Neuerscheinung über Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Deutschland
»Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen«
Buchvorstellung von Elmar Millich
In seinem neu erschienenen Buch »Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen – Wie die kurdische Diaspora in Deutschland mundtot gemacht wird« räumt das Autor:innenkollektiv Alexander Glasner-Hummel, Monika Morres und Kerem Schamberger mit der Mär auf, dass es sich bei dem 1993 beschlossenen Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans PKK um eine Verfügung handele, die lediglich die Kader der PKK in ihrer Arbeit in Deutschland einschränkt. Das PKK-Verbot und ihre Listung auf der EU-Terrorliste seit 2002 schränken vielmehr die demokratischen Rechte der gesamten in Deutschland lebenden politisch aktiven Kurd:innen in erheblichem Maße ein. Die verschiedenen Ebenen der seit 40 Jahren andauernden staatlichen Verfolgung in Deutschland werden dabei eingehend untersucht.
Beginnend mit dem 1989 eröffneten »Düsseldorfer PKK-Prozess« gegen 19 kurdische Aktivist:innen wird in dem Buch die strafrechtliche Dimension der Verfolgung aufgezeigt und deutlich dargestellt, dass dieser Prozess im engeren Sinne kein strafrechtliches Verfahren war, sondern ein juristischer Beitrag in einem Gesamt-NATO-Konzept zur Unterstützung der Türkei gegen die als Bedrohung wahrgenommene PKK. Flankiert wurde damals die juristische Verfolgung mit umfangreichen Waffenlieferungen an die Türkei vor allem aus Deutschland und politischen Kampagnen etwa im Zusammenhang mit dem Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten Olaf Palme 1986. Aktuell ist es vor allem der §129b StGB (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung), der gegen angebliche Kader der PKK in Deutschland zur Anwendung kommt. In der Regel werden den Angeklagten dabei keine individuellen Straftaten vorgeworfen, sondern allgemeine politische Organisationstätigkeiten, die an sich nicht strafbar sind. Die Prozesse enden in der Regel mit Verurteilungen zu mehrjährigen Freiheitsstrafen.
Als paralleles Sanktionssystem, in seinen Auswirkungen oft aber nicht weniger gravierend als das Strafrecht, wirken für etwa die Hälfte der ungefähr eine Million in Deutschland lebenden Kurd:innen ohne deutschen Pass die verschiedenen ausländerrechtlichen Bestimmungen. Anhand von Einzelbeispielen beschreibt in einem Gastbeitrag die auf Asyl und Ausländer:innenrecht spezialisierte Rechtsanwältin Heike Geisweid, wie schon allein kulturelle Kontakte in legale kurdische Vereine hinein seitens der Ausländer:innenbehörden benutzt werden, den betroffenen Kurd:innen erhebliche Nachteile bis hin zu Abschiebungsandrohungen zu bereiten. Aus diesem Artikel geht auch hervor, wie flächendeckend die Überwachung der kurdischen Community durch Geheimdienste und sonstige Sicherheitsbehörden erfolgt, und stützt die in dem Buch vertretene These, dass es bei den ganzen Sicherheitsgesetzen eben nicht nur um die Verfolgung einzelner kurdischer Straftäter:innen gehe, sondern eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht stehe.
Wie wenig die im Grundgesetz garantierte Freiheit von Kultur und Medien zählt, wenn es um kurdische Institutionen geht, beschreiben die Autor:innen in einem Kapitel über die Geschehnisse rund um den in NRW ansässigen Mezopotamien Verlag, der seit Anfang der 1990er Jahre kurdische Literatur in Deutschland und Europa vertreibt. Zeit seines Bestehens immer wieder von Repression und Razzien betroffen, wurde der Verlag 2019 vom damaligen CSU-Innenminister Horst Seehofer verboten. Vorausgegangen waren erneute Razzien, bei denen tonnenweise kurdische Literatur beschlagnahmt worden war. Gegen diese Art des Umgangs mit Kulturgütern wurden u.a. auch von der deutschen Sektion der Schriftsteller:innenvereinigung PEN Bedenken angemeldet.
Die einzelnen Kapiteln entnommenen angeführten Themenfelder bilden nur einen Teil des Buches ab. Ausführlich wird auch auf die historischen Entwicklungen eingegangen. Das umfasst sowohl die Historie des türkisch-kurdischen Konflikts, die Migrationsgeschichte der in Deutschland lebenden Kurd:innen als auch die ideologischen Entwicklungen der PKK in neuerer Zeit. Anhand der aktuellen Verhandlungen um den NATO-Beitritt Schwedens und des 2016 unter Federführung der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel geschlossenen türkisch-europäischen Flüchtlingsdeals wird aufgezeigt, dass die Repression gegen Kurd:innen in Deutschland und Europa in einem mindestens so großen Ausmaß der Außen- wie der Innenpolitik geschuldet ist.
Gerade in den letzten Jahren sind einige Bücher über die Entwicklungen in Kurdistan herausgekommen, u.a. mit dem Schwerpunkt der »Rojava« genannten Gebiete in Nordostsyrien. Das vorliegende Buch mit dem Fokus auf die Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung zeigt darüber hinausgehend, wie vor allem in Deutschland Ministerien, Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte über Jahrzehnte eine pseudojuristische Gegenwirklichkeit aufgebaut haben, die mit der politischen Realität der Kurd:innen wenig zu tun hat; weder in ihren Herkunftsländern noch in Deutschland. Diese falsche Realität, die alles »Kurdische« mit PKK und Terrorismus in Verbindung bringt, wird leider von Politik und Medien immer noch allzu gern übernommen. Das aktuelle Buch will pünktlich zum 30. Jahrestag des PKK-Verbots nicht nur Informationen dagegenstellen, sondern ruft auch explizit zu Solidarität auf. Es wäre zu wünschen, dass es von vielen gelesen wird.
Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen – Wie die kurdische Diaspora in Deutschland mundtot gemacht wird
Von Alexander Glasner-Hummel, Monika Morres, Kerem Schamberger
Westend-Verlag, 216 S., 24,00 €
ISBN: 9783864894169
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Erklärung der Grundsätze der Konferenz »Jugend schreibt Geschichte«
»Junge Menschen aller Länder,
vereinigt euch und verändert diese Welt!«
Vom 3. bis 5. November 2023 fand in Paris in der Tradition revolutionärer Jugendkonferenzen die Weltjugendkonferenz »Youth Writing History« statt. Das Vorbereitungskomitee hatte Jugendliche aus aller Welt dazu aufgerufen, als revolutionäre Jugend zusammenzukommen und den demokratischen Weltjugendkonföderalismus auszurufen.
