Abdullah Öcalan über die Bedingungen der Isolationshaft auf der Gefängnisinsel İmralı und über seinen Widerstand dagegen
In einem Brief an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschreibt Abdullah Öcalan die Bedingungen seiner Einzelhaft auf der Insel İmralı, wo er seit 1999 festgehalten wird. Er beschreibt die extreme Isolation, seine Erfahrungen und Widerstandsmethoden, die eingeschränkte Kommunikation und die psychischen Herausforderungen, mit denen er während seiner Haft konfrontiert ist.
Dieser Abdruck ist eine gekürzte Fassung des Originals: https://internationalistcommune.com/uber-mein-gefangnisleben-auf-der-insel-imrali/
In all meinen bisherigen Vorträgen und Verteidigungserklärungen habe ich es vermieden über mein Privatleben zu sprechen. Abgesehen von allgemeinen Gesprächen über Gesundheitsfragen und Beziehungen zur Gefängnisverwaltung habe ich weder darüber gesprochen, wie ich mich der Isolation widersetzt habe, die das System speziell für mich und ausschließlich für mich geschaffen hat, noch darüber, wie ich das Alleinsein ertrage. Ich stelle mir vor, dass die Praktiken in meinem Leben, die ich gegen diese absolute Einsamkeit und Inaktivität entwickelt habe, die größte Neugier erregen werden.
Als ich noch ein kleiner Junge war, beobachtete ein Ältester in unserem Dorf, der für seine Weisheit bekannt war, mein Verhalten und meine Aktivitäten und sagte zu mir – ich erinnere mich noch lebhaft daran: »Lo li cihê xwe rûne, ma di te da cîwa heye?«, was übersetzt bedeutet: »Sitz still! Hast du Quecksilber in deinen Adern?« Ich war so energiegeladen, wie Quecksilber flüssig ist. Die Götter der alten Mythen hätten sich wahrscheinlich nie eine schlimmere Strafe für mich vorstellen können, als mich an die Felsen von İmralı zu fesseln.
Zwölf Jahre Einzelhaft
Dennoch habe ich mittlerweile zwölf Jahre in Einzelhaft auf dieser Insel verbracht. İmralı ist als die Insel berüchtigt, auf der im Laufe der Geschichte hochrangige Staatsbeamte ihre Strafen verbüßen mussten. Das Klima ist sowohl extrem feucht als auch rau. Es führt dazu, dass sich die körperliche Konstitution verschlechtert. Hinzu kommt die Isolation in einem geschlossenen Raum, die zusätzlich körperlich schwächt. Außerdem wurde ich auf diese Insel gebracht, als ich schon älter wurde. Ich wurde lange Zeit unter der Aufsicht des Kommandos der Spezialkräfte festgehalten. Ich glaube, es ist etwa zwei Jahre her, seit das Justizministerium meine Aufsicht übernommen hat.
Ich hatte keine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Es standen mir nur ein Buch, eine Zeitung, eine Zeitschrift und ein Radio, das nur einen Sender empfing, gleichzeitig zur Verfügung. Mein gesamtes Kommunikationsuniversum bestand alle paar Monate aus halbstündigen Besuchen meines Bruders und den wöchentlichen Besuchen der Anwälte, obwohl diese aufgrund »ungünstiger Wetterbedingungen« häufig eingeschränkt wurden. Diese Kommunikationsmöglichkeiten waren sehr wichtig, aber sie reichten nicht aus, um mich auf Trab zu halten. Mein Verstand und mein Wille mussten dafür sorgen, dass ich auf den Beinen bleibe und nicht verfalle.
Während ich noch draußen war, hatte ich mich bereits isoliert und mich auf die Einsamkeit vorbereitet. Ich habe Experimente durchgeführt, um die Beziehungen zur Familie, nahen Verwandten und sogar zu engen Freunden und Kameraden, die alle eine erhebliche Abhängigkeit darstellen, abstrakt werden zu lassen.
