Seit dem Ausbruch der revolutionären Bewegung im Iran gibt es einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel
Davor fürchtet sich das Regime
Elahe Sadr, politische Aktivistin
Seitdem der Iran von dem autoritären religösen Regime der Mullahs beherrscht wird, hat es immer wieder auch Proteste und Aufstände gegeben, die der Staat brutal bekämpft hat. Die jüngste Protestbewegung erweist sich als ausdauernd – ein Erfolg, der aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Ansatz resultiert.
Nachdem religiöse und rassistische Kräfte mit Unterstützung westlicher Kolonialregierungen 1979 die Revolution gegen die Tyrannei des Schah an sich gerissen hatten, nahmen die Mullahs den weiblichen Körper als Geisel und unterstrichen ihre totalitäre Ideologie mit der Parole »entweder Kopftuch oder Schläge auf den Kopf« und verhinderten einen möglichen anderen Verlauf der Revolution. Von Beginn an wurde nackte Gewalt gegen Frauen1 ausgeübt, und Frauenrechte wurden systematisch unter Einsatz von Gewalt ausgesetzt.
Keine 40 Tage nach dem Aufstand des 11. Februar2 griff das Regime Kurdistan an und beging den blutigen Nouruz von Sine (pers. Sanandaj)3.
Es folgte die kriminelle Hinrichtungswelle von Chalchali (ein schiitischer Geistlicher und der bekannteste Scharia Richter der islamischen Republik Iran)4, dann die Unterdrückung der Turkmen:innen, gefolgt von der Niederschlagung des Aufstands in Chuzestan; und als nächstes sollte das Regime die Proteste in den Provinzen Aserbaidschan und Belutschistan brutal unterdrücken. Weiter ging es mit der Zerschlagung der gewerkschaftlichen, politischen, kulturellen Bewegungen. In den 44 Jahren der Herrschaft der Islamischen Republik wurden den Menschen ihre Grundrechte entzogen, darunter das Recht auf freie Meinungsäußerung, Organisationsfreiheit sowie soziale und politische Freiheiten. Abertausende Menschen wurden wegen ihrer Forderungen und ihres Protests gegen die Armut durch das Regime getötet. Aufgrund von Diskriminierung und Gesetzlosigkeit wurden die Menschen unterdrückt, eingesperrt, gefoltert und hingerichtet. Trotzdem hatten viele Menschen immer noch Illusionen und hofften auf Reformen und Gesetzesänderungen im Rahmen des Systems der Islamischen Republik – bis zu den Protesten im Januar 2016 und November 2018, als die Menschen mit dem zentralen Slogan »Dies ist die letzte Botschaft, das Ziel ist das gesamte System«, nach 41 Jahren der Illusion über die Möglichkeit einer Regierungsreform in eine neue Phase eintraten.
Eine neue Qualität des Protests
Die staatliche Folter und Tötung von Jîna Amînî, einer 22-jährigen kurdischen Frau aus Seqiz (pers. Saqqez), durch die Sittenpolizei am 16. September 2022 in Teheran bedeutete einen Wendepunkt im Kampf der iranischen Frauenbewegung, der sich zu einem umfassenderen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit im gesamten Iran ausweitete.
Frauen sind der Motor der Protestwelle im Iran, die nach dem gewaltsamen Tod von Jîna Amînî das Land erfasste und die die Regierungstruppen zum Anlass für massive Menschenrechtsverletzungen nahm. Unter dem Motto »Jin, Jiyan, Azadî« beteiligten sich auch junge Männer an der Seite von Frauen an den Protesten. Den Männern wurde nach 44jähriger Privilegierung in einem frauenfeindlichen und autoritären System bewusst, dass Gewalt gegen Frauen Gewalt gegen die Gesellschaft als Ganzes bedeutet. Der Slogan ist das Erbe der kurdischen Frauenbewegung in Bakur (Nordkurdistan), dem auf türkischem Staatsgebiet liegenden Teil Kurdistans. Diese Bewegung und ihre Grundidee sind stark von der politischen Philosophie des Gründers und bedeutenden Vordenkers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, beeinflusst. PKK-Frauen (sowohl Guerillas als auch politisch-zivile Aktivistinnen) sind Frauen, die sich von der Untertanenmentalität befreit haben und »Jin, Jiyan, Azadî« nach und nach zur zentralen Parole ihrer Bewegung gemacht haben. Mit der Aufnahme des Kampfes gleichzeitig gegen den patriarchalen Nationalismus des türkischen Staats und die patriarchalen Strukturen innerhalb der Partei haben diese Frauen insbesondere seit 1995 mit ununterbrochenem Einsatz viel politische Erfahrung erlangt und eine große historische Errungenschaft geschaffen – eine Quelle befreiender Gedanken für sie selbst und alle kurdischen Frauen, für uns (iranische Frauen) und sogar die Frauen der weiteren Region und der ganzen Welt.
Ein Jahr ist seit der staatlichen Ermordung von Jîna Amînî vergangen, ein Jahr seit dem Auftakt der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung gegen die islamische Regierung – die ausdauerndsten Proteste seit der Revolution von 1979. Der Name von Jîna wurde zu einem Symbol für drei ineinandergreifende Formen der Unterdrückung: geschlechtliche, ethnische und religiöse Unterdrückung. Frauen sind aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen, Klasse und sexueller Orientierung besonderen Formen der Gewalt ausgesetzt. Der Druck auf sie durch Krieg, Wirtschafts-Sanktionen, weit verbreiteter Wirtschaftskorruption, Familie und soziale Ungleichheit ist viel höher als auf Männer.
Die Rolle der Frauen bei den aktuellen anti-Regime-Protesten ist wie schon bei den Revolten der letzten Jahre bunter geworden. Frauen übernahmen eindeutig die Führungsrolle bei Straßenprotesten und Versammlungen. In der »Jin, Jiyan, Azadî«-Bewegung sind Frauen das politische Bindeglied der äußeren Einheit und der inneren Solidarität aller Klassen und Schichten der Gesellschaft.
Der Albtraum der Regierung ...
Genau davor fürchtet sich das Regime und versucht die Proteste mit allen Mitteln zu verhindern. Doch die Gesellschaft ist nicht mehr dieselbe seit dem Ausbruch der revolutionären Bewegung, es gibt einen Mentalitätswandel. Der Slogan »Frau, Leben, Freiheit« schärft das Bewusstsein dafür, dass gesellschaftliche Befreiung ohne transnationale Solidarität gegen jegliche Form von Diskriminierung, ohne die Befreiung von Diktatur, Patriarchat, Homophobie, Rassismus, Ausbeutung, Kolonialismus und Umweltzerstörung nicht möglich ist. Und nur mit der Freiheit aller – Frauen, unterdrückte Ethnien, Arbeiter:innen und Queers –, nur mit Pluralität, Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit kann eine wirklich freie Gesellschaft aufgebaut werden.
… soll mit Repression beendet werden
Dieser Traum wurde für die islamische Regierung zum Albtraum. Die brutalen Angriffe der Islamischen Republik auf die Opposition haben zugenommen. Einheiten der Revolutionsgarden haben ganze kurdische Städte militarisiert. Anstelle der Polizei hat die Revolutionsgarde die Aufgabe der Stadtkontrolle und der Niederschlagung von Protesten übernommen. Die landesweiten Proteste hielten monatelang an. Das Regime reagierte mit Abertausenden willkürlichen Verhaftungen, Verurteilungen sowie Hinrichtungen unschuldiger Personen. Die »Sicherheitskräfte« gehen seitdem äußerst gewaltsam gegen die Menschen vor mit dem Ziel, eine abschreckende Wirkung zu erzeugen und die Proteste zu unterbinden.
Selbst ein Jahr nach der Ermordung Jîna Amînîs lassen sich die Menschen im Iran nicht einschüchtern. Die Straßen haben sich in einen Ort zivilen Ungehorsams insbesondere für Frauen verwandelt. Der Kampf um Demokratie und Menschenrechte geht trotz des gewaltsamen Vorgehens des Regimes unaufhaltsam weiter.
