Tiroler Fasnacht
- April 28, 2023
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Suche nach Elementen der demokratischen Moderne Tiroler Fasnacht Andrea Hofa, aktiv in der Initiative Geschichte und Widerstand
Suche nach Elementen der demokratischen Moderne Tiroler Fasnacht Andrea Hofa, aktiv in der Initiative Geschichte und Widerstand
Der Muller
Der Tauwind durch die Lab’n streicht, der Marder durch das Gatter schleicht,
der Februar kimmt bald ins Land, vom Kasten hol’ i’s Muller’gwand.
Die Larvn braun vom Zirbenholz, i heb sie au’ voll Freid und Stolz,
der Hut mit Pfauenfedern drau, die schimmern goldig, grian und blau.
Der Goggel, der lauft heit um sein Lebn, der muaß mir seine Federn gebn,
und fehrten hab’ i an Fuchs derschlagn, heuer werd i’n auf’n Huat oben tragen.
Des Fransentuch aus reiner Seid, wia warn mi alle drum beneiden.
Und s’Gwand voll Zottlen vorn und hinten, wie Silber glänzt die Naglbindn.
Wie schaugt die Larvn will und schian, wenn mir nacher einitrestern tian.
»Der Muller«, Recheis Maria, Rum 1995
Heutzutage haben viele junge Menschen in Deutschland ihren Bezug zu Tradition und Brauchtum verloren. Es gilt als konservativ und zurückgeblieben, doch Abdullah Öcalan verbindet mit der Kultur eine widerständige Gesellschaft. Wir, die wir uns nach dem Paradigma der Freiheitsbewegung Kurdistans organisieren, suchen nach Bezügen zu unserer Kultur und deren Wurzeln. Dabei werden uns unser Verlust und die Stärke einer kulturellen Bewegung immer bewusster, weshalb wir uns verstärkt auf die Suche nach Elementen der demokratischen Moderne begeben. Anfang des Jahres hatten wir dabei die Möglichkeit, die Fasnacht in Tirol zum »Unsinnigen Donnerstag« im Dorf Thaur kennenzulernen. Der dortige Fasnachtsbrauch ist einer der ältesten Bräuche des Landes und gilt als besonders ursprünglich.
Bräuche wie der »Unsinnige Donnerstag« haben eine jahrtausendealte Tradition. Wir verstehen Kultur und Brauchtum als Form der Kommunikation in einer Gesellschaft selbst. Durch die Feste und Bräuche wird dem Leben, dem Zusammen-Leben und dem Jahreszyklus Bedeutung gegeben. Oft werden dabei die Elemente Tanz, Musik, Gesang und Theater verbunden. Die Art der Verbindung dieser Elemente ist oftmals Zeugnis einer vorchristlichen Kultur. Durch die tiefe Verankerung in einer Gesellschaft sind Kultur und Brauchtum für uns tragende Elemente der demokratischen Moderne.
Für Abdullah Öcalan bedeuteen Tradition und Kultur an sich Widerstand. Denn in der Kultur liegt der Ausdruck des Bewusstseins einer Gesellschaft über sich selbst. Mit der Vernichtung und/oder Assimilierung von Bräuchen, Traditionen und Sprachen vergisst eine Gesellschaft, wer sie ist, und es gehen schrittweise deren Werte verloren. Öcalan betont, wie dieser Prozess der Vernichtung insbesondere in den letzten 200 Jahren voller Gewalt vonstattenging und die Grundlage für die Entstehung der Nationalstaaten bildete. Wenn wir uns die Geschichte der Orte, wo wir herkommen, oder unserer Familien anschauen, finden wir zahlreiche Beispiele dafür, wie über nur zwei oder drei Generationen Traditionen und Bräuche, aber auch zahlreiche Dialekte und Sprachen verschwunden oder stark verblasst sind.
Wir haben verlernt, Kultur und Brauchtum die richtige Bedeutung zu geben. Viele stempeln das allzu schnell als konservativ und patriarchal ab. Brauchtümer und Kultur machen für uns den »demokratischen Fluss«, der sich durch die Geschichte zieht, greifbarer und stärken unser Verständnis der demokratischen Moderne.