Wir, die Jugend der Welt und die Menschheit als Ganzes, sind derzeit mit einer Systemkrise von nie dagewesener Intensität konfrontiert. Die ökologische Katastrophe verschlimmert sich täglich, Kriege nehmen überall zu, Nationalismus und faschistische Bewegungen breiten sich auf der ganzen Welt aus. Das kapitalistische Weltsystem zerstört zur Befriedigung seines unendlichen Profitstrebens die Umwelt und beraubt die Menschheit letztlich ihrer Lebensgrundlagen. Die Folgen erleben wir überall. Sei es in unserem persönlichen Leben oder in unserer Umwelt: soziale Isolation, Feminizide, Armut, Elend, Gewalt und Umweltkatastrophen. Wir wachsen in einer katastrophalen Welt auf, und wir weigern uns, diese Realität zu akzeptieren, die uns als alternativlos präsentiert wird. Überall auf der Welt organisieren sich junge Menschen und kämpfen für eine bessere Zukunft. Jung zu sein bedeutet für uns nach der Wahrheit, einer besseren Welt und einem besseren Morgen zu suchen. Wir sind überzeugt, dass wir dies erreichen können. Wenn wir es nicht sind, die in diese Krise eingreifen, wer dann? Wenn wir angesichts dieser Katastrophen jetzt nicht handeln, wann dann? Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Netzwerk »Youth Writing History« zusammengeschlossen, um unseren gemeinsamen Kampf auf einer neuen Grundlage zu verbinden.
Wir wollen gemeinsam diskutieren, uns vernetzen, aufklären und organisieren. Deshalb erklären wir, über 400 junge Menschen aus 49 Ländern und 95 Organisationen, Bewegungen und Parteien:
1. Eine Lösung der aktuellen globalen Krise kann nur außerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems und nur durch den Aufbau einer neuen, gerechten und wirklich demokratischen Weltordnung erreicht werden.
2. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Einheit aller demokratisch-revolutionären und antisystemischen Kräfte der Welt notwendig. Als »Youth Writing History« arbeiten wir auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts für unsere unterschiedlichen Organisationsformen, Kampfweisen und politischen Traditionen. Darüber hinaus arbeiten wir aktiv an der weltweiten Einheit aller Kämpfe und Widerstände, die in fundamentalem Widerspruch zum herrschenden System und seiner Weltordnung stehen.
3. Unsere gemeinsame Vernetzung und Organisierung basiert auf dem Prinzip der »Einheit in Vielfalt«. Wir konzentrieren uns auf die Prinzipien die uns verbinden, unsere gemeinsamen Ziele und unseren entschlossenen Widerstand gegen den Kapitalismus und lassen dabei Raum für Unterschiede, Widersprüche und Diversität – in Theorie und Praxis.
4. Unser gemeinsamer Bezugspunkt ist der Internationalismus und die Einsicht, dass eine andere Welt nur durch den gemeinsamen Kampf aller unterdrückten Menschen weltweit erreicht werden kann. Wir verteidigen die Geschwisterlichkeit der Völker als einen Grundwert unseres Netzwerks.
5. Wir kämpfen gegen alle Formen von Herrschaft, Ausbeutung, Kapitalismus und die dazugehörende Ideologie des Liberalismus, welcher die Gesellschaft unter der Flagge falscher Freiheit spaltet und Individualismus, Patriarchat und die Zerstörung der Natur fördert. Wir stehen zusammen gegen Sexismus, Rassismus und jede Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, sexueller Identität, Religion, Behinderung, Sprache oder Nationalität.
6. Wir sind vereint in unserem Kampf gegen alle Formen von Besatzung und Kolonialismus und erkennen das Recht jeder Gesellschaft auf legitime Selbstverteidigung an. Wir betrachten es als eine der dringendsten internationalistischen Aufgaben junger Aktivisten, zuallererst entschlossen gegen die imperialistische Politik zu kämpfen, die sich von ihren jeweiligen Heimatländern ausbreitet. Wir verteidigen das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und erklären unsere Solidarität mit allen unterdrückten Völkern, insbesondere mit dem palästinensischen Volk sowie der kurdischen Befreiungsbewegung.
7. Wir betrachten den Faschismus als einen gemeinsamen Feind der Menschheit und das Wiederaufleben faschistischer und geschichtsrevisionistischer Tendenzen als eine Bedrohung für den Frieden und die Zukunft unserer Gesellschaften. Als Netzwerk stehen wir entschlossen an der Seite der Völker und der Jugend im antifaschistischen Kampf.
8. Wir betrachten die Jugend als den dynamischsten Teil einer jeden Gesellschaft und als Motor jeder Veränderung und die autonome Organisierung der Jugend, welche sich auf ihre eigene Kraft und ihren unabhängigen Willen stützt, als Garantie für die Vorreiterrolle der Jugend sowie als Schlüssel für die ständige Erneuerung unserer Kämpfe und Organisationen.
9. Wir stehen fest an der Seite aller Völker im Kampf und erklären unsere Solidarität mit den revolutionären Kämpfen in allen Ländern. Wir betrachten die befreiten und selbstverwalteten Gebiete dieser Welt, von den indigenen Regionen von Abya Yala über die autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, die freien Berge Kurdistans, die Hochburgen der Befreiungsbewegungen und antiimperialistischen Kämpfe in Asien sowie die Kämpfe für nationale Selbstbestimmung auf dem europäischen Kontinent und den andauernden Kampf gegen Kolonialismus und Neokolonialismus in Afrika, als Vorposten der freien Menschheit. Die Verteidigung der Errungenschaften der Kämpfe der letzten Jahrzehnte ist unsere gemeinsame Aufgabe.
10. Während die Herrschenden dieser Welt gemeinsam und koordiniert gegen unsere Kämpfe vorgehen, ihre Repressionsapparate Informationen austauschen und Oppositionelle und Revolutionäre über alle Ländergrenzen hinweg verfolgen, bleiben unsere Bewegungen und Kämpfe oft voneinander isoliert. Die Herrschenden sind weltweit koordiniert, deshalb sind wir auf globalen Zusammenhalt und internationale Solidarität angewiesen. Wo immer unsere Bewegungen angegriffen und verfolgt werden, werden wir uns gegenseitig unterstützen und den Rücken stärken. Gemeinsam werden wir uns für die Freiheit aller revolutionären Gefangenen einsetzen. Inmitten der weltweiten Kampagne für die Freiheit des Revolutionärs Abdullah Öcalan, die am 10. Oktober begonnen hat, erklären wir unsere Unterstützung für die Forderungen der Kampagne »Freiheit für Abdullah Öcalan – Eine politische Lösung für die kurdische Frage!«.