Auch die Beziehungen zu Frauen waren von Bedeutung und gehörten zu denen, die ich abstrakt machte. Ich war das genaue Gegenteil von [dem verfolgten revolutionären Dichter] Nazim Hikmet[1]. Ich hatte geschworen, niemals Kinder zu bekommen. Aber diese Erfahrungen reichen nicht aus um meine Widerstandsfähigkeit auf İmralı zu erklären.
Bevor ich weiter schreibe, muss ich Folgendes zu erwähnen: Die Verschwörung gegen mich während des İmralı-Prozesses ließ keinen Funken Hoffnung zurück. Der langwierige Prozess und die psychologische Kriegsführung im Zusammenhang mit dem Todesurteil hatten das gleiche Ziel. In den ersten Tagen konnte selbst ich mir nicht vorstellen, wie ich das aushalten würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich auch nur ein Jahr so überstehen könnte, geschweige denn mehrere. Ich hatte diesen Gedanken, der mich mit Bedauern erfüllte: »Wie kann man Tausende von Menschen in einem winzigen Raum unterbringen?«
Als Repräsentant des kurdischen Volkes hatte ich mich tatsächlich zur Synthese von Millionen gemacht – oder wurde dazu gemacht und wurde auch so von der Bevölkerung wahrgenommen. Wenn es für die meisten Menschen unmöglich ist, die Trennung von ihren Familien oder Kindern ohne Hoffnung auf eine Wiedervereinigung zu ertragen, wie sollte ich dann eine solche Trennung vom Willen von Millionen bis zum Tod vereinter Menschen ertragen ohne die Möglichkeit der Wiedervereinigung?
Briefe des Volkes wurden mir nicht gegeben, nicht einmal solche, die nur aus wenigen Zeilen bestanden. Bis heute habe ich, bis auf wenige Ausnahmen, die einer strengen Zensur unterliegen und stark redigiert sind, keine Briefe von Kameraden in Haft erhalten und überhaupt keine von außerhalb. Ich konnte auch keine Briefe verschicken.
Prinzipien vorangetrieben und zurückgelassen
All dies kann in gewissem Maße zum Verständnis der Bedingungen der Isolation beitragen. Aber es gab bestimmte Aspekte, die für meine Position einzigartig waren. Ich bin in der Lage, jemand zu sein, der die Entstehung vieler Prinzipien in Bezug auf die Kurd:innen vorangetrieben hat. All diese Entwicklungen wurden auf halbem Weg gestoppt. Sie waren abhängig von einem Leben in Freiheit. Ich hatte unsere Leute dazu gebracht, in allen sozialen Bereichen erfolgreich zu sein, aber ich war nicht in der Lage, sie in vertrauenswürdigen Händen oder unter sicheren Bedingungen zurückzulassen.
Stell dir einen Liebhaber vor: Er hat den ersten Schritt zu seiner Liebe gemacht, aber gerade als sich ihre Hände berühren wollten, blieben sie in Ungewissheit. Das waren meine Freiheitssprünge in sozialen Bereichen, die ebenfalls in Unsicherheit blieben. Der Prozess der Inhaftierung im gesellschaftlichen Sinne hatte genau in diesem Moment begonnen. Die äußeren Umstände, der Staat, die Verwaltung und das Gefängnis selbst hätten für Könige geeignet sein können aber es würde immer noch nicht erklären, wie es möglich sein könnte, die für mich geschaffene Isolation zu ertragen. Die grundlegenden Faktoren sollten nicht in den Bedingungen oder der Vorgehensweise des Staates gesucht werden.
Ausschlaggebend war, dass ich mich von den Bedingungen der Isolation überzeugt hatte. Welche großartigen Gründe bräuchte ich, um die Isolation zu ertragen und zu beweisen, dass in Isolation ein großartiges Leben möglich ist!