… insbesondere durch Repression gegen Frauen
Jede Art von Menschenrechtsarbeit im Iran ist schwieriger geworden. Viele Aktivist:innen sind entweder im Gefängnis oder haben das Land verlassen, viele Frauenrechtsaktivistinnen und Journalist:innen wurden willkürlich verhaftet.
Das iranische Regime plant nun ein repressiveres Hijab-Gesetz. So sollen Frauen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, dazu gezwungen werden. Das neue Gesetz sieht auch vor, vermehrt Videoüberwachungen sowie Bilder und Videos aus dem Internet zur Kontrolle zu nutzen. Auch die »Sittenpolizei« soll wieder sichtbarer zum Einsatz kommen.
Das Regime bestrafte Hunderte von Schülerinnen für die Teilnahme an Demonstrationen und verübte zahlreiche Giftgasangriffe auf Mädchenschulen im Iran. Bislang hat das Regime nicht für Aufklärung gesorgt. Über 6500 Mädchen wurden mit einem Gas vergiftet und litten unter Atemproblemen, Übelkeit, Schwindel und Müdigkeit. Viele halten dies für einen absichtlichen Versuch, Mädchenschulen zu schließen.
Trotz aller Erfolge, die im letzten Jahr in der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung zur Befreiung der Frau erzielt wurden, wurden allein von März bis Ende Mai 2023 im Iran mindestens 27 Frauen durch ihre männlichen Verwandten – Väter, Brüder und Ehemänner – getötet. Frauen, die sich nicht mehr in traditionelle Geschlechterrollen fügen wollen, werden immer wieder Opfer sogenannter Ehrenmorde.
Seit der Machtübernahme hat die Islamische Republik Frauenfeindlichkeit und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern systematisch in privaten, öffentlichen, politischen, sozialen Sphären institutionalisiert und festgeschrieben. Die heutige Gesetzeslage erlaubt es zudem beispielsweise, dass ein Vater, der sein Kind tötet, nur eine sehr geringfügige Strafe erhält. Auf diese Weise rechtfertigt die Islamische Republik offen den Mord an Frauen, ja ermutigt geradezu zu Morden. In der Kindererziehung wird die Verheiratung von Kindern legitimiert und gefördert.
Es ist richtig, dass die Frauen unterdrückt werden, weil sie Frauen sind. Aber wenn sie Perserinnen sind und in den zentralen Regionen des Iran leben, so unterscheidet sich der Grad ihrer Unterdrückung sehr von demjenigen gegen Kurdinnen, Belutschinnen oder Araberinnen, die in den benachteiligten Gebieten des Iran leben. So sind Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, stärkeren Repressionen ausgesetzt. Ebenso besteht für Homosexuelle und Queers ein höheres Risiko, nach islamischen Gesetzen getötet zu werden, sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch in der Familie.
Neue Verbindungen mit »Jin, Jiyan, Azadî«
Die »Jin, Jiyan, Azadî«-Bewegung demonstrierte für die Werte der jungen Generation und forderte traditionelle, religiöse, patriarchale, diskriminierende und autoritäre Normen heraus. Die herkömmlichen religiösen, ideologischen und autoritären Diskurse waren ihr fremd. Das waren vielleicht die Hauptgründe, warum nicht nur die Regierung, sondern auch ein wichtiger Teil der Opposition von der Entstehung dieser Bewegung überrascht und abgehängt wurde.
Die Islamische Republik hat im vergangenen Jahr nicht nur die Kämpfer:innen verhaftet und getötet, sondern auch über Moscheen, das Fernsehen und andere Medien im religiösen und konservativen Teil der Gesellschaft viel Propaganda gegen die »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung verbreitet. Dem Regime gelang es, die Bewegung brutal mit Repression, Gewalt und Propaganda weitgehend zum Schweigen zu bringen. Aber die aktuelle Situation im Iran zeigt uns, dass die Bewegung die Glut unter der Asche ist, die darauf wartet, sich jeden Moment neu zu entfachen.
Wir wissen aus historischer wie heutiger Erfahrung, dass der Westen kein Interesse an einer echten Demokratie im Mittleren Osten hat.
Nach der Ausweitung der »Jin, Jiyan, Azadî«-Bewegung in Kurdistan und dann im Iran erlebten wir eine Welle der Solidarität unter Frauen auf der ganzen Welt von Rojava bis Afghanistan, von der Türkei bis Lateinamerika und Europa, eine weltweite Einheit der Frauen. Eine der wichtigsten Errungenschaften der »Jin, Jiyan, Azadî«-Bewegung war zweifellos die Schaffung eines transnationalen Bündnisses von Frauen. Diese Bewegung hinterließ auch einen starken Einfluss auf die Kämpfe der Frauen im Mittleren Osten. Die Kämpfe kurdischer, persischer, belutschischer, arabischer und anderer Nationalitäten, die in den letzten Jahren zugenommen haben, haben ein neues Bild der Frauen im Mittleren Osten gezeichnet. Ein Bild davon, dass Frauen sich nicht nur in einer untergeordneten und unterdrückten Position befinden, sondern auch über die Fähigkeit und Kraft zu konsequentem Kampf und Widerstand verfügen, dass sie in der Lage sind, weitreichende und konstruktive Veränderungen in der Region herbeizuführen.
Die Verbindung der Frauenkämpfe für die Befreiung von Machtverhältnissen und systematischer Diskriminierung können das Band zwischen den Kämpfen für die Befreiung der Menschheit von den verschiedenen Formen von Unterdrückung, von Sklaverei und Rassismus schaffen; auch deshalb verkörpert die »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung einen historischen Wendepunkt im Kampf von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen für die Verwirklichung einer transnationalen, queer-feministischen Revolution.
1 Die Autorin fasst unter »Frau« alle unterdrückten Geschlechter zusammen.
2 Nach der Rückkehr Ruhollah Chomeinis aus dem Exil, seiner Inanspruchnahme der höchsten Position im Staat und Straßenkämpfen mit schahtreuen Truppen brach das Schahregime am 11. Februar 1979 vollständig zusammen. Die Revolutionsgarden hatten in Teheran neben den Ministerien auch andere Behörden, Kasernen und die Medien eingenommen.
3 Bei diesem Massaker an der Zivilbevölkerung ermordeten die islamischen Truppen über 500 Menschen.
4 Ayatollah Chomeini hatte am 19. August 1979 den »heiligen Krieg« gegen die Kurd:innen ausgerufen. Es wurden Revolutionsgarden in die kurdischen Gebiete geschickt, kurdische Organisationen verboten, Dörfer wurden zerstört, unzählige Zivilist:innen ermordet. In diesem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung wurden Hunderte von dem Mullah Chalchali auf offener Straße hingerichtet.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Der Krieg zwischen Israel und Hamas wird in Deutschland auch innenpolitisch geführt
Deutsche Staatsräson hebelt Grundrechte aus
Elmar Millich
Sicher ist der 7. Oktober eine Zäsur in der Entmenschlichung des Nah-Ost-Konflikts. Unbemerkt von dem israelischen Militär und ohne Vorwarnung durch Geheimdienste durchbrachen Mitglieder der palästinensischen Hamas die Absperrungen zwischen dem Gazastreifen und Israel und richteten innerhalb von nur 24 Stunden ein Massaker unter israelischen Zivilist:innen an. Nach Schätzungen kamen zwischen 1200 und 1400 Israelis ums Leben. Ca. 250 Geiseln wurden in den Gazastreifen verschleppt. Zahlreiche Opfer waren unter den Besucher:innen des Musikfestivals »Tribe of Nova«, welches im Süden Israels stattfand. Die israelische Armee reagierte mit massiven Bombardierungen des Gazastreifens und einer Bodenoffensive, die bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch anhält. Bislang werden auf palästinensischer Seite 14.000 tote Zivilpersonen gemeldet und die humanitäre Versorgungslage im Süden des Gazastreifens, in den auf Aufforderung der israelischen Armee viele Palästinenser:innen flohen, ist nach Aussagen internationaler Hilfsorganisationen katastrophal.