Unsere Kooperation und Zusammenarbeit wird auf den oben genannten Grundsätzen beruhen. Wir mögen unterschiedliche Denkweisen haben, wir mögen unterschiedliche Methoden, Arbeitsweisen und Traditionen in unseren Bewegungen haben. Wir unterscheiden uns in unseren Kulturen und Sprachen, einige von uns kommen aus großen Bewegungen, andere aus kleineren. Aber wir sehen unsere Unterschiede nicht als Hindernis an.
Stattdessen sehen wir diese Vielfalt als Reichtum und wollen auf dieser Grundlage gemeinsam diskutieren, voneinander lernen und unsere Kräfte bündeln. Unsere Unterschiede sind unsere Stärke, sie werden uns auf unserem gemeinsamen Weg nicht schwächen, sondern stärken. Unsere grundlegende Gemeinsamkeit ist unsere Ablehnung des Kapitalismus, unser Beharren auf der Menschlichkeit. Angesichts der globalen Krise, des sich immer weiter ausbreitenden Krieges, der ökologischen Katastrophe, der Versklavung der Frauen und eines Systems, das versucht, uns unseres Rechts auf eine würdige Zukunft zu berauben, müssen unsere Unterschiede und Widersprüche in den Hintergrund treten. Wir, die Jugend von heute, haben eine Verantwortung gegenüber der Geschichte, der wir gerecht werden müssen. Wir wollen nicht mehr auf das Morgen warten, wir wollen hier und jetzt ein freies Leben aufbauen. Und wir sind bereit, dafür zu kämpfen.
Diese Welt und die Menschheit brauchen eine Jugend, die willensstark und organisiert ist, an sich selbst glaubt und radikal ist. Die aktuellen Probleme werden nicht innerhalb des kapitalistischen Systems gelöst werden; die Suche nach Lösungen innerhalb des Käfigs des Kapitalismus bringt keinen Vorteil. Der Kapitalismus hat die Menschheit an den Rand des Abgrunds getrieben. Unser Überleben ist nur durch die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau eines anderen Lebens und einer anderen Welt möglich. Die Schlussfolgerungen, die wir aus der aktuellen Situation ziehen, zeigen sehr deutlich, dass wir uns zusammenschließen und schnellstmöglich eine organisierte Kraft werden müssen. Was wir brauchen, ist eine Einheit des Geistes und der Kraft unter jungen Menschen, die weltweit kämpfen. Wenn 1848 das Kommunistische Manifest, das noch heute Millionen von Menschen beeinflusst, rief: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, so wollen wir heute dieses Erbe aufgreifen und rufen:
»Junge Menschen aller Länder, vereinigt euch und verändert diese Welt!«
Paris, 5. November 2023
Erste Weltjugendkonferenz – Youth Writing History
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne
Teil 1: Aufstand der Bäuer:innen
Eine Reihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus | www.i-dk.org
Fenna Joken und Thomas Maier
Das Wissen über die Geschichte ist unsere Grundlage im Verständnis des heutigen historischen Zeitpunkts und lässt uns verstehen, wie eine radikal demokratische, geschlechterbefreite und ökologische Zukunft aufgebaut und verteidigt werden kann. Im Rahmen einer Artikelreihe im Kurdistan Report wollen wir aspektorientiert die letzten 500 Jahre der Angriffe auf die Gesellschaft darlegen und alte sowie neue Perspektiven auf das demokratische Potenzial in der deutschen Gesellschaft aufzeigen. Wir sind überzeugt, dass eine ganzheitliche historische Analyse Teil einer komplexen Veränderungsgrundlage sein wird, die uns in die Lage versetzt, die demokratische Moderne aufzubauen und damit der Zerstörung entgegenzuarbeiten, die die kapitalistische Moderne weltweit verursacht hat. Nach einer ersten Einführung in der letzten Ausgabe, widmen wir uns diesmal den Umständen des Aufstands von 1525 und dessen Niederschlagung.
Die dörflich-agrarische Gesellschaft
Wenn wir uns auf die Suche nach der demokratischen Zivilisation in Deutschland machen, ist unser Ausgangspunkt die Neolithische Revolution. Die Neolithische Revolution bedeutete hier in Europa wie schon in Mesopotamien nicht nur die Sesshaftwerdung der Sippen und Stämme und die Anfänge der landwirtschaftlichen Produktion. In dieser Epoche fand auch eine Gesellschaftswerdung statt, in der viele der Werte und Grundprinzipen, die die demokratische Zivilisation ausmachen, ihren Ursprung haben. Doch auch das Patriarchat entwickelte sich in dieser Zeit. Mit der Kolonisierung der Frau und der Natur wurden die Wurzeln der Klassengesellschaft gelegt. Die Wurzeln von Herrschaft, Macht und Unterdrückung. Doch die Werte der demokratischen Zivilisation bestanden und bestehen immer noch in dem demokratischen Fluss der gesellschaftlichen Geschichte. Der Geschichte von Unten. In diesem Fluss und der Tradition der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung und der Landwirtschaft, steht die dörflich-agrarische Gesellschaft. Sie bildet eine der Grundeinheiten der Gesellschaft, denn sie bietet die Möglichkeit zur Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung.
»Das Dorf ist kein rein physisches Phänomen, sondern auch eine der Hauptquellen der Kultur. Genauso wie die Familie bildet es eine der Grundeinheiten der Gesellschaft.
Der Angriff der Stadt, Industrie und Bourgeoisie als Klasse und Staat auf das Dorf ändert nichts an der Tatsache. Das Dorf ist als die geeignetste Einheit für die moralische und politische Gesellschaft von großer Wichtigkeit.«
Abdullah Öcalan
Das baldige 500-jährige Jubiläum der Bauernaufstände von 1525 haben wir als Anlass genommen, die Umbrüche, welche vor 500 Jahren stattfanden, zu erforschen, denn die Niederschlagung der Bauernaufstände fällt zeitgleich in den Beginn der kapitalistischen Moderne. Wir haben uns gefragt, inwiefern die Bauernaufstände mit anderen Entwicklungen jener Zeit zusammenhängen, vor allem der beginnenden Kolonisierung sowie der Hexenverfolgung. Wie haben diese Entwicklungen dazu beigetragen, dass sich die kapitalistische Moderne, aufbauend auf ihren drei Grundsäulen – dem Nationalstaat, dem Kapitalismus sowie dem Industrialismus – zum weltweit vorherrschenden System ausbreiten konnte?