Der Einzelne und die Gesellschaft
Auf dieser Grundlage möchte ich zunächst zwei konzeptionelle Entwicklungen erwähnen. Die erste befasste sich mit dem gesellschaftlichen Status der Kurd:innen. Um dem Wunsch nach einem eigenen, freien Leben zu erfüllen, muss die Gesellschaft, mit der ich verbunden bin, frei sein. Oder genauer gesagt: Die Befreiung des Einzelnen wäre ohne die Gesellschaft nicht möglich. Im soziologischen Sinne korreliert die Freiheit des Einzelnen in vollem Umfang mit dem Freiheitsgrad der Gesellschaft. Als ich diese Hypothese auf das kurdische Volk anwendete, kam ich zu dem Schluss, dass sich das Leben der Kurd:innen nicht von einem pechschwarzen Kerker ohne Mauern unterschied. Ich stelle diese Wahrnehmung nicht als literarisches Mittel dar. Das ist die absolute Wahrheit der erlebten Realität.
Zweitens ist zum vollständigen Verständnis dieses Konzepts die Einhaltung eines ethischen Prinzips erforderlich. Man muss sich der Tatsache bewusst werden, dass es möglich ist, ein Leben in absoluter Abhängigkeit von einer Gemeinschaft zu führen. Eine der wichtigsten Überzeugungen, die die Moderne hervorgebracht hat, ist die Überzeugung des Einzelnen, dass er oder sie ohne Abhängigkeit von der Gemeinschaft überleben kann. Diese Überzeugung unterliegt einem falschen Narrativ. Tatsächlich gibt es kein solches Leben, aber die Akzeptanz einer künstlich geschaffenen virtuellen Realität wird aufgezwungen.
Jede Aberkennung dieses Grundsatzes drückt eine Auflösung der Ethik aus. Hier sind Wahrheit und Ethik miteinander verflochten. Liberaler Individualismus ist nur durch die Auflösung einer ethischen Gesellschaft und die Trennung ihrer Bindungen von der Wahrnehmung der Wahrheit möglich. Dass es als der vorherrschende Lebensstil unserer Zeit dargestellt wird, beweist nicht, dass es richtig ist. [v]
Flucht vor dem Kurdentum
Es gibt eine Dualität in meinem Leben, die gut verstanden werden muss. Dies ist die Flucht aus dem Kurdentum und die Rückkehr zum Kurdentum. Der kulturelle Völkermord hat dafür gesorgt, dass die Bedingungen für eine Flucht jederzeit und unter allen Umständen gegeben sind.
Diese Flucht wird immer gefördert. Genau an diesem Punkt kommt das moralische Prinzip ins Spiel. Wie richtig oder gut ist es, um des Heils des Einzelnen willen aus der eigenen Gesellschaft zu fliehen?
Ich schaffte es bis in mein letztes Jahr an der Universität, was bedeutete, dass meine individuelle Rettung zu diesem Zeitpunkt garantiert war. Der Beginn meiner Rückkehr zum Kurdentum oder zumindest mein geschärfter Fokus darauf genau zu diesem Zeitpunkt war Ausdruck einer Rückkehr zu moralischen Prinzipien. Im sozialistischen Sinne musste diese Gemeinschaft nicht kurdisch sein, es hätte auch eine andere Gemeinschaft sein können. Aber um ein moralisches Individuum sein zu können, müsste man sich trotzdem auf die eine oder andere Weise mit einem gesellschaftlichen Phänomen verbinden. Mir wurde klar, dass ich kein unmoralischer Mensch sein konnte. Ich verwende den Begriff der Moral hier im Sinne einer Ethik, im Sinne einer ethischen Theorie. […]
Der bis heute bestehende absolute Sklavenstatus der Kurd:innen hat mich endgültig von dem Traum »ein freies Leben ist möglich« abgebracht. Ich kam zu der Überzeugung: »Ich habe keine Welt, in der ich frei leben kann.« Ich konnte hier das innere Gefängnis ausführlich mit einem äußeren vergleichen. Mir ist klar geworden, dass die Gefangenschaft im Außengefängnis[2] für den Einzelnen umso gefährlicher ist. Für eine:n Kurd:in ist es eine große Illusion, in dem Glauben zu leben, er oder sie sei draußen frei. Ein Leben, das von Wahnvorstellungen und Lügen dominiert wird, ist eines, das Verrat und Verlust erlitten hat.