Seit dem 7. Oktober bestimmt der Nah-Ost-Konflikt auch die deutsche Politik. Die Bundesregierung verkündete ihre »bedingungslose Solidarität mit Israel«, Antisemitismusdiskussionen beherrschen Nachrichten und Talkshows. Im Zuge der Auseinandersetzungen im Gazastreifen kam es aber auch zu massiven Einschränkungen der Demonstrations- und Meinungsfreiheit und zu Vereinsverboten. Die Forderung nach weiteren gesetzlichen Verschärfungen und Einschränkungen beherrschen die Diskussion. Der Fokus dieses Artikels zielt darauf zu zeigen, dass diese Entwicklungen nicht neu sind, sondern bekannten Mustern folgen, wie schon die Reaktionen auf den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 oder auch der repressive Umgang mit der kurdischen Befreiungsbewegung beweisen. Diese Muster prägen Deutschland schon seit Ende der 1980er Jahre. Die außenpolitische – und zumeist von einem größeren Teil der Öffentlichkeit geteilte – Sichtweise der Bundesregierung wird universalisiert und abweichende Meinungen werden Ziel von Unterdrückung und Strafverfolgung. Rückgrat dieser Einschränkungen von Grundrechten bilden zumeist die bewusst überdehnte Auslegung des § 140 StGB (Billigung einer Straftat), § 130 StGB (Volksverhetzung), das Vereinsgesetz und eine restriktive Auslegung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit.
Ein Blick zurück zu den Geschehnissen, die die aktuelle Diskussion prägen, zeigt deutlich, dass noch am Tag des Massakers vom 7. Oktober sich im Berliner Stadtteil Neukölln z. T. spontan, z. T. organisiert Anwohner:innen palästinensischen und arabischen Ursprungs auf der Straße versammelten und offensichtlich die Angriffe der Hamas feierten, indem sie nach arabischem Brauch Süßigkeiten an Umstehende verteilten. Aufgerufen hatte auch die mit der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP, Volksfront zur Befreiung Palästinas) verbundene Gefangenenhilfsorganisation Samidoun (Palestinian Prisoner Solidarity Network), die mittlerweile vom Bundesinnenministerium verboten worden ist. Auch in den darauffolgenden Tagen kam es zu Auseinandersetzungen zwischen zumeist propalästinensischen Jugendlichen, die Pyrotechnik zündeten und »Free Palestine« skandierten, und der Polizei, die teilweise Jagd auf alles machte, was ein Palästinatuch trug, wegen angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht. Angemeldete propalästinensische Demonstrationen waren bis Ende Oktober in Berlin konsequent verboten. Diese Stimmung wurde noch durch einen Raketeneinschlag am 18. Oktober beim Al-Ahli-Krankenhaus im Gaza angeheizt, für den sich Israel und die Hamas gegenseitig verantwortlich machten und bei dem fast 500 Opfer zu beklagen waren.
Demonstrationsverbote in vielen deutschen Städten
Am Anfang mögen die Demonstrationsverbote in Berlin und in anderen deutschen Städten aufgrund der angeheizten Stimmung und der verständlichen Ängste der in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung noch nachvollziehbar gewesen sein. Denn in der Nacht zum 18. Oktober gab es einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Mitte und schon die Tage zuvor kam es in verschiedenen Stadtteilen zu Davidstern-Schmierereien.
Doch schon vor den Attacken der Hamas vom 7. Oktober ist Berlin seit etwa zwei Jahren demonstrationsfreie Zone für palästinensische Anliegen. Vor allem rund um den von den Palästinenser:innen als »Nakba« bezeichneten Erinnerungstag an die Vertreibungen von 1948, den 15. Mai, wurden in den letzten Jahren sämtliche Veranstaltungen mit pauschalen Befürchtungen vor antisemitischen Äußerungen untersagt. So wurde auch eine von der »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost« angemeldete Ersatzveranstaltung am 20. Juni dieses Jahres von der Polizei aufgelöst, nachdem propalästinensische Parolen gerufen worden waren. In einer Erklärung vom 12. September dieses Jahres verurteilte Amnesty international diese Verbote als Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Diese größte Menschenrechtsbewegung nannte die Verbotsbegründungen auch insofern menschenrechtlich bedenklich, »als sie sich auf stigmatisierende und diskriminierende Stereotype über Menschen aus der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund (…) [und] weitere muslimisch geprägte Personenkreise (…) aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora stützt«1.
An solchen Stereotypen herrschte in den letzten Wochen wahrlich kein Mangel. Wie schon in den vorhergehenden Konflikten zwischen Israel und der Hamas kehren sich die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung aufgrund der asymmetrischen Kriegsführung schnell um. Viele in Berlin lebende Palästinenser:innen haben Angehörige und Freund:innen im Gaza-Streifen und sind angesichts der täglich erscheinenden Bilder über das Ausmaß der Bombardierungen durch die israelische Armee natürlich in Sorge und verzweifelt. Aber auch eindeutig zu diesem Themenkomplex angemeldete Demonstrationen wurden in den ersten Wochen mit der unterstellenden Begründung verboten, der Anmeldungszweck sei »vorgeschoben». Allein bis zum 26. Oktober wurden laut Angaben der Polizei 17 propalästinensische Demonstrationen untersagt. Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) ging sogar so weit, in einem Rundschreiben an die Schulleitungen zu empfehlen, gegebenenfalls den Schüler:innen auch das Tragen von Palästinensertüchern zu untersagen. Explizit gehe es auch um das Verbot von »Symbole[n], Gesten und Meinungsäußerungen, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen«2.
Auch in anderen deutschen Großstädten sah die Situation nicht viel anders aus. In Hamburg waren seit dem 16. Oktober sämtliche propalästinensischen Demonstrationen per Allgemeinverfügung untersagt. Das zuerst drei Tage dauernde Verbot wurde bislang insgesamt neunmal verlängert. Auch das Hamburger Verwaltungsgericht trägt diese Linie mit. Die Klage gegen ein verhängtes Verbot für eine unter dem Motto »Stoppt den Krieg auf Gaza und Menschenrechte unterstützen« angemeldete Demonstration wurde von dem Gericht mit der Begründung abgewiesen, dass der Titel aus Sicht des Gerichts auf eine »einseitig pro-palästinensische Ausrichtung« hinweise, weshalb das Verbot zu billigen sei. Eine zweite direkt gegen die Allgemeinverfügung gerichtete Klage wurde ebenfalls abgewiesen unter Hinweis auf die auch weiterhin in Hamburg in besonderer Weise aufgeladene Stimmung. Die Kläger:innen verzichteten leider auf weitere Rechtsmittel. Beide Gerichtsbegründungen sind mehr als bedenklich, denn das Versammlungsrecht verlangt für Demonstrationen keine Ausgewogenheit, und mit dem Hinweis auf eine aufgeheizte Stimmung lassen sich beliebig Demonstrationsthemen verbieten, die von der Mehrheitsmeinung abweichen und ein emotionalisierendes Potential besitzen.
Als dann am 28. Oktober in Berlin 15.000 Personen auf einer propalästinensischen Demonstration durch Kreuzberg zogen, blieb es entgegen Medien- und polizeilichen Prognosen weitgehend friedlich. Dennoch wetteiferten im Folgenden die Versammlungsbehörden darum, durch möglichst viele Auflagen antisemitische und israelfeindliche Parolen zu unterbinden. Problematisch ist hier die Gleichsetzung von antisemitischen und »israelfeindlichen« Parolen einzuschätzen. Selbstverständlich sind antisemitische Parolen wie »Tod den Juden« eindeutig Volksverhetzung und entsprechend strafrechtlich zu ahnden. In vielen Medien und auch polizeilichen Beiträgen wurde aber der Eindruck erweckt, als seien auch »israelfeindliche« Parolen per se strafbar und könnten Demonstrationsverbote begründen.