Die Zeit vor dem Bauernaufstand von 1525
Im Mittelalter, also der Zeit vor dem 16. Jahrhundert, lebte der größte Teil der Gesellschaft auf dem Land. Die bäuerlichen Gemeinschaften mussten Abgaben, den sogenannten Zehnten, an die Herrschaft abgeben und waren dazu gezwungen Dienst an den Höfen der Kirche oder des Adels zu leisten. Doch in großen Teilen des Landes lebten die Menschen in ihren Dörfern kommunal und selbstverwaltet. Sie konnten über ihre eigenen Belange Recht sprechen und hatten außerdem das Recht ihr gemeinschaftliches Land, die Allmende, selbst zu verwalten. Die profitorientierte Geldwirtschaft hatte nur wenig Bedeutung für die Wirtschaftskreisläufe innerhalb der Dörfer. Auf den Versammlungsplätzen kamen die Menschen zusammen, um ihre alltäglichen Belange zu besprechen. Diese Markgenossenschaften, in denen sich die dörflich-agrarische Gesellschaft organisierte, waren nicht frei von Patriarchat und feudalen Herrschaftsstrukturen, aber in ihr existierten traditionelle Strukturen, die der Herrschaft der Feudalherren und der Anhäufung von Macht entgegenwirkten. Keine Ressourcen konnten von nur einer Person angehäuft werden, ohne den anderen Mitgliedern der Gemeinde Rechenschaft schuldig zu sein. Das Prinzip dieser Markgenossenschaften und Allmenden wird von Rosa Luxemburg als »Kommunismus an Grund und Boden« beschrieben:
»Man kann sich nichts Einfacheres und Harmonischeres zugleich vorstellen als dieses Wirtschaftssystem der alten germanischen Mark. Wie auf flacher Hand liegt hier der ganze Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens. Ein strenger Plan, eine stramme Organisation umfassen hier das Tun und Lassen jedes einzelnen und fügen ihn dem Ganzen als ein Teilchen bei. Die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens und ihre gleichmäßige Befriedigung für alle, das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt der ganzen Organisation.
Alle arbeiten gemeinsam für alle und bestimmen gemeinsam über alles. Woraus fließt aber und worauf gründet sich diese Organisation und die Macht der Gesamtheit über den einzelnen?
Es ist nichts anderes als der Kommunismus an Grund und Boden, das heißt gemeinsamer Besitz des wichtigsten Produktionsmittels durch die Arbeitenden.«
Rosa Luxemburg
Diese Realität wurde über das ganze Mittelalter hinweg immer wieder angegriffen. Doch trotz der starken Angriffe von Adel und Kirche, konnte sich die Gesellschaft gegen diese Angriffe verteidigen und ihr altes Recht auf Selbstverwaltung und Selbstversorgung in Anspruch nehmen, bis ein folgenreiches Ereignis das Ende der Markgenossenschaft einläutete.
Der Beginn der Kolonisierung
1492 wurde Amerika von den Europäern »entdeckt«. Der Reichtum, welcher der lokalen Bevölkerung fortan geraubt wurde, löste einen großen Konkurrenzdruck innerhalb der herrschenden Klassen Europas aus. Auch der Adel und die Kirche des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gerieten in die Abhängigkeit und Konkurrenz der aufsteigenden Handelsklasse. Deutsche Handelsfamilien, wie die Fugger und Welser investierten ab der ersten Stunde in den Kolonialismus. In der Folge versuchten Adel und Kirche den Bäuer:innen mehr und mehr abzupressen: die Abgaben stiegen, Land wurde privatisiert und die Markgenossenschaften schrittweise ausgehöhlt. Im Jahre 1495 wurde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die sogenannte Reichsreform durchgeführt. Diese beinhaltete zum ersten Mal eine allgemeine Steuer, welche in Geldleistungen erbracht werden musste. Außerdem wurde die Rechtsprechung zentralisiert, sodass den Dörfern ihre lokale Gerichtsbarkeit verloren ging. Die Steuer ermöglichte darüber hinaus die Finanzierung von Söldnerheeren. Es lässt sich also bereits erkennen, wie die Zuspitzung der Ausbeutung der bäuerlichen Gesellschaft in Verbindung zum Kolonialismus steht. Diesen Zusammenhang werden wir im nächsten Artikel der Reihe noch genauer untersuchen.
Der Bauernaufstand von 1525
Die Verschärfung der Ausbeutung führte zu einer Reihe von Volksaufständen. Oft waren sie lokal begrenzt, doch ihre schiere Anzahl ist beeindruckend. So sind die Bundschuh-Bewegung im Süden des Landes, die Gründung der Bauernrepublik in Dithmarschen, der Aufstand des »Armen Konrads« oder der Aufstand in Unterkrain, an dem 90.000 Bäuer:innen beteiligt waren, nur einige wenige Beispiele dieser Zeit. Sie wurden oft mit größter Brutalität niedergeschlagen, und die Herrschenden ließen ganze Landstriche veröden.
Doch 1525 gipfelten diese Aufstände in einem flächendeckenden Aufstand der Dörfer und Städte gegen die Herrschenden, gegen Fürsten und Bischöfe. Denn zu dieser Zeit wurden die Forderungen der Bäuer:innen zum ersten Mal gedruckt und fanden dadurch eine weite Verbreitung. 25.000 Exemplare der »Artikel von Memmingen« verbreiteten sich im ganzen Land und auch über die Ländergrenzen hinaus. In ihnen ließen die Vertreter der Bäuer:innen ihr Beharren auf das Alte Recht verkünden. Die Verbreitung dieser Artikel, die unter anderem die eigenständige Steuerverwaltung durch die Gemeinde, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Rückgabe der Allmenden forderten, führte dazu, dass sich in großen Teilen der Mitte und des Südens des Reiches bis zu 80% der Bevölkerung an den Aufständen beteiligten. Sie organisierten sich in regionalen Haufen: in Zusammenkünften von Bäuer:innen, Handwerker:innen und dem niederen Adel, die oft von ihren Dörfern und Städten gesandt waren. Sie griffen Burgen und Klöster an, denn ihr Ziel war die Zerstörung der Grundbucheinträge mit ihren Schuldausständen.