Ein moralisches Leben
Die Schlussfolgerung, die ich daraus ziehe, ist, dass ein Leben draußen nur unter einer Bedingung möglich ist: dass man jede Minute des Tages damit verbringt, für die Existenz und Freiheit der Kurd:innen und der türkischen Arbeiter:innen unter den Bedingungen des Kapitalismus zu kämpfen. Ein Leben mit Moral und Würde ist für eine:n Kurd:in nur dann möglich, wenn er oder sie rund um die Uhr für Freiheit und Existenz kämpft.
Wenn ich mein Leben nach diesem Grundsatz beurteile, komme ich zu dem Schluss, dass ich ein ethisches Leben geführt habe. Es liegt in der Natur des Kämpfens, dass die Reaktion darauf Tod oder Gefangenschaft ist. Ein Leben ohne Kampf ist ein Leben voller Betrug und Demütigung, und als solches liegt es in der Natur der Handlung, Tod oder Gefängnis zu erdulden. Es würde dem Sinn meines Lebens zuwiderlaufen, die Haftbedingungen nicht ertragen zu können. Genauso wie keine Form des Kampfes um Existenz und Freiheit vermeidbar ist. Das gilt auch für das Gefängnis, denn auch dieses ist eine Voraussetzung für den Kampf um ein freies Leben.
Wenn es um Kurd:innen geht, und vorausgesetzt, man ist Sozialist:in und steht nicht unter den Befehlen des Kapitalismus, des Liberalismus oder eines verzerrten religiösen Fanatismus, gibt es nichts, wofür man leben kann, und keine Welt, in der man leben kann. Es bleibt nur der Kampf für ein moralisches und ethisches Leben. Als ich das Leben meiner Freunde im Gefängnis im Lichte dieses Konzepts betrachtete, erkannte ich, dass sie ernsthafte Missverständnisse hatten. Entweder überzeugten sie sich selbst oder sie waren davon überzeugt, dass ein Leben in Freiheit draußen geführt werden könne. Eine soziologische Analyse würde zeigen, dass die Rolle von Gefängnissen darin besteht, im Einzelnen eine falsche Sehnsucht nach Freiheit zu wecken. Unter den Bedingungen der Moderne werden Gefängnisse sehr sorgfältig für diesen Zweck gebaut. Wenn Menschen aus dem Gefängnis entlassen werden, akzeptieren sie möglicherweise ein Leben voller Lügen und Täuschungen. In diesem Fall ist jede von ihnen erwartete revolutionäre Aktion oder ein moralisches und würdiges Leben vergeblich, eine leere Hoffnung. Die Alternative ist die Fähigkeit, dank der Reife, die die Gefängniserfahrung mit sich bringt, ihren Kampf mit größerem Erfolg zu führen.
Gefängnisse sind so auch Orte, an denen Menschen lernen, wie sie moralische und freiwillige Pflichten gegenüber der Gesellschaft effektiv erfüllen können. Das Gleiche gilt für Freiheitskämpfer:innen, die in die Berge ziehen. Ein Freiheitsguerilla zu sein, bedeutet, seine moralischen und politischen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft auf höchstem Niveau zu erfüllen und dieses Bewusstsein und diese ethische Pflicht zu übernehmen. Es bedeutet, im Hinblick auf die Selbstverteidigung alles Notwendige für die Befreiung zu tun. Ein Freiheitsguerilla zu werden ist kein Weg, um persönlichen Einfluss oder Macht aufzubauen.