Der »Unsinnige Donnerstag« in Thaur ist für uns ein konkretes Beispiel dafür. Die Dorfgemeinschaft kommt seit Jahrtausenden zusammen, um gemeinsam die fruchtbare Jahreszeit einzuleiten. Durch unsere Delegationsreise haben wir einen Einblick in die Dorfgemeinschaft bekommen und Fragen gestellt, die sich das Dorf vorher vielleicht nie gestellt hat. Vor allem aber das aktive Zusammenleben und auch die Liebe für die Gemeinschaft haben uns beeindruckt. Uns ist klar geworden, wie wichtig Brauchtum und Tradition auch für uns persönlich sind und was für eine daraus entstehende Kraft wir in Tirol erleben durften.
Die Zeit zwischen Weihnachten und dem Frühlingsanfang ist auch in Tirol eine ganz besondere Zeit. Es ist die Zeit, über die gesagt wird, dass in ihr die Winterdämonen präsent sind und in der »der Kampf« zwischen Winter und Frühling stattfindet. Zu dieser Zeit sind die Lebenden den Toten am nächsten. Damit ist diese Zeit für die Gesellschaft eine besondere Zeit des Gedenkens. Auch die Vorfreude auf die fruchtbarste Zeit im Jahreszyklus wird seit Jahrtausenden mit dem Brauch ausgedrückt und zeigt sich vor allem durch alte Weisheiten:
»Je heacher d’Roller beim Kroastanz springe,
um so tiafer der Schaller schallt,
um so heacher weard’s wachse auf’m Fald!«
Tiroler Oberland
(Je höher die Roller1 beim Kreistanz springen, umso tiefer die Schellen schallen, umso höher wird es wachsen auf dem Felde!)
In diesem Jahresabschnitt wird mindestens seit dem 12. Jahrhundert in vielen Dörfern in Tirol die Fasnacht gefeiert. Trotz vieler Verbote staatlicherseits und der versuchten Integration in die Kirche konnte der Brauch insbesondere in Thaur noch so erhalten bleiben, wie er in den jahrhundertealten ersten schriftlichen Aufzeichnungen beschrieben wurde.
Am 15. Januar, dem Fest des Dorfpatrons, des heiligen Romedius, werden die Weihnachtskrippen verräumt und im gleichen Atemzug die verschiedenen Mullerfiguren wiederhergerichtet. Muller – so werden die Jungen und Männer genannt, die in die Fasnachtfiguren schlüpfen – sind die zentralen Rollen in dem Brauch.
Die Vorbereitungen auf die Fasnacht beginnen dennoch schon viel früher. Über Monate hinweg werden die Figuren genäht, Masken geschnitzt, Rollen verteilt und Tänze geprobt. Mit Ausnahme des 2. Februar, des Festes Maria Lichtmess, wird in Thaur fast kein Tag der Fasnacht zu finden sein, an dem man keinen Muller sieht oder hört. Das Ende der Fasnacht ist in Thaur der »Unsinnige Donnerstag«, an dem das letzte Mal gemullt, also der Tanz getanzt und anschließend die Fasnacht mit einem Begräbnis beerdigt wird. Die darauffolgenden Tage stehen im Zeichen des Gebetes und des Fastens.
In den MARTHA-Dörfern (Mühlau, Arzl, Rum, Thaur, Absam) in Tirol bei Innsbruck liegt der Ursprung der Mullerer bzw. Matschgerer, die durch verschiedene Figuren symbolisch die Winterdämonen vertreiben und dabei den Kampf zwischen Winter und Frühling inszenieren.
Zur Ausübung des Brauchs gehörte ursprünglich der Besuch verschiedener Häuser des Dorfes. Heute findet der Tanz in Gasthäusern oder Vereinen oder ein Umzug durch die Dorfmitte statt. Die ganze Dorfgemeinschaft versammelt sich zu diesem Umzug. Das Besondere am »Unsinnigen Donnerstag« ist das Begräbnis am Ende, wenn sich vor allem über die Kirche lustig gemacht sowie den Fasnachtsfiguren nachgetrauert wird.