Die Herrschenden konnten diesen Aufständen kaum etwas entgegensetzen. Hinzu kam, dass die Söldnerheere des Reiches zu jener Zeit in einem Krieg in Italien gebunden waren. Außerdem gab es kaum Söldner im eigenem Land, die nicht auf der Seite der aufständischen Gesellschaft standen. So gingen die Fürsten in Verhandlungen mit den Bäuer:innen und versuchten durch Verträge und Zugeständnisse die Haufen voneinander zu spalten. Dies gelang ihnen auch teilweise, denn in den Haufen waren sowohl reformistische als auch revolutionäre Kräfte vereint. Viele Haufen wurden von Theolog:innen der häretischen Bewegungen begleitet oder angeführt, die den materiellen Kampf um das alte Recht auf einen Kampf der Ideologien und Interpretationen der Bibel ausweiteten. Einer der radikalsten Sprecher der Haufen war Thomas Müntzer aus dem heutigen Thüringen. Er vertrat aus freiheitlicher christlicher Überzeugung die Linie, dass Herrschaft Diebstahl sei und das Paradies nur durch das jüngste Gericht, das durch die Bäuer:innen selbst ausgeführt wird, erreicht werden könne.
»Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herren, nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigenthum, die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihre seyn. Aber den Armen sagen sie: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen.«
Thomas Müntzer
Die Niederschlagung
Nur langsam vergrößerte sich das Söldnerheer der adligen Bünde. Sobald sie aber sahen, dass ihre Söldnerheere genügend Aussichten auf eine Niederschlagung hatten, griffen sie unbarmherzig an und verfolgten die fliehenden Aufständischen gnadenlos. Sie ermordeten alle bis zur letzten Person und brandschatzten die Dörfer und Städte. Es wird berichtet, dass alleine im Frühling der Konfrontationen 1525 3% der Bevölkerung massakriert wurden. Die Herrschenden wollten ein neuerliches Aufkeimen des Widerstands unter allen Umständen verhindern. Deshalb statuierten sie Exempel überall, wo sie vorbeizogen. Unterstützer:innen des Aufstands wurden gefoltert und verstümmelt und Beteiligte hingerichtet. Außerdem wurden Versammlungen, das Betreiben von Wirtshäusern und jedwede Festlichkeit verboten. Das Land wiederum fiel in die Hände der Sieger und wurde privatisiert. Diese große Niederlage und das Ausmaß der Gewalt führte zu einer Totenstimmung, die das Ende der bäuerlichen Aufstände dieser Zeit bedeutete. Zwar gab es auch danach immer wieder Aufstände, aber die Erinnerungen an diese Zeit prägten sich tief in die Köpfe und Herzen der Gesellschaft ein.
Die Folgen
Damals begann hier im deutschsprachigen Raum, was wir als den Dreiklang der Spaltung bezeichnen können. Die Spaltung zwischen der Gesellschaft und ihrem Land, die Spaltung zwischen Individuum und Gesellschaft und schließlich die Spaltung zwischen dem Individuum und seinem Selbst. Die Niederschlagung der Aufstände bedeutete für die Menschen den Verlust von ihrem Land und der Allmende, es bedeutete den Verlust von Gemeinschaft und der Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Es macht begreiflich, was wir verloren haben und mit welcher Gewalt dieser Prozess vonstatten ging. Wenn wir an die Wurzel der Probleme unserer Zeit gehen, dann sehen wir die patriarchale Mentalität, die dieser Logik der Spaltung zugrunde liegt. Es ist die Spaltung, die für die Herrschenden notwendig war, um die Beziehungen, die ein freies Leben ermöglichen, zu zerstören. Eine Spaltung, die im weiteren Verlauf ihre Fortsetzung in der Versklavung und Kolonisierung, in der Hexenverfolgung und vielen weiteren Angriffen auf das gesellschaftliche Gefüge finden wird. Wenn die Zapat‑‑istas sagen, dass wir in Europa zwar genug Essen und Trinken haben, aber dass wir unsere Seele verkauft haben, meinen sie diesen Prozess. Sie meinen, dass wir uns von dem, was ein freies Leben ausmacht, entfremdet und abgespalten haben. Diese Spaltung zieht sich quer durch die Gesellschaft bis in unsere Köpfe und lässt uns von unserer Menschlichkeit entfremden.
Der ewige Fluss, der das Leben hervorbringt
Obwohl der Angriff vor fast 500 Jahren ein schwerer Schlag gegen die dörflich-agrarische Gesellschaft war, hat diese nie aufgehört zu existieren. Wir finden ihre Form der moralischen Ökonomie, der Selbstversorgung und der bedingungslosen Hilfe noch heute wieder. Noch heute erzählen uns Großeltern Geschichten und Märchen, in denen wir die Moral der dörflich-agrarischen Gesellschaft wiederfinden. Noch heute verteidigen Bäuer:innen ihr Land gegen Großgrundbesitzer und große Infrastruktur-Projekte. Noch heute finden wir die Liebe für die Vielfalt unserer Gesellschaft in den unzähligen Sprachen und Dialekten, die überall erklingen. Wir finden sie in der Solidarität für Geflüchtete, in der Bereitschaft zu helfen, wo es nötig ist. Noch heute können wir selbst in Städten das Potenzial zur Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung der Gesellschaft wiederentdecken.
Doch auch wenn der demokratische Fluss der Gesellschaft immer weiter existiert, können wir unsere Augen nicht vor dem verschließen, was die Freiheitsbewegung Kurdistans als die Zuspitzung der kapitalistischen Moderne bezeichnet. Wir befinden uns mitten in einem Chaos-Intervall, inmitten der Krise des Systems deren Ausgang noch nicht entschieden ist. Die Auswirkungen dessen, was vor 500 Jahren weltweit zum System wurde, bekommen wir jeden Tag stärker zu spüren. Wir erleben das, was Öcalan als Soziozid bezeichnet: den Untergang der dörflich-agrarischen Gesellschaft. Für diese Zuspitzung sind die letzten 50 Jahre von großer Bedeutung, und so wollen wir uns am Ende der Reihe noch einmal auf diese letzten 50 Jahre fokussieren und den Niedergang der dörflichen Lebensweise und seine Auswirkungen analysieren.