Streit um Demonstrationsparolen
Konkret machte sich der Konflikt häufig an der auf palästinensischen Demonstrationen geäußerten Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« fest. Die Parole geht auf die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO, von engl. Palestine Liberation Organization) in den 1960er Jahren zurück und beruhte auf der traumatischen Erfahrung der oben erwähnten »Nakba«. Die Parole lässt sich natürlich verschieden interpretieren. Ebenso wie die Leugnung des Existenzrechts Israels kann sie die Vision eines friedlichen Zusammenlebens der jüdischen und palästinensischen Bevölkerung in einem gemeinsamen Staat beschreiben. Die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft haben sich aber auf die erste Interpretation festgelegt und wollen die Parole strafrechtlich verfolgen, selbst wenn bisher auch die Leugnung des Existenzrechts Israels an sich nicht strafbar ist. Bundesinnenministerin Nancy Faeser versuchte mit ihrer Verbotsverfügung gegen die Hamas und das palästinensische Netzwerk Samidoun neue rechtliche Fakten zu schaffen, indem sie die oben genannte Parole als der Hamas zugehörig gleich mitverboten hat. Damit wäre diese Parole auf Demonstrationen nach § 20 des das öffentliche Vereinsrecht in Deutschland regelnden Vereinsgesetzes (VereinsG) strafbar, einem Paragrafen, mit dem sich die kurdische Solidaritätsbewegung in Deutschland bestens auskennt. Dass die Zuordnung dieser Parole zur Hamas sachlich falsch ist, stört dabei niemanden. Solange keine gegenteiligen Gerichtsurteile vorliegen, hat die Polizei die Möglichkeit einzugreifen und das scheint damit auch aktuell bezweckt.
Auch wenn die Situation aktuell noch polarisierter ist, folgen die staatlichen Angriffe auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit demselben Muster wie seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. »Prorussische« Demonstrationen wurden, wenn nicht verboten, mit zahlreichen Auflagen versehen. So z. B. bestätigte am 8. Mai dieses Jahres das Oberverwaltungsgericht Berlin bei der jährlichen Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Treptower Park polizeiliche Auflagen und untersagte das Mitführen russischer und sowjetischer Fahnen im Gegensatz zu ukrainischen, weil sie im aktuellen Kontext des russischen Angriffs als Sympathiebekundung für die Kriegsführung Russlands hätten verstanden werden können. Aufgrund einer Rede, die der DKP-Aktivist Heinrich Brückner anlässlich des 81. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion ebenfalls im Treptower Park gehalten hatte, kam es zu einer Anklage wegen Volksverhetzung. Brückner hatte aus seiner Sicht die Hintergründe des Krieges erläutert und sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten sprach ihn zwar frei, aber lediglich aufgrund der zu geringen Zuhörer:innenschaft bei seiner Rede. Inhaltlich folgte es der Staatsanwaltschaft, Brückners Rede hätte »das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen«3, und sei somit als Volksverhetzung zu werten. Politisch kontroverse Positionen werden somit zur Straftat, wenn sie sich in aufgeheizten außenpolitischen Konfliktlagen zu weit von der Regierungsposition und der vermeintlich öffentlichen Meinung entfernen. Auch wenn es sich um eine schon länger geplante Umsetzung einer EU-Richtlinie handelte, passte die Erweiterung des Volksverhetzungsparagrafen 130 StGB im Oktober 2022 ins Bild, indem nun auch u. a. das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen von Kriegsverbrechen unter Strafe gestellt wird. Bislang beschränkte sich der Paragraf in diesem Teil auf die Leugnung des Holocausts. Dieser Paragraf wird sicherlich nur bei den Kriegsverbrechen aufgegriffen werden, bei denen westliche und prowestliche Staaten nicht beteiligt waren.
Nun mag man sich fragen, ob angesichts der aktuellen von Tod und Zerstörung geprägten Bilder aus dem Nahen Osten juristischen Auseinandersetzungen in Deutschland eine große Bedeutung beikommt. Aus Sicht der jahrzehntelangen Erfahrung der kurdischen Befreiungsbewegung kann man das nur bejahen. Die Unterdrückung der kurdischen Opposition in Deutschland und Europa ist als strategische Unterstützung des NATO-Partners Türkei nicht weniger relevant als die Praxis direkter Waffenlieferungen. Seit dem Verbot der PKK im Jahre 1993 dient u. a. das Vereinsgesetz dazu, auf kurdischen Demonstrationen unliebsame politische Positionen zu unterdrücken, indem akribisch Transparente und Parolen als strafbar angesehen und damit auch gewalttätige polizeiliche Interventionen gerechtfertigt werden, wie das zuletzt am 18. Oktober bei der Demonstration gegen 30 Jahre PKK-Verbot in Berlin praktiziert wurde. Auch hier kommt es regelmäßig zu bewussten gesetzlichen Überdehnungen, wenn etwa an sich nicht verbotene Symbole der syrisch-kurdischen Verteidigungseinheiten YPG und YPJ auf Versammlungen untersagt werden, weil sie angeblich »ersatzweise« für verbotene PKK-Symbole benutzt werden.
So prägt sich ein Eindruck aus, dass hegemoniale Ansprüche der deutschen Außenpolitik zunehmend gegen innere Kritik abgeschirmt werden. Strafrechtliche Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dienen dazu, Kritik und Widerstand gegen die offizielle »Regierungslinie« zu den jeweiligen Konflikten von vornerein zu verhindern oder wenigstens zu delegitimieren. Die aktuellen Diskussionen um die Verschärfung des Asylrechts, um generelle Einschränkungen politischer Rechte von Ausländer:innen und Strafrechtsverschärfungen lassen für die Zukunft nichts Gutes erwarten.
1zitiert nach: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2023-09/Amnesty-Stellungnahme-Deutschland-Berlin-Nakba-Demonstrationen-Verbot-September-2023.pdf, S. 1; im Auszug wird hier aus einem Bescheid der Landespolizeidirektion Berlin zitiert; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023
2zitiert nach: https://www.news4teachers.de/2023/10/schuelern-palaestinensertuecher-verbieten-das-ist-eine-einladung-zur-provokation/; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023
3 zitiert nach: https://www.nachdenkseiten.de/?p=92952; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Statement der britischen Gewerkschaftskampagne für die Freiheit Abdullah Öcalans
Die Isolierung von Öcalan ist noch gravierender als die von Mandela
Clare Baker, internationale Sprecherin von Unite the UNION und Koordinatorin der Gewerkschaftskampagne »Freedom for Ocalan«
Die Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien hat eine lange Geschichte der Unterstützung für unterdrückte Menschen rund um die Welt. Sie unterstützt einerseits widerständige Menschen, die sich gegen Staaten und Kapital stellen, zu deren Versuchen es gehört, Freiheiten, Rechte und das Leben von Menschen aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit zu beschränken. Andererseits setzt sich die britische Gewerkschaftsbewegung auch für Menschen ein, die unterdrückt werden, weil sie sich auf der Suche nach Durchsetzung von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit auf der Welt befinden.
Wir haben den Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika unterstützt, wir haben mit Boykotten gegen den chilenischen Diktator Pinochet gekämpft, wir haben an der Seite der Bevölkerung in Kolumbien gestanden, die systematisch vom Staat angegriffen wurde, weil sie für ihre Rechte aufbegehrte. Wir standen auch an der Seite der Sahrauis aus der Westsahara in ihrem Kampf gegen die marokkanische Besatzung1 und wir kämpfen gegen das Apartheidsystem, die illegale Besatzung und die Morde des israelischen Staates gegen das palästinensische Volk.
Der kurdische Kampf wurde von unserer Bewegung seit vielen Jahren unterstützt. So gab es Solidarität mit diesem Kampf und auch für den kurdischen politischen Führer Abdullah Öcalan. Vor allem aber waren es die Ereignisse in Kobanê auf dem Höhepunkt der Barbarei des Islamischen Staats (IS), die uns bewegten, die Unterstützung in eine engagierte Kampagne der britischen Gewerkschaften auszuweiten. Die Widerstandsfähigkeit der Menschen in Kobanê und die Tapferkeit der YPG und YPJ angesichts dieser Barbarei sowie die Opfer, die sie bei der Verteidigung der Menschheit gegen den IS erbrachten, waren bemerkenswert. Es war die Haltung der türkischen Regierung, die ihre Bürger:innen davon abhielt, die Grenze zu überqueren und den Menschen in Kobanê zu helfen. Das aber veranlasste uns dazu, eine solide Unterstützung für die kurdische Bevölkerung zu organisieren und die Repression des türkischen Staates hervorzuheben, welche den Kurd:innen und allen progressiven Kräften gilt. Die Kampagne wurde 2016 im britischen Parlament gestartet und wird von rund 17 der großen Gewerkschaften und der Konföderation des TUC2 unterstützt.