Wichtig ist zu erwähnen, dass an dem Umzug selbst nur Jungen und Männer teilnehmen dürfen, und dennoch sind die Frauen diejenigen, die die Masken und Figuren seit Monaten nähen, gestalten und reparieren und dadurch auch eine zentrale Rolle in der Fasnacht einnehmen.
Die verschiedenen Mullerfiguren repräsentieren während der Festzeit dabei die Jahreszeiten und sollen mit ihrem Auftreten den kalten, harten Winter austreiben sowie Platz für den Frühling schaffen. Die meisten Figuren allerdings sind nicht klar einer Jahreszeit zuzuordnen und so stehen vor allem die Figuren des Winters und Frühlings im Mittelpunkt. Jede Figur hat dabei eine bestimmte Form sich zu bewegen, verschiedene Eigenheiten und auch bestimmte Laute und folgt bestimmten Choreografien.
Den Auftakt der Muller-Gruppe machen die Hexen. Sie verkörpern den Winter, und sie trauern »ihrem« Winter nach. Spannend ist dabei, dass die Hexen nicht als das »Böse« dargestellt werden, sondern als Teil der Natur, die zusammen mit den anderen Figuren die Winterdämonen vertreiben. Die Hexen tragen ein Kopftuch, welches die Realität der alten bäuerlichen Gesellschaft widerspiegelt. Nachdem die Hexen Platz geschaffen haben, kommen die Bären zum Vorschein. Die Bärendarbietungen gehen auf die Zeiten der durchziehenden Schausteller zurück, welche dressierte Affen und Tanzbären mit sich führten. Und da die Legende besagt, dass der Dorfpatron Romedius auf einem Bären geritten sei, nachdem dieser sein Reitpferd gefressen habe, haben die Bären eine ganz besondere Relevanz für das Dorf. Eine weitere Interpretation der Bärengruppe ist, dass es sich bei dem Kampf des Bären mit dem Treiber um den Kampf zwischen den Jahreszeiten handelt. Nach dem Bären folgt der »Zottler«, der Vertreter des Winters. Nur die Figur des Zottlers darf eine ganz besondere Tanzfigur ausführen, die des »Frosches« nämlich. Dabei beugt sich die Figur des Zottlers akrobatisch nach hinten auf den Rücken und die Spiegeltuxer z.B. stellen sich auf den Bauch der liegenden Figur. Wenn ein Melcher oder sogar ein Spiegeltuxer auf den Ranzen des auf dem Boden liegenden Frosches steigt, so hat das Frühjahr eindeutig über den Winter gesiegt.
Den Mittelpunkt der Thaurer Fasnacht stellt der »Spiegeltuxer« dar. Er ist die beliebteste und schönste Figur der Fasnacht und repräsentiert zusammen mit den »Weißen«, »Hiatltuxern« und »Melchern« den Frühling. Sein über einen Meter hoher und ca. 14 kg schwerer Kopfschmuck ragt über alle anderen Fasnachtsfiguren hinaus und ist bedeckt mit kleinen rechteckigen Spiegeln, nur in Thaur sind die Spiegel meistens oval. Angesichts dieser Maskerade sollen sich die Winterdämonen erschrecken und fliehen. Jeder Muller in Thaur hat einen kleineren oder größeren Spiegel, der den Dämonen des Winters ihre Hässlichkeit und Grausamkeit zeigen und so dem Frühling Platz machen soll.
Während des Umzugs kommt es immer wieder dazu, dass Figuren einzelne Menschen abmullen. Das Abmullen ist vermutlich heidnischen Ursprungs, und die Muller geben den Zuschauer:innen dabei einen mehr oder weniger leichten Schlag auf ihre Schulter. Dieser Schlag soll den Abgemullten Fruchtbarkeit und Glück bringen. Um dies zu unterstützen, schenkt der Muller meist noch ein Schnapsl aus.
Dem Mullen der einzelnen Figuren folgt der Mullerfreitanz. Die Muller holen dann eine Frau oder ein Mädchen zum Freitanz, wobei eine ungeschriebene Regel besagt, dass man hier jene Frau zum Tanz holt, die den Muller kostümiert hat, womit dieser ihr für ihren Fleiß und Einsatz beim Gestalten des Mullers danken will. Spannend fanden wir, dass der Mann maskiert ist, während die Frau, die die Arbeit für die aufwändig gestalteten Masken geleistet hat, sich unkostümiert zeigt und ihr auf diese Art und Weise Respekt zukommt.
Wir haben während unserer Delegationsreise verschiedene Theorien und Mythen über die Fasnacht kennengelernt. Die Brüder Grimm sahen in diesen Mythen altheidnische Gottheiten der Julzeit, andere elbische Wesen, germanische Totengötter oder auch Vegetationsdämonen. Eines aber steht fest: Nur wer die Fasnacht als Gesamtkunstwerk einer dörflichen Kultur erlebt, kann erahnen, was die Fasnacht in der heutigen Form immer noch für die Gemeinschaft bedeutet. Angesichts der zunehmenden Fragmentierung aller Teile einer Gesellschaft sichert sie als Traditionsträgerin das kulturelle Gedächtnis und schafft durch das Brauchtum Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, der Heimat und der Welt sowie der Einzelnen mit der Gemeinschaft. Trotz der versuchten Integration in die Kirche konnte der Brauch erhalten bleiben und zeigt uns damit in gewisser Weise eine widerständige Kultur. Dabei konnten wir den Umzug als organisierte Form des Ausbruchs aus den gesellschaftlichen Normen des Alltäglichen betrachten. Und dennoch lassen sich in vielen Szenen, wie derjenigen der Hufschmiede, auch das dörflich-bäuerliche Leben wiederfinden. Besonders aufgefallen ist, dass auch sehr viele junge Menschen am Umzug teilnahmen. Das hat uns noch einmal verdeutlicht, dass die Kleinsten schon in die Rollen hineinwachsen, dass die Tradition nicht nur durch die Alten gepflegt und als »Ballast« weitervererbt wird, sondern dass sie wirklich auch als gesellschaftlicher Wert eine hohe Bedeutung im Dorf selbst innehat.
Als Reflexion sind für uns vor allem viele Fragen aufgekommen. Wir haben uns z.B. gefragt, wie eine konservative Gesellschaft von patriarchalen Einflüssen befreit und dabei nicht den Angriffen des Neoliberalismus ausgeliefert werden kann. Des Weiteren ist uns klarer geworden, dass wir auf der Basis von Gemeinschaft und Tradition einen Kampf entwickeln wollen, indem wir genau darin demokratische Werte finden und stärken. Durch die Fasnacht in Tirol sind wir unserem Verständnis der Bedeutung, die in einer widerständigen Kultur liegt, nähergekommen und erhoffen uns auch in Zukunft, noch mehr den demokratischen Fluss der Gesellschaft in Tradition und Brauchtum wiederzufinden und zu stärken.
»Ohnehin bedeuten Tradition und Kultur an sich Widerstand. Kulturen und Traditionen werden entweder vernichtet oder überleben, denn zu ihren Charakteristika gehört, dass sie nicht kapitulieren können. Ihr Wesen erfordert, dass sie bei der nächsten Gelegenheit noch heftiger Widerstand leisten. Diese Tatsache hatte der Nationalstaats-Faschismus nicht einkalkuliert. Sie zu unterdrücken, sogar sie zu assimilieren, bedeutet nicht ihr Ende. Der Widerstand von Kulturen erinnert an die Blumen, die ihre Existenz beweisen, indem sie Felsen durchbohren oder den über sie ausgegossenen Beton der Moderne durchbrechen und wieder ans Tageslicht treten.« (Abdullah Öcalan)
1 – Der Roller gehört zu den Figuren, die für den Frühling stehen.
Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023