Das Leben verteidigen
2025 wird sich der große Aufstand der Bäuer:innen zum 500. Mal jähren. Die Artikel von Memmingen sind noch heute aktuell, und wie früher kämpfen wir um unser Land, um das alte Recht auf Selbstversorgung, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung und für das gute Leben. 2025 werden wir den Ruf der Aufständischen wieder ins Land tragen, werden wir den Toten unsere Stimme und Hände leihen und für die Artikel der Gesellschaft kämpfen, sowie sie es die letzten 500 Jahre getan haben. 500 Jahre kapitalistische Moderne sind genug. Die 500 Jahre der Entfremdung des Menschen von der Erde, von der Gesellschaft und schließlich von sich selbst, haben sich zur Unerträglichkeit entwickelt. Sie rufen nach dem Aufbau einer demokratischen Moderne. Ihr Aufbau, auf der Grundlage einer moralisch-politischen Gesellschaft, einer kommunalen, ökologischen und geschlechtergerechten Lebensweise, wird unsere Antwort sein. Die Kämpfe vor 500 Jahren sind uns dabei Vorbild, Wegweiser und Mahnung zugleich.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Interview mit Tekoşîna Anarşîst
Anarchist:innen in Rojava – Die Revolution ist ein Kampf für sich
Das Interview führte die Gruppe União Libertária
Die União Libertária (UL, Libertäre Union),1 eine Gruppe junger Libertärer in Portugal, traf sich mit Militanten von Tekoşîna Anarşîst (TA; Anarchistischer Kampf)2 aus Rojava im Nordosten Syriens zu einem Gespräch über die Überlegungen dieser anarchistischen Gruppe Freiwilliger zu Gerechtigkeit, Kunst, Religion und was es bedeutet, »Revolutionär:in« zu sein.
TA war nicht nur am schwierigen Kampf gegen die Kräfte des Islamischen Staates (IS) beteiligt, sondern fungiert derzeit auch als Sanitätseinheit, hilft bei landwirtschaftlichen Arbeiten und spielt eine erzieherische Rolle.3
Wir haben Berichte über die Arbeit von TA außerhalb der Kriegsfront gesehen, von medizinischer Unterstützung bis hin zu Bildung. Der zweite Punkt ist für uns von großem Interesse. Könntet ihr bitte ein wenig erläutern, wie ihr mit Aufklärungskampagnen vorgeht, nicht nur bei euch selbst, sondern auch bei den lokalen Gemeinden? Gibt es irgendwelche Lehren, die ihr über die Rolle (und den Prozess) der revolutionären Erziehung weitergeben möchtet? Inwiefern seht ihr Pädagogik nicht nur als ein Werkzeug, sondern auch als einen Raum innerhalb der Kämpfe, die ihr führen müsst?
Bildung ist das, was die Grundlagen einer neuen Gesellschaft schafft. Sie ist oft unser bestes Werkzeug, um uns und unsere Gemeinschaften zu verteidigen. Die Freiheitsbewegung Kurdistans legt sehr viel Wert auf Bildung, und das hat uns auch dazu gebracht, über unseren Ansatz nachzudenken. In Rojava ist es üblich, an mehrmonatigen Schulungen teilzunehmen, bei denen Militante aus verschiedenen Orten nichts anderes zu tun haben, als zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Das ist keine neue Praxis in Rojava, die kurdische Bewegung arbeitet schon seit Jahrzehnten an ihren Ausbildungsmethoden. Als wir an einigen dieser Schulungen teilgenommen haben, ist uns auch aufgefallen, wie sehr unser Verständnis von Bildung mit Schule, Universität und anderen staatlichen Systemen verbunden ist. Und wie sehr wir unsere eigenen Bildungsprogramme entwickeln sollten, die von unseren eigenen politischen Ansichten und Werten geprägt sind. Dabei kann die »Pädagogik der Unterdrückten« von Paulo Freire sehr wichtige Perspektiven aufzeigen.
Revolutionäre Bildung kann alles sein, was wir tun, wenn wir auf organisierte Weise daraus lernen. Geschlossene Bildungsgänge ermöglichen es uns, ein Thema zu vertiefen, z. B. die Philosophie und die politischen Ansichten von Abdullah Öcalan kennenzulernen, die Vorschläge von Machno oder Malatesta über den organisierten Anarchismus und die verschiedenen Versuche, ihn in die Praxis umzusetzen, zu studieren oder etwas über Erste Hilfe und medizinische Versorgung in Kriegssituationen zu lernen. Aber das muss auch mit der Praxis einhergehen, die oft die beste Ausbildung ist, wie zum Beispiel dann, wenn wir in der Gesellschaft mit unseren kurdischen, arabischen und anderen Genoss:innen arbeiten, wenn wir unsere Organisation Tag für Tag aufbauen oder wenn wir als Sanitäter:innen an der Front arbeiten. Die Theorie bringt Wissen und hilft, Verständnis und Vertrauen aufzubauen, aber es ist die praktische Arbeit, die unsere Erfahrung ausmacht.
Einiges an Wissen, das wir mit uns herumtragen, ist hier rar, und es ist wichtig, es zu kollektivieren. Wir haben kurdische, arabische und armenische Genoss:innen in Erster Hilfe und taktischer Feldversorgung geschult. Wir haben auch unser Wissen und unsere Erfahrungen untereinander ausgetauscht, manchmal in kurzen Seminarformaten, manchmal in längeren geschlossenen Schulungen. Dies half uns, unsere Kapazitäten und einen gemeinsamen Rahmen als Organisation aufzubauen, sowohl praktisch als auch ideologisch. Mit der Zeit haben sich unsere Methoden und Bildungssysteme immer mehr an unsere Bedürfnisse angepasst und spiegeln nicht nur wider, was wir lehren und lernen wollen, sondern auch, wie wir es tun wollen. Für einige Genoss:innen ist es hilfreich, mehrere Stunden lang ein Seminar zu lesen oder zu hören, für andere ist es besser, Dinge zu tun und in der Praxis zu lernen. Wir versuchen, dies im Auge zu behalten, aber auch uns selbst herauszufordern, indem wir z. B. Genoss:innen, die mit akademischen Bereichen vertrauter sind, ermutigen, an der Basis zu arbeiten, und indem wir die ideologische Entwicklung und theoretische Arbeiten mit denen vorantreiben, die mehr an der praktischen Arbeit orientiert sind.
In früheren Erklärungen habt ihr die Notwendigkeit für Revolutionär:innen diskutiert, sich von individualistischen, egoistischen Denkweisen zu lösen, ebenso wie von Fragen des Egos im Umgang mit Genoss:innen und der Organisation. Wie habt ihr es innerhalb von TA geschafft, mit solchen Denkweisen umzugehen? Wir kennen diese Auffassung, wonach sich Anarchismus und revolutionärer Kampf ständig auf einer schwierigen Linie zwischen Lebensstil und Bequemlichkeit bewegen, die es uns nicht erlaubt, sinnvolle Beziehungen auf dem Pfad zur Befreiung aufzubauen. Gibt es irgendwelche Lehren oder Warnungen aus euren eigenen Aktivitäten, die geteilt werden können?