Die Entscheidung, dass sich die Kampagne auf Abdullah Öcalan konzentriert, wurde getroffen, weil der Kampf des kurdischen Volkes in der Türkei selbst und außerhalb der türkischen Grenzen auf den programmatischen Ideen Öcalans basiert. Die in seinen Schriften festgehaltenen Ideen beeinflussten ihre politischen Überzeugungen in Bezug auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und die Befreiung von Frauen maßgeblich. Öcalans Inhaftierung auf der türkischen Insel İmralı im Marmarameer markiert symptomatisch und symbolisch den Krieg des türkischen Staates gegen die gesamte kurdische Bevölkerung.
Immer wieder muss darauf verwiesen werden, dass Abdullah Öcalans Inhaftierung gegen internationales und inländisch-türkisches Gesetz verstößt und an die Situation von Nelson Mandela sowie dessen Haftumstände und -bedingungen in Südafrika erinnert.3 Aber mit den Worten von Mandelas Anwalt, Essa Moosa, ist die Isolierung von Öcalan noch gravierender als die von Mandela.4 Mandela durfte zumindest seine Anwält:innen sehen, während Abdullah Öcalan seit seiner Entführung und Inhaftierung größtenteils dazu verurteilt wurde, die Haft in Isolation mit wenig oder gar keinem Zugang zu Anwält:innen oder seiner Familie zu verbringen. Bis jetzt hat seit März 2021, als er einen kurzen Anruf mit seinem Bruder tätigen durfte, niemand von Öcalan gehört. Zuvor schon durfte er sich zwischen 2015 und 2019 nicht mit seinen Anwält:innen treffen und hatte auch sonst keine Besucher:innen oder keinen Kontakt mit der Außenwelt. Die mangelnde Rechenschaftspflicht für diese offensichtliche Missachtung des Völkerrechts durch die Türkei ist erstaunlich und wir haben die britische Regierung und die Europäische Union konsequent aufgefordert, dies anzugehen und zu helfen, Abdullah Öcalans Isolation zu beenden.
Seit Beginn der Kampagne haben wir gesehen, wie sich die Situation für kurdische Menschen und die linken und fortschrittlichen Bewegungen in der Türkei verschlimmerte. Tausende kurdische Politiker:innen, Lehrer:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen sowie Gewerkschafter:innen wurden inhaftiert, viele von ihnen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Öcalans Ideen haben die Frauenbewegungen, die Zivilgesellschaft und die politische Organisation in einer zunehmend autoritärer werdenden Türkei, welche diese Ideen und Praktiken durch Erdoğans repressives Regime verfolgt, geprägt. Infolgedessen wird jede unabhängige Organisation – ob freie Presse, Frauengruppen, das kurdische Prinzip der Co-Vorsitzenden oder Gewerkschaften – vom türkischen Staat gezielt kriminalisiert und des Terrorismus angeklagt.
Abdullah Öcalan ist ein mächtiges Symbol für den Friedenswunsch des kurdischen Volkes. Seine Weiterentwicklung der marxistischen Ideen, von denen er ursprünglich beeinflusst wurde, und die Transformation der Politik der Befreiungsbewegung mit neuen Ideen, die auf Befreiung, Ökologie und Basisdemokratie beruhen, hat dafür gesorgt, dass die kurdische politische Bewegung relevant geblieben ist. Sie kann sich der sich ständig verändernden globalen politischen Situation und den komplexen Herausforderungen, die ihrer Befreiung entgegenstehen, anpassen.
Öcalans Philosophie des Demokratischen Konföderalismus hat seine Wurzeln in der internationalen Arbeiter:innenbewegung, seine Ideen zur Gleichheit und der Bedeutung der echten Demokratie als Reaktion auf die und Schutz vor dem und den Mächtigen ähneln unseren eigenen und bieten eine neue Perspektive für Frieden und Demokratie im gesamten Nahen Osten. Seine Ideen und seine Vision erwiesen und erweisen sich als Inspiration für Kurd:innen in der Türkei, in Syrien, für die kurdische Diaspora und für linke Bewegungen weltweit.
In der Revolution in Rojava, wo wir Öcalans Ideen am deutlichsten in die Tat umgesetzt sehen, haben Koalitionen zwischen der lokalen assyrischen, arabischen und kurdischen Bevölkerung eine Gesellschaft geschaffen, die sich nach den Prinzipien einer kommunalen Wirtschaft, der Harmonie mit der Umwelt und der Selbstverwaltung organisiert. Die junge Demokratie in Rojava und ihre Strukturen bieten sowohl Inspiration als sie auch die Möglichkeit schaffen, unsere eigenen Strukturen und den Ansatz der globalen Gewerkschaftsbewegung daran zu messen. Rojava existierte als Insel der Stabilität in einer ansonsten feindlichen und gefährlichen Umgebung seit der Niederlage des IS durch YPG und YPJ. Diese Strukturen sind aber äußerst verletzlich, was die jüngsten Ereignisse wie die Invasion und die anschließende ethnische Säuberung von Efrîn durch die Türkei im Jahr 2018 und ebenso die ethnischen Säuberungen in anderen Teilen Rojavas, als sich 2019 die US-Truppen plötzlich zurückzogen, zeigen. Ebenso verdeutlichen das auch die jüngsten türkischen Drohnenangriffe in der Region. Diese Angriffe in Nordsyrien, im Nordirak und anderswo ereignen sich, während die Augen der Welt auf die Ukraine und Palästina gerichtet sind, und sie finden insgesamt nur wenig mediale und politische Aufmerksamkeit und Verurteilung. Auch das unterstreicht, wie verletzlich die Situation ist, gerade weil eine internationale politische und mediale Öffentlichkeit für das Gesellschaftsmodell Rojava sowie für Kurd:innen durch andere Kriegsschauplätze abgelenkt wird.
Die britische Gewerkschaftskampagne ist seit ihrer Gründung im Jahr 2016 immens gewachsen und wir haben sowohl 2019 auf dem TUC-Kongress als auch bei den folgenden Konferenzen im Jahr 2021 auf der UNITE-Konferenz5 und 2022 bei Veranstaltungen der NEU6, ASLEF7, GMB8 und BFAWU9 äußerst wichtige Solidaritätsmaßnahmen ergriffen. Die Kampagne war auch das internationale Thema des Durham Miners‘ Gala10 und des Tolpuddle Martyrs‘ Festival11 in den Jahren 2018 und 2019 und spielte eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Parlamentarischen Allparteiengruppe für Kurdistan in der in der Türkei und Syrien (APPG12) mit ihrem bahnbrechenden Bericht, der 2021 veröffentlicht wurde. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, und weil sich die Situation in der Türkei, in Syrien und in der Region erneut verschlechtert, ist es wichtig, dass wir unseren Kampf um die Freiheit von Öcalan fortsetzen, damit er die wichtige Rolle im Friedensprozess für die Region spielen kann, die verzweifelt Stabilität benötigt. Die britische Gewerkschaftskampagne wird weiterhin für die Freiheit von Abdullah Öcalan – dem »Mandela des Nahen Ostens« – kämpfen und unseren Kampf um Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit fortsetzen!
1 Die Sahrauis sind eine maurische Ethnie in der Westsahara, die nach dem Ende der spanischen Kolonialzeit im Norden des Gebietes unter Besatzung Marokkos stand. Bis in die Gegenwart setzen die Sahrauis mit ihrer Befreiungsfront Polisario sich gegen die marokkanische Besatzung zur Wehr.
2 TUC: Britischer Gewerkschaftsdachverband
3 Nelson Mandela wurde von 1963 bis 1990 in Südafrika wegen seiner aktiven Tätigkeit für den African National Congress (ANC) gegen die Apartheidpolitik Südafrikas inhaftiert.
4 https://www.nadir.org/nadir/periodika/kurdistan_report/2005/118/06.htm Essa Moosa: Nicht einmal Mandela war so isoliert wie Öcalan
5 UNITE: Britische Gewerkschaft
6 National Education Union: Britische Lehrer:innengewerkschaft
7 ASLEF: Gewerkschaft der Lokomotivführer:innen und Feuerwehrleute
8 GMB: Mit ca. 600000 Mitgliedern größte Gewerkschaft in Großbritannien
9 BFAWU : Gewerkschaft für Nahrungsmittel
10 Durham Miners‘ Gala: Jährliches Fest der Bergarbeiter:innengewerkschaft DMA in Durham
11 Tolpuddle Martyrs‘ Festival: Jährliches Gewerkschaftsfest in Tolpuddle
12 APPG: Parteiübergreifende britische Parlamentarier:innengruppe zur Unterstützung Kurdistans in der Türkei und Syrien
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Wie der Islamismus im Mittleren Osten die Völker an ihrer Emanzipation hindert
Die Muslimbruderschaft, die Hamas und die AKP
Ali Roj
Da alle drei Organisationen – die Muslimbruderschaft, die Hamas sowie die AKP – eine islamistische Ideologie vertreten, ist es sinnvoll, kurz auf die Entstehung des Islam und seine heutige Situation einzugehen.
Der Islam entstand als dritte monotheistische Religion der abrahamitischen Tradition mit dem Anspruch, die angestauten sozioökonomischen und politischen Probleme der arabischen Völker zu lösen, die zwischen den beiden damaligen Hegemonialmächten, dem Römischen und dem Persischen Reich, eingeklemmt waren. Mit anderen Worten, die Krise und die chaotische Situation der arabischen Gesellschaften führten zur Entstehung des Islam, der sich in seiner Anfangszeit als fähig erwies, Probleme zu lösen, und in kurzer Zeit zunächst den Nahen Osten beherrschte und sich dann über die ganze Welt ausbreitete.
Jahrhundertelang war er die zentrale hegemoniale Macht, aber er verlor diese Position, als der Kapitalismus die zentrale Machtstruktur in Europa wurde. Wenn wir also die Praxis des Islam in den letzten eintausendvierhundert Jahren bewerten, können wir feststellen, dass er nur als ein Pflaster und nicht der realen Überwindung der Probleme gedient hat; und wir können sagen, dass er auch gegenwärtig die Probleme weder löst noch mildert, sondern sie verschärft und ihre Bewältigung erschwert.
Heute halten Organisationen, die sich auf die Ideologie des Islam stützen, die Abkehr von den Wurzeln des Islam für die Ursache der bestehenden sozioökonomischen und politischen Probleme und präsentieren die Rückkehr zum Wesen des Islam als Lösung. Auf dieser Grundlage wollen sie den Staat zu übernehmen organisieren, zu Koran und Sunna zurückkehren und schließlich eine Gesellschaft schaffen, in der Scharia-Gesetze gelten, in der Annahme, alle Probleme auf diese Weise lösen zu können. Das gemeinsame Ziel und der gemeinsame Zweck der meisten islamischen Organisationen (auch die der Muslimbruderschaft) ist letztlich der Weg zum Scharia-Gesetz – für sie ein Gebot Gottes –, und alle, die sich ihm widersetzen, müssen bekämpft werden.
Es gibt allerdings auch – wenn auch nur wenige – islamische Gruppen, die nicht von dieser Haltung angetrieben werden, sondern vielmehr von der kulturellen Praxis des Islam und der Notwendigkeit, Kompromisse mit anderen Kräften zu schließen. Das Leben des Propheten in der Zeit von Medina und die Praktiken dieser Zeit bilden die wichtigste Grundlage dafür; der Pluralismus in der Zeit von Medina schließt demokratische Strukturen ein. Islamische Organisationen wie die Ikhwan (Muslimbruderschaft) hingegen stehen demokratischen Werten grundsätzlich ablehnend gegenüber, da sie auf dem Mehrheitsprinzip und nicht auf Pluralismus basieren. Die wichtigste Grundlage für diese Auffassung ist die Phase des Propheten in Mekka. Sie akzeptieren demokratische Werte als Argumente, die nur dann verwendet werden, wenn sie dem eigenen Zweck dienen, und dies lässt sich leicht feststellen, wenn wir die historische Vergangenheit und Gegenwart der Ikhwan und Organisationen mit ähnlicher Ideologie betrachten. Die Organisation der Muslimbrüder in Palästina zum Beispiel stützt sich auf den Dschihad, d.h. auf Gewalt, während die syrische Ikhwan sagt, dass sie sich aufgrund der Umstände auf demokratische Methoden stützt, und der AKP-Führer Erdoğan, der eine ähnliche Ideologie hat, vergleicht die Demokratie mit einem Zug, den man besteigen muss, um ans Ziel zu kommen.
Die Hauptpropaganda der von Hassan al-Banna und seinen Freunden in den 1920er Jahren gegründeten Muslimbruderschaft zielte auf die Überwindung sozialer Probleme und Ungerechtigkeiten. Durch die Betonung von sozialer Solidarität, Kooperation und Bildung wollten sie die Massen erreichen, was ihnen auch gelang. Die Tatsache, dass die Region damals unter britischer Herrschaft stand, spielte dabei eine entscheidende Rolle: Anders als die ägyptische Regierung vor dem und während des Zweiten Weltkriegs unterstützte die Muslimbruderschaft das Nazi-Regime, was zu einer Vertiefung und Verankerung des islamischen Nationalismus in der Ikhwan führte, und Hitlers ›Mein Kampf‹ ist noch immer eines der meistgelesenen Bücher auf der Ikhwan-Website.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sie ihren Aktivismus nicht nur gegen Briten und Ausländer, sondern auch gegen die säkularen Werte des Lebens im Allgemeinen fort. Nach der Ermordung von Hassan al-Bannan als Vergeltung für die Ermordung des ägyptischen Premierministers wurde Sayyid Qutb, der erst später der Organisation beitrat, zum einflussreichsten Vordenker der Muslimbruderschaft. Für Sayyid Qutb ist die muslimische Gesellschaft unislamisch und muss durch eine gewaltsame Revolution und die Herrschaft der Scharia über die Regierungen aller muslimischen Länder zum Wesen des Islam zurückgeführt werden.
Der Name Sayyid Qutb wird von Tayyip Erdoğan und seinem Sohn Bilal Erdoğan oft genannt und seine Idee einer ummahistischen1 und religiösen Revolution als Vorbild angeführt. Für Erdoğan, der Georgier ist und dessen Frau Araberin, ist der islamische Nationalismus (man könnte ihn auch islamischen Faschismus nennen) zumindest das Hauptargument, um an der Macht zu bleiben. Schaut man sich seine Anhänger in der Türkei, im Nahen Osten und in der ganzen Welt an, ist diese Motivation leicht zu erkennen. Mit dieser Motivation kann er seine politische Macht leicht konsolidieren, indem er eine Basis mobilisiert, die sich auf islamische Empfindlichkeiten stützt, insbesondere innerhalb der Türkei. Es stellt sich die Frage, ob sie sich wirklich der islamischen Ideologie, dem Ikhwan-Gedankengut und den Lehren Sayyid Qutbs verschrieben haben oder ob sie diese als Mittel benutzen, um an der Macht zu bleiben und von deren Segnungen zu profitieren. Ich denke, wir können sagen, dass beides miteinander verbunden ist. Wir können sagen, dass die Muslimbrüder die AKP als das Modell akzeptiert haben, dem sie folgen sollten, um ihre Ziele nach dem Arabischen Frühling zu erreichen. Die von ihnen gegründeten politischen Parteien mit ähnlichen Namen und Programmen in Marokko, Tunesien und Ägypten sind Beispiele dafür. In Syrien haben sie den westlichen Mächten wiederholt erklärt, dass sie demokratische Methoden anwenden würden, die auf dem Diskurs des Modells der islamischen Mäßigung basieren, um die Macht zu ergreifen, und in Palästina kämpfen sie weiterhin mit der Hamas mit der Motivation des aktiven Dschihad.
Die Hamas greift sowohl das historische als auch das ideologische Erbe der Muslimbruderschaft auf, überträgt es auf Palästina. Für sie ist das Hauptproblem Israel, aber die Hauptlösung zur Beseitigung Israels und aller Probleme ist die Rückkehr zur Essenz des Islam, d.h. zur Scharia, und auf dieser Grundlage muss der Dschihad geführt und die Gesellschaft verändert werden. Dies ist die grundlegende Politik der Hamas gegenüber der palästinensischen Gesellschaft. Der Grund für die Angriffswelle gegen Israel am 7. Oktober 2023 liegt wahrscheinlich in diesem islamistischen Gedankengut der Ikhwanisten, so dass die Aussage, dass es eine Partnerschaft zwischen Hamas, Ikhwan und AKP gibt, angemessen und wahr ist. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass die Hamas zu dieser Aktion ermutigt wurde.
Diese Aktion hat dem palästinensischen Volk große Verluste und Schmerzen zugefügt. Es ist ein großer Fehler, von Erfolg und Freude zu sprechen, wenn Tausende von Zivilisten, Frauen und Kindern getötet wurden. Obwohl das offizielle Gründungsdatum der Hamas das Jahr 1987 ist, geht sie auf die frühen siebziger Jahre zurück, als die Muslimbruderschaft als Wohltätigkeitsorganisation gegründet wurde, und sogar noch weiter zurück in die dreißiger Jahre. Soweit wir wissen, wurde dieser Organisation, deren Gründung Israel genau beobachtete, die Möglichkeit gegeben, sich gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu richten; so konnte sie – trotz anfänglicher geringer Beliebtheit – sich entwickeln und wachsen, die PLO wurde zerschlagen und der palästinensische Befreiungskampf gelähmt.
Die islamistische Ideologie hat versucht, sich an die Stelle der auf der sozialistischen Befreiungsideologie der Geschwisterlichkeit der Völker basierende Befreiungsideologie zu setzen. Mit den Angriffen vom 7. Oktober scheint die Hamas ein regionales Chaos provozieren zu wollen. Dieses Chaos wird den Normalisierungsprozess der arabischen Staaten mit Israel vorerst verhindern und kann auch als Schachzug gesehen werden, um die neue Handelsroute zwischen Indien und Europa, die auf dem G20-Gipfel geplant worden war, und den Russland-Ukraine-Krieg zu vereiteln.
Es ist klar, dass sie den Iran und die schiitischen Kräfte um ihn herum in eine Konfrontation mit Israel treiben wollen, um eine neue Krise im Nahen Osten heraufzubeschwören, das Chaos zu vertiefen und den Ikhwanisten zu neuen Erfolgen zu verhelfen, wie es nach dem Arabischen Frühling der Fall war. Ikhwan, die AKP und Russland scheinen diejenigen zu sein, die am meisten von der aktuellen Krise profitieren. Doch es ist klar, dass der legitime Kampf des palästinensischen Volkes dadurch größten Schaden nimmt. Nationalistische und religiöse Ansätze werden auf beiden Seiten nur zu mehr Zerstörung, mehr Verwüstung und mehr Toten führen. Natürlich ist der Islam in den Gesellschaften des Nahen Ostens verankert, aber in seiner gegenwärtigen Form kann er nicht mehr tun, als die Probleme zu vertiefen; das Angemessenste, was er tun kann, ist, aus der kapitalistischen Moderne herauszutreten und eine kulturelle Rolle im Leben der alternativen, demokratischen Moderne zu spielen.
Israels Beharren auf der nationalstaatlichen Schiene und seine spezifische Herangehensweise an die Konflikte machen die Probleme nur noch unlösbarer. Es mag sich aufgrund seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht im Moment als Gewinner oder als am wenigsten Geschädigter sehen, es mag sich als Beschützer seiner Bevölkerung darstellen – aber es ist wichtig zu erkennen, dass es mit dieser Politik der jüdischen Gemeinschaft den Boden entzieht und einer Entwicklung den Weg bereitet, in der Zukunft ähnliche Tragödien zu erleben, wie sie die jüdische Gemeinschaft in der Geschichte erlebt hat. Aber wenn Israel das Paradigma der demokratischen Nation und der demokratischen Moderne mit der Kraft, der Fähigkeit und dem Potenzial, über die es verfügt, verwirklicht, könnte damit nicht nur das israelisch-palästinensische Problem gelöst werden, sondern es könnte auch zur Lösung des sogenannten kurdischen Problems beitragen, das mindestens ebenso tiefgreifend, umfassend und global ist. Auf diese Weise wird es die wohlwollendste Rolle gegenüber der Welt und der Menschheit spielen, das Schicksal der Welt positiv verändern.
1 Umma: Begriff, der für die religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime verwandt wird.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Editorial
Liebe Leser:innen,
das Jahr 2023 war kein einfaches Jahr für Menschen, die sich für eine gerechtere und freiere Welt einsetzen. Während ökonomische, ökologische und humanitäre Krisen unsere Agenda bestimmten, wurden gesellschaftliche Antworten aus progressiver Perspektive kaum sichtbar. Stattdessen schienen rechte und autoritäre Akteur:innen auf der ganzen Welt von den Krisen zu profitieren. Rechtsextreme Parteien sind nicht erst seit 2023 in unzähligen Ländern im Aufwind, sondern vielerorts bereits in der Regierung. Diese Entwicklung führte letztlich zu einer Verschärfung der vielfältigen globalen Krisen. Autoritäre Regime, die durch ihre rassistische und gesellschaftsfeindliche Politik häufig zur Verschärfung innerstaatlicher Probleme beitrugen, versuchten durch rhetorische oder auch konkrete politische Manöver die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf andere Themenfelder zu lenken. Durch die Konstruktion eines »bösen Anderen«, der als Sündenbock für die eigene Misere ausgemacht wurde, versuchten Machthaber:innen weltweit mittels rassistischer Diskurse von der eigenen Verantwortung abzulenken: Dieses »Andere« waren im vergangenen Jahr wahlweise Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten, verfeindete Nachbarstaaten, mit denen um Einfluss und Macht in der Region konkurriert wurde, oder eben fortschrittliche und demokratische Kräfte, die sich um wirkliche Lösungen für die brennenden gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit bemühen.
Kurdistan und der Mittlere Osten waren im vergangenen Jahr ein Kristallisationspunkt dieser Krisen. Hier traten nicht nur die globalen gesellschaftlichen Probleme offen zu Tage. Hier führten die Krisen zu offenen Konflikten und grausamen Kriegen. Die autoritären Regime der Region gingen im vergangenen Jahr besonders gewaltsam und ohne Rücksicht auf humanitäre Prinzipien gegen jede Form gesellschaftlicher Opposition vor. Periodisch wiederkehrende Eskalationen wie das Vorgehen der iranischen Staatsmacht gegen die Jîna-Revolution, die türkische Luftoffensive in Nord- und Ostsyrien oder der aktuelle Krieg in Gaza sind Ausdruck eines permanenten Ausnahmezustands in der Region, der uns im vergangenen Jahr begleitet hat.
Und auch wenn wir bisher ein eher düsteres Bild des vergangenen Jahres gezeichnet haben, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass es sie noch gibt – die gesellschaftliche Kraft, die sich für eine gerechte und freie Welt einsetzt. In Kurdistan und seinen Nachbarregionen ist diese Kraft weit mehr als eine vage Hoffnung. Auch wenn das Jahr 2023 weitgehend von Abwehrkämpfen geprägt war, verbreiten sich die Gedanken und Ideen dieser gesellschaftlichen Kraft mittlerweile weit über den Mittleren Osten hinaus in die ganze Welt. Ob in Rojhilat und im Iran, in Şengal oder Mexmûr, in den Metropolen Nordkurdistans oder in Nord- und Ostsyrien – auch im vergangenen Jahr ist es dieser Kraft gelungen, sich gegen ganze Staaten, deren »Sicherheitsapparate« und staatliche Verbündete zu behaupten.
Auch im neuen Jahr wird uns die Suche nach Lösungen für die brennenden Probleme unserer Zeit begleiten, während reaktionäre Regime und autoritäre Staaten durch ihr Handeln zur Verschärfung dieser Krisen beitragen werden. Doch wenn wir, gemeinsam mit den Bewegungen dieser Welt, die sich mit allem, was sie haben, für eine freie, gerechte und demokratische Welt einsetzen, nach Lösungen für die Krisen unserer Zeit suchen, können wir im neuen Jahr auch aus einem erfolgreichen Abwehrkampf in die Offensive gehen.
Eure Redaktion
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Kaum Chancen auf Asylanerkennung für kurdische Schutzsuchende
Flüchtlingszahlen aus der Türkei steigen – Schutzquote sinkt
ANF, 1. Okt. 2023
Das Erdoğan-Regime hat in den vergangenen Jahren seinen Repressionsapparat auf immer höheren Touren laufen lassen. Jede Kritik an der politischen Führung kann im Gefängnis enden, Folterfälle häufen sich in der eskalierenden Kriegspolitik des türkischen Staates. Insbesondere Kurd:innen sind von extremer Verfolgung bedroht. So kommt es nicht von ungefähr, dass nicht nur subjektiv die Zahlen der Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan steigen. Eine Kleine Anfrage der fluchtpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Clara Anne Bünger, belegt diesen Trend.
Im ganzen Jahr 2022 gab es 25.054 Asylanträge von Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft. 20.400, also 81 Prozent dieser Anträge, stammten von Kurd:innen. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Zahl von Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan weiter an. Bis Mitte des Jahres waren 19.857 entsprechende Asylanträge gestellt. Der rassistische Verfolgungsdruck lässt sich auch an der nationalen Identität der Antragssteller:innen ablesen. 16.594, also 84 Prozent, waren kurdischer Herkunft. Konservativ geschätzt kann am Ende des Jahres mit 40.000 Asylsuchenden aus der Region gerechnet werden. Das entspräche einer Steigerung von 60 Prozent. Real dürfte diese Zahl weit höher liegen, da bis zur Mitte des Jahres unzählige Menschen auf einen Wandel durch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gehofft hatten. Mit der Konsolidierung des AKP/MHP-Faschismus durch die Wiederwahl Erdoğans im Mai zeigt sich eine weitere große Fluchtbewegung aus der Diktatur.
2022 hat das BAMF über 11.073 Asylanträge von Asylsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan entschieden, im ersten Halbjahr 2023 lag diese Zahl bereits bei 10.308. Doch obwohl immer mehr Menschen vor der Verfolgung durch das Erdoğan-Regime fliehen, werden immer weniger von ihnen als Flüchtlinge anerkannt. Die bereinigte Schutzquote, also der Prozentsatz der Erteilung von Aufenthaltstiteln und Ablehnungen abzüglich negativer Entscheidungen aus formalen Gründen ist der deutlichste Indikator der Entscheidungspraxis des BAMF. Die bereinigte Schutzquote sank kontinuierlich von 39,9 Prozent im ersten Quartal 2022 auf 20,5 Prozent im zweiten Quartal 2023.
69,6 Prozent Anerkennungen bei Türk:innen, 7,2 Prozent bei Kurd:innen
Während der Verfolgungsdruck für Kurd:innen in der Türkei systematisch ist, wird diese Ansicht offensichtlich von den deutschen Behörden nicht geteilt. Im Gesamtjahr 2022 lag die bereinigte Schutzquote bei türkischen Asylsuchenden bei 80,8 Prozent, bei Kurd:innen hingegen bei 11,1 Prozent. Im ersten Halbjahr 2023 betrug die bereinigte Schutzquote bei türkischen Asylsuchenden 69,6 Prozent, bei kurdischen Asylsuchenden hingegen lediglich 7,2 Prozent. Das heißt, weniger als jede:r zehnte Kurd:in, der:die in Deutschland Asyl beantragte, erhielt einen Aufenthaltstitel.
Für viele der Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan ist eine Überprüfung der BAMF-Entscheidungen durch Verwaltungsgerichte die letzte Hoffnung. 2022 wurden 5.533 Klagen türkeistämmiger Asylsuchender gegen Bescheide des BAMF entschieden. In 875 Fällen bekamen Klagende einen Schutzstatus zugesprochen, den das BAMF ihnen zuvor verweigert hatte. In 2.447 Fällen wiesen die Gerichte Klagen nach inhaltlicher Prüfung ab. Daraus ergibt sich eine bereinigte Aufhebungsquote von 26,3 Prozent. Im ersten Halbjahr 2023 setzte sich dieser Trend mit einer Aufhebungsquote von 23,3 Prozent fort.
Parallel zu den steigenden Zahlen der Ablehnungen, steigen auch die Abschiebungen in die Türkei. 2022 wurden 515 Personen in die Türkei abgeschoben, im ersten Halbjahr 2023 waren es bereits 345. Überwiegend wurden diese Abschiebungen mit Linienflügen durchgeführt, teilweise aber auch mit Charterflügen. Aus der Antwort der Bundesregierung ergibt sich, dass zwölf der insgesamt 21 Charterflüge in den Jahren 2022 und 2023 vom Flughafen BER in Berlin ausgingen. Es handelte sich überwiegend um sogenannte Mini-Charterflüge für bis zu vier Personen. 2022 sind 101 Abschiebungen in die Türkei in letzter Minute gescheitert, im ersten Halbjahr 2023 geschah dies in 64 Fällen. Das lag zum Beispiel am passiven Widerstand der Betroffenen, an medizinischen Gründen, an der Weigerung der Piloten oder im letzten Moment eingelegten Rechtsmitteln.
Bundesregierung hält Abschiebeprofiteure geheim
Die Bundesregierung hält die Unternehmen, die an den Abschiebungen in die Türkei profitieren, geheim. So sollen »Staatswohlinteressen« und die »Interessen der betroffenen Fluglinien« geschützt werden. So könne sich die Beteiligung an Abschiebungen negativ auf die »öffentliche Wahrnehmung der Unternehmen« auswirken und diese der »öffentlichen Kritik« aussetzen. Damit bestünde die Gefahr, dass sie nicht weiter für Abschiebungen zur Verfügung stehen. Im Jahr 2021 wurden die meisten der Abschiebungen in die Türkei von German Airways durchgeführt, auch Lufthansa ist für ihren Profit an Abschiebungen berüchtigt.
»Es ist grotesk: Je mehr sich die politischen Verhältnisse in der Türkei zuspitzen, desto restriktiver entscheidet das BAMF über die Asylanträge von kurdischen Asylsuchenden. Menschenrechtsorganisationen sind sich einig, dass die türkischen Behörden insbesondere kurdische und linke Oppositionelle gnadenlos verfolgen, von Rechtsstaatlichkeit kann in dem Land längst keine Rede mehr sein. Die Bundesregierung muss schnellstens dafür sorgen, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis ändert und Verfolgten aus der Türkei Schutz gewährt. Andernfalls muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, Handlangerin Erdoğans zu sein.«
Die Unterstützung der Bundesregierung für den AKP/MHP-Faschismus in der Türkei wird besonders deutlich, wenn sie zu kritischen Themen befragt wird. Unter Verweis auf eine ansonsten drohende »erhebliche Belastung der bilateralen Beziehungen zur türkischen Regierung« verweigert die Bundesregierung eine öffentliche Antwort auf die Fragen, ob es zutreffe, dass Rechtsanwält:innen, die politische Oppositionelle vertreten, selbst mit Repressionen durch den türkischen Staat rechnen müssten, sowie inwieweit in politischen Strafverfahren in der Türkei von einer unabhängigen Justiz bzw. rechtstaatlichen Verfahren auszugehen sei.
Bünger kommentiert es als »bezeichnend«, dass die Bundesregierung Fragen zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nicht offen beantworten will: »Offenbar weiß sie ziemlich genau, wie schlecht es um die Menschenrechtslage in der Türkei bestellt ist. Gute Beziehungen zum NATO-Partner Erdoğan sind ihr aber wichtiger als das Schicksal der Menschen, die in der Türkei willkürlich kriminalisiert, inhaftiert und gefoltert werden, weil sie sich für Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen.«
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024