Das wäre nicht der Kampf um die Freiheit, sondern der Kampf um die Macht. Für solche Menschen hat es keinen moralischen oder gesellschaftlichen Wert, in die Berge zu gehen (oder sie zu verlassen). […] Was ich damit meine, ist Folgendes: Alle Orte haben die gleichen Eigenschaften für diejenigen, deren soziale Existenz sich in einem Zustand absoluter Versklavung befindet und für diejenigen, die Auflösung erlebt haben. Sinnlose Unterscheidungen wie »Innen ist schlecht, Außen ist gut« oder »Bewaffnet ist schlecht, unbewaffnet ist gut« ändern nichts an der grundlegenden Anstrengung und dem Ziel des Kampfes um Existenz und Freiheit.
Da das menschliche Leben nur dann einen Sinn hat, wenn es frei gelebt wird, ist der Ort, wo ein Leben ohne Freiheit geführt wird, ein dunkler Kerker. […]
Ein Schlachtfeld der Realität
Das einzige Mittel, um die Kraft zu bewahren, im Kerker durchzuhalten, besteht darin, eine Wahrnehmung der Realität zu entwickeln. Die starke Erfahrung der Wahrnehmung der Realität in Bezug auf das Leben im Allgemeinen ist das Erreichen der größten Freude am Leben oder sogar des Sinns des Lebens. Wenn die Menschen gut verstehen wofür sie leben, können sie problemlos überall leben. Das Leben verliert seinen Sinn, wenn es in einem ständigen Zustand der Irrtümer und Lügen verbracht wird, was den Weg für die Degeneration des Lebens selbst ebnet.
Unzufriedenheit, Unbehagen, Streit, Obszönitäten… Dies sind natürliche Folgen eines degenerierten Lebens. Das menschliche Leben ist ein absolutes Wunder für diejenigen, die eine fortgeschrittene Wahrnehmung der Realität haben. Das Leben ist eine Quelle der Aufregung und Begeisterung, es birgt die geheime Bedeutung des Universums. Wenn man dieses Geheimnis entdeckt, stellt das Leben, selbst im Kerker, kein Problem dar.
Wenn der Kerker der Freiheit dient, dann wird dort die eigene Wahrnehmung der Realität wachsen. Ein Leben, das auf diese Weise wächst, kann den größten Schmerz in Glück verwandeln.
Für mich ist das İmralı-Gefängnis zu einem wahren Schlachtfeld für die Realität geworden, wenn es um das Verständnis des Phänomens der Kurd:innen und die kurdische Frage sowie um die Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten geht. Draußen haben Diskurs und Handeln mehr Gültigkeit. Im Inneren herrscht die Bedeutung. Außerhalb wäre es für mich sehr schwierig gewesen, die Ideen zur politischen Philosophie, die ich in dieser Verteidigung zum Ausdruck gebracht habe, umfassender und konkreter weiterzuentwickeln.
Schon das Begreifen des Konzepts der Politik selbst erfordert große Anstrengungen, es erfordert eine starke Wahrnehmung der Realität. Man kann sagen, dass meine Auseinandersetzung mit der Tiefe meines Selbst, als positivistischer Dogmatiker, stark mit meiner Isolation zusammenhängt.
Unter den Bedingungen der Isolation habe ich besser verstanden, dass es unterschiedliche Konzeptualisierungen der Moderne und eine Vielzahl an Modellen für den Aufbau von Nationen gibt, sowie auch gesellschaftliche Strukturen von Menschen geschaffen, fiktiv und von Natur aus flexibel sind.
Für mich war es wichtig, den Nationalstaat zu überwinden. Dieses Konzept war für mich schon lange ein marxistisch-leninistisch-stalinistisches Prinzip, das den Charakter eines Dogmas hatte, das niemals geändert werden sollte. Als ich mich auf die Natur der Gesellschaft, die Zivilisation und die Moderne konzentrierte, wurde mir klar, dass das nationalstaatliche Prinzip nichts mit dem Sozialismus zu tun haben konnte und dass es lediglich ein Überbleibsel der Klassenzivilisation und des maximalen gesellschaftlichen Strebens nach Macht war, legitimiert durch den Kapitalismus. Daher zögerte ich nicht, es abzulehnen. […]
Wenn sich die Wahrnehmung der Realität als Ganzes entwickelt, sichert sie die Vorherrschaft der Bedeutung, die mit nichts Vorhergehendem verglichen werden kann. Und dies ganz gleich, welches Feld wir betrachten, sei es das soziale oder sogar das physische oder biologische. Unter Gefängnisbedingungen konnte ich täglich so viele Wahrheitsrevolutionen erleben, wie ich wollte. Es versteht sich von selbst, dass nichts anderes so viel Kraft zum Durchhalten liefert wie dieses.
Die Stärkung des Verständnisses von Wahrheit wirkte sich auch auf die Entwicklung praktischer Lösungen aus. […] Das Problem der Macht und des Staates wurde zum kompliziertesten gesellschaftlichen Problem seiner Geschichte. In der Zeit auf İmralı habe ich mich hauptsächlich auf die Konzepte von Macht und Staat konzentriert. […] Es war mir wichtig, dass ich mich vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen verstärkt mit den Konzepten der demokratischen Moderne, der demokratischen Nation und der demokratischen Autonomie in Bezug auf Macht und Staat auseinandersetzte. […]
Moral, Bewusstsein und Willenskraft haben nicht nachgelassen
Abgesehen von körperlichen Ursachen, die zu gesundheitlichen Problemen führen, gibt es für mich nichts Unerträgliches an meinem Leben in İmralı. Meine Moral, mein Bewusstsein und meine Willenskraft haben nicht nachgelassen, im Gegenteil, sie sind feiner ausgeprägt als zuvor, durch Ästhetik genährt und durch eine schöne Entwicklung bereichert. Während ich nach und nach Erklärungen gesellschaftlicher Wahrheiten durch Wissenschaft, Philosophie und Ästhetik entwickle, erweitern sich auch die Möglichkeiten für ein korrekteres, besseres und schöneres Leben. Ich würde lieber bis zu meinem letzten Atemzug allein in meiner Zelle bleiben, als mit Menschen zu leben, die von der kapitalistischen Moderne in die Irre geführt und vom Weg der Wahrheit abgebracht wurden.
Eine Frage in den Köpfen unserer Leute, die eine Verbindung zu meinem Leben in İmralı haben, bezieht sich darauf, wo und wie ich leben würde, wenn ich aus dem Gefängnis käme. Ich bin keiner, der zu Illusionen neigt. Es sollte allgemein bekannt sein, dass mein Lebensstil dem sogenannten revolutionären Realismus entspricht. Solche Fragen lassen sich besser beantworten, wenn ich nicht mein Leben nach einer möglichen Entlassung betrachte, sondern meine gesamte Lebensgeschichte von Kindheit an.
Meine ersten »Rebellionen« gegen die Autorität der Familie, als ich jünger als 10 Jahre war, liefern wichtige Hinweise in dieser Angelegenheit. Ich war schon damals ein einsamer Rebell. Ich habe in meiner Verteidigung an einigen Stellen versucht, meine Einwände gegen die ländlichen und städtischen Gemeinden zum Ausdruck zu bringen. Dort finden alle Interessierten gemeinsam die nötigen Fragen und Antworten. Kurz gesagt, für mich ist das Leben nur möglich, wenn es frei gelebt wird. Als Grundlage meiner jüngsten fünfbändigen Verteidigung habe ich versucht zu erklären, was ein freies Leben bedeutet.
Ein Leben, das nicht ethisch, gerecht und politisch ist, ist ein Leben, das aus der Sicht der Gemeinschaft nicht gelebt werden sollte.
Der richtige Lebensstil
Durch die Monopole ideologischer Unterdrückung und Ausbeutung gewährleisten Zivilisation im Allgemeinen und die kapitalistische Moderne im Besonderen die Akzeptanz eines falschen Lebens, das von allen Arten von Sklaverei, Demagogie und Individualismus durchdrungen und voller Lügen ist. So entstehen Entwicklungen, die als gesellschaftliche Probleme identifiziert werden. Alle, die sich für Revolutionär:innen halten, ob wir sie nun sozialistisch, freiheitsstrebend, demokratisch oder kommunistisch nennen, müssen sich gegen Zivilisationen wehren, die auf Unterdrückung und Ausbeutung basieren. Sei dies durch Unterdrückung durch die herrschende Klasse, die Stadt, die Macht oder durch die vorherrschenden Lebensstile der Neuzeit. Ohne diesen Widerstand kann ein gerechter, freier, demokratischer und gemeinschaftlicher Lebensstil nicht verwirklicht und daher nicht gelebt werden. Andernfalls wäre es ein Leben voller Lügen, Betrug, Fehlverhalten und Hässlichkeit. Dies wird als unrechtmäßiger Lebensstil ohne angemessene Grundlage bezeichnet.
Die großen Anstrengungen, die ich mein ganzes Leben lang unternommen habe, um diesen Lebensstil abzulehnen, der ein Problem war oder den ich zum Problem gemacht habe, sind durchaus verständlich. Wo es nicht verstanden wird, können weder mein Charakter noch ich selbst als Führung verstanden werden. Diejenigen, die sich meinem Charakter oder mir selbst als Führung anschließen und davon profitieren möchten, ohne sie zu verstehen, könnten enttäuscht werden. Ein richtiges Verständnis und Beteiligung sind keine individuellen, sondern gesellschaftliche Angelegenheiten. […]
Ob innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses, im Mutterleib oder zu jedem Zeitpunkt in Zeit und Raum: Nur gemeinsam kann das menschliche Leben frei, gleichberechtigt (mit Vielfalt) und demokratisch gelebt werden. Jeder darüber hinausgehende Lebensstil ist abweichend und daher ungesund. Diese Abweichung wird mit verschiedenen gesellschaftlichen Narrativen und Aktionen, einschließlich Revolutionen, bekämpft, um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen und gesund zu machen. Zu diesem Zweck werden eine ethische, ästhetische, philosophische und wissenschaftliche Denkweise und ein entsprechender Wille gebildet.
Ein Kampf für alle Völker der Welt
Wo und wann auch immer ich mich aufhalte, wenn sich die Möglichkeit einer Befreiung ergibt, ist es nur natürlich, dass ich bis zum Ende ständig mit dem Diskurs und dem Handlungsstil kämpfen werde, der für die Gemeinschaft notwendig ist, zu der ich gehöre: Für alle Kurd:innen; für das Ziel der demokratischen Nation als Weg zu einer Lösung ihrer tragischen Situation und zu ihrer Emanzipation; für die Union Demokratischer Nationen als Weg zu einer Lösung und Emanzipation für alle Völker des Nahen Ostens; und für die Union Demokratischer Nationen als Weg zu einer Lösung und Emanzipation für alle Völker der Welt.
Ich werde mit meinem Charakter der Wahrheit weitermachen, den ich in hohem Maße durch die dadurch erforderliche ethische, ästhetische, philosophische und wissenschaftliche Kraft gewonnen habe; ich werde das Leben gewinnen und es mit allen teilen.
21. Dezember 2010
Abdullah Öcalan
Verurteilter in Einzelhaft im F-Typ-Gefängnis İmralı
[1] Nazım Hikmet (1902 – 1963) ist ein international bekannter türkischer Dichter und Dramatiker. Wegen seiner politischen Haltung (Mitglied der verbotenen kommunistischen Partei in der Türkei – TKP) wurde er in der Türkei mit Publikationsverbot belegt und verbrachte viele Jahre im Gefängnis.
[2] Gemeint ist das Leben in der unterdrückten, unfreien Gesellschaft.