Das ist eine sehr schwierige Frage, denn das ist eine der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen. Der Anarchismus hat immer über die Widersprüche zwischen einzelnen Militanten und der Notwendigkeit revolutionärer Organisationen diskutiert. Wir arbeiten daran, diese Punkte auszugleichen, denn wir sehen auf beiden Seiten sehr wichtige Argumente. Wie viele Anarchist:innen vor uns sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Organisation eine Notwendigkeit ist, nicht als Ziel an sich, sondern als Mittel zum Zweck. Wir akzeptieren keine unnötigen Hierarchien und schätzen die Individualität unserer Militanten, wobei wir uns oft auf die Idee beziehen, dass es »keine Organisation ohne Militante und keine Militanten ohne Organisation« gebe. Damit wollen wir auch auf die Bedeutung der individuellen Verantwortung gegenüber der Organisation sowie der kollektiven Verantwortung der Organisation gegenüber den Einzelnen hinweisen.
Militante:r in einer revolutionären Organisation zu werden, bringt individuelle und kollektive Widersprüche mit sich. Die wichtigsten Aspekte unserer Persönlichkeiten sind durch die Gesellschaften geprägt, in denen wir aufgewachsen sind. Das Leben in der kapitalistischen Moderne beruht auf der Individualisierung. In der Schule, am Arbeitsplatz, in den Medien, die wir konsumieren, wird uns gesagt, dass die individuelle Freiheit alles ist, was zählt. »Deine Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt«, das ist oft der Leitgedanke unserer Gesellschaften. Damit wird die kollektive Zugehörigkeit geleugnet, und es werden individualistische Denkweisen und Werte gefördert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der individualistische Anarchismus in den kapitalistischen Gesellschaften, aus denen wir kommen, gedeiht, denn er knüpft an die individualistischen Werte an, die der Liberalismus fördert. Wir wollen das in Frage stellen. Wir glauben, dass unser einziger Ausweg Solidarität und gegenseitige Hilfe ist, und dafür müssen wir den tief verwurzelten Individualismus, den wir alle in uns tragen, in Frage stellen.
Individualismus kann viele Formen annehmen. Einige sind offensichtlicher, wie Egoismus, Elitismus oder Narzissmus; aber subtilere Formen können mehr Zeit brauchen, um bemerkt zu werden, wie die Verweigerung von Hilfe, wenn sie gebraucht wird, das Nichtteilen von Informationen oder Wissen mit Genossen:innen, das Nichtzuhören oder das Nichtberücksichtigen von Vorschlägen und Ideen anderer. Wir alle haben Spuren von Individualismus, und sie sind oft mit unserem Ego und dem Bild verbunden, das wir von uns haben und projizieren. Um dies zu überwinden, müssen wir in der Lage sein, uns selbst und andere sowie unsere Art der Beziehung zu bewerten. Kritik und Selbstkritik gehen Hand in Hand, wir müssen in der Lage sein, unsere Unzulänglichkeiten anzuerkennen, um uns sinnvoll mit den Unzulänglichkeiten anderer auseinanderzusetzen. Uns selbst einzugestehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, wie wir uns selbst wahrnehmen/wie wir wahrgenommen werden wollen, und dem, wie andere uns wahrnehmen, kann schmerzhaft sein. Die Anerkennung dieser Diskrepanz eröffnet uns jedoch die Möglichkeit, uns weiterzuentwickeln. Jeder Mensch hat diese Kluft, bei manchen ist sie größer, bei manchen kleiner, und wenn wir sie in Frage stellen, können wir Raum schaffen, um zu wachsen und zu lernen. Wenn wir uns dies vor Augen halten, können wir bessere Beziehungen aufbauen, die auf Ehrlichkeit und Vertrauen beruhen.
Vertrauen ist in unserer Gesellschaft Mangelware. Es ist viel einfacher zu lernen, zu misstrauen, Angst vor den Nachbar:innen zu haben, auf den Kolleg:innen herumzutrampeln, um die Oberhand zu gewinnen und ein besseres Stück vom Kuchen zu bekommen. Der Kapitalismus beruht auf dem Wettbewerb, auf der Lüge und dem Selbstverkauf, auf der Gesellschaft des Spektakels. Es gibt keinen Platz für Ehrlichkeit und Vertrauen in einem System, das auf Leistung beruht, auf dem Anschein dessen, was man eigentlich nicht ist, auf dem Vortäuschen von Leistung und dem Glauben, es eines Tages zu schaffen. Ehrlichkeit und Transparenz gegenüber unseren Genoss:innen setzt Verletzlichkeit voraus. Uns wurde beigebracht, diese Dinge zu verbergen, anderen unsere Schwächen nicht zu zeigen, uns als die allwissende Person zu präsentieren, die alles tun kann, was nötig ist. All diese individualistischen Züge wirken gegen uns, besonders in schwierigen Momenten, wenn Stress und Schwierigkeiten die Dinge ans Licht bringen, die wir zu verbergen suchen.
Wir haben an diesen Themen gearbeitet, indem wir Instrumente wie Tekmîl4 und Plattform, die wir von der Freiheitsbewegung Kurdistans gelernt hatten, in die Praxis umgesetzt haben. Wir haben auch andere Methoden erforscht, und in letzter Zeit haben wir unser Wissen über Konfliktlösung mit Wiederherstellungskreisen und transformativer Gerechtigkeit vertieft. Transformative Gerechtigkeit bietet einen guten Ansatz, der mit unseren ideologischen Werten verbunden ist und sich an Themen wie Verantwortung und Rechenschaftspflicht orientiert, die immer die Grundlage unserer Organisierung sein sollten. Wir haben gelernt, dass Organisation ein Kampf in sich selbst ist und dass Widersprüche, Konflikte und Herausforderungen immer in unserer Organisation auftauchen werden. In Abwesenheit hierarchischer Strukturen ist die Art und Weise, wie wir Entscheidungen treffen und wie wir Konflikte lösen, ein sehr wichtiger Teil unserer Organisation.
Wie werden in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (AANES) zwischenmenschliche Konflikte im Allgemeinen gelöst? Wir haben mehrere abstrakte Perspektiven gesehen, aber nur wenige tatsächliche Berichte über die Prozesse der Gerechtigkeit und Gleichheit; wie werden solche Fragen behandelt? Haben die verschiedenen autonomen Gruppen die Freiheit, sie »intern« zu lösen? Sind alle Konfliktlösungen zentralisiert?
In der AANES sind derzeit zwei Rechtssysteme im Spiel. Eines, das der staatlichen Justiz ähnelt, und eines, das eher auf der kommunitären Justiz basiert. Das kommunitäre System besteht aus bäuerlichen Konsensausschüssen und lokalen Räten, die sich häufig aus religiösen Führern und Gemeindeältesten zusammensetzen. Diese ermutigen die Menschen, Verantwortung für ihre eigenen Probleme zu übernehmen und diese selbst in die Hand zu nehmen. Doch leider funktioniert dieses System nicht so gut. Deshalb werden viele Konflikte nach wie vor durch das staatsähnliche Rechtssystem gelöst, das zur Hälfte vom Al-Assad-Regime übernommen und zur Hälfte von der Autonomieverwaltung neu organisiert wurde. Es handelt sich um eine unglückliche Mischung, die mit den vorhandenen Mitteln in einer schwierigen Situation funktioniert. Die Anwält:innenvereinigung spielte eine wichtige Rolle, ebenso wie die Bemühungen, den AANES-»Gesellschaftsvertrag« zu verfassen, eine Art Verfassung, die alle paar Jahre in Gesprächen mit verschiedenen politischen und sozialen Organisationen überarbeitet wird.
Die Gründe, die die Autonomieverwaltung dazu veranlasst haben, sich mehr um die Neuordnung des allgemeinen Rechtssystems zu bemühen, anstatt die kommunalen Justizräte zu fördern, sind uns nicht ganz klar. Wir schlagen vor, sich direkt an den Justizausschuss der AANES zu wenden, der diese Frage sicher besser beantworten kann. Daneben gibt es noch die autonomen Frauenstrukturen wie die Frauenhäuser (mala jin) und das Frauenrecht. Diese spielten und spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von geschlechtsspezifischen Problemen und bei der Suche nach Lösungen für Familienkonflikte, die Frauen betreffen (Heirat, Scheidung, Missbrauch usw.).
Räte, Ausschüsse, Gemeinden und autonome Organisationen haben einen gewissen Spielraum, um Konflikte »intern« zu lösen. Wie genau vorgegangen und ob das staatliche Rechtssystem einbezogen wird, hängt von der Art und Größe des Konflikts sowie von den beteiligten Personen und Gruppen ab. Bei Verbrechen, die große soziale Auswirkungen haben, wie brutalen Morden oder organisiertem Verrat (Weitergabe von Informationen an die Türkei, die zur Ermordung von Revolutionär:innen verwendet werden, oder Unterstützung des IS bei der Planung und Durchführung von Anschlägen), gab es bereits Volksgerichtsverfahren. Bei diesen Prozessen kommen verschiedene Vertreter:innen der sozialen Gemeinschaft zusammen, insbesondere diejenigen, die von der zu verurteilenden Straftat stärker betroffen sind, und entscheiden als Volksgerichte über das Strafmaß.
Für unsere Organisation und für Organisationen in Europa halten wir es für wichtig, dass wir den Wert der transformativen Gerechtigkeit verstehen und dass wir Kapazitäten aufbauen, um Alternativen zum System der juristischen »Gerechtigkeit« anzubieten, das ein rassistischer, ableistischer Strafschwindel ist und eng mit der nationalstaatlichen Macht verbunden. Das Thema der transformativen Gerechtigkeit liegt in linken Kreisen in Europa schon seit einiger Zeit auf dem Tisch. Wir sehen, dass es jetzt langsam in eine praktischere Phase übergeht. Beginnen wir mit kleinen praktischen Anpassungen; sobald wir einige Erfahrungen aus dem täglichen Leben gesammelt haben, können und sollten wir sie mit etwas Lektüre/Studium/Theorie ergänzen. Konfliktlösung kann nicht aus Büchern gelernt werden, ihre Grundlagen können nur in der Praxis erlernt werden. Bücher werden sehr hilfreich sein, um uns zu verbessern, aber nur, wenn wir sie bereits in die Praxis umsetzen. Wir werden viele Fehler machen müssen, und das ist gut so. Wir müssen viel von den staatlich verordneten Systemen der »Gerechtigkeit« verlernen. Wir machen einen unvollkommenen Anfang, indem wir Instrumente wie Tekmîl, Wiederherstellungszirkel und autonome Frauenstrukturen nutzen, um darauf aufzubauen.
Wie steht es um die Kunst in Rojava und darum, sich selbst ausdrücken zu können? Gab es die Möglichkeit und den Raum für Menschen, ihre künstlerischen Kreationen aufzuführen, zu schaffen oder zu zeigen? Wie wird dies aufgenommen? Wie haben sich die wechselnden Facetten des Konflikts ausgewirkt?
Tevgera Çand û Hunera Demokratîk a Mezopotamya (TEV-ÇAND, die Organisation für Kunst und Kultur) ist eine Koordination aller Kunst- und Kulturzentren, die es in jeder Stadt gibt. Die meisten dieser Zentren haben verschiedene Sparten, wie Tanz, Musik, Theater, Kino, Malerei, Literatur, Bildhauerei usw. Sie fördern vor allem die Kunst im Zusammenhang mit der kurdischen Kultur, Sprache und Identität. Jede ethnische Gruppe wird ermutigt, ihre eigene traditionelle Kunst und Kultur zu fördern und gleichzeitig Raum für andere Kunstformen außerhalb der folkloristischen Tradition zu schaffen. TEV-ÇAND verfolgt einen politischen Ansatz in Bezug auf die Kunst und betrachtet sie als ein Mittel, um die Werte der Revolution zu vermitteln und zu verbreiten. Einige erfolgreiche Beispiele sind Hunergeha Welat5 – mit ihrem YouTube-Kanal, auf dem neue Lieder und Videoclips aus Rojava veröffentlicht werden – oder die Komîna Fîlm a Rojava6 – die Kinokommune, die mehrere Filme, Kurzfilme und Clips produziert hat. Letztere veröffentlichte kürzlich eine Serie über Rojava mit dem Titel »Evîna Kurd« (Kurdische Liebe).
Die lokalen Gruppen treten oft bei lokalen Feiern, an Festtagen und bei anderen kulturellen Veranstaltungen auf. In den letzten Jahren haben einige dieser Gruppen und Künstler:innen an Erfahrung gewonnen und sind professioneller geworden, und wir sehen ihre Kunst in verschiedenen Theatern, Ausstellungen und Veranstaltungen. Kunst wird als volkstümlicher und kultureller Reichtum angesehen, und es gibt keinen Prozess der Kommerzialisierung in diesem Bereich. Theater, Kino und Musik werden kostenlos aufgeführt und weitergegeben, und wir haben noch nie eine kulturelle Veranstaltung mit Eintrittspreisen gesehen. Dies ist Teil des politischen Ansatzes für Ethik und Ästhetik, der gefördert wird. Um es kurz zu machen, können wir einfach auf die Bemühungen hinweisen, Ästhetik mit politischen und ethischen revolutionären Werten zu verbinden. Dieser Ansatz stellt die Schönheitