Zitate machen den Text lebendig und er liefert uns Informationen über die Geografie, Demografie, die militärischen und politischen Entwicklungen seit Februar 2016 und die Lage in den fünf Flüchtlingscamps.
In einem ausführlichen Kapitel mit dem Titel Life Despite The War And The Embargo (Leben trotz Krieg und Embargo) wird auf die Bedrohungen und großen Schwierigkeiten ausführlich eingegangen, aber auch auf die vielen großen und kleinen Bemühungen, den Alltag zu organisieren und eine Perspektive aufzubauen. Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung – überall sind Kreativität, Organisationsfähigkeit und Improvisationstalent gefragt und zu finden. Ein Beispiel hat mich besonders beeindruckt: Ein Bildungssystem für die vielen in der Region lebenden Kinder und Jugendlichen wurde aufgebaut. Von der Grundschule bis zur Universität reicht das Angebot. Aber durch das Embargo kommen keine Bücher in der Region an und die wenigen Drucker für das noch vorhandene Material sind nicht mehr funktionsfähig. Ersatzteile oder neue Drucker fallen dem Embargo zum Opfer, auch Papier steht nicht mehr zur Verfügung. Also wird ausschließlich mit elektronisch abrufbarem Material gearbeitet.
Die multiethnisch zusammengesetzte Bevölkerung in diesem kleinen Landstrich organisiert sich in allen Bereichen entsprechend den politischen und gesellschaftlichen Strukturen der AANES (Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien), denn die Region ist eine Verwaltungseinheit der AANES. Hier liegt sicher auch der Grund dafür, warum wir nur selten in unseren Medien über die Region Şehba hören. Über die humanitäre Lage in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten oder in Idlib wird berichtet. NGOs nehmen Stellung dazu, aber über die Situation und die Aufbauleistung in allen Gebieten der Selbstverwaltung finden wir in den deutschen Medien wenig bis nichts.
Genau deshalb ist es so wichtig, solche Berichte genau zu lesen und sie weiterzuverbreiten. Wir müssen die angesichts des Krieges in der Ukraine fast ganz versiegte Aufmerksamkeit wieder auf diese Region lenken!
1 Das Rojava Information Center (RIC) ist eine unabhängige Medienorganisation mit Sitz in Nord- und Ostsyrien. https://rojavainformationcenter.com/
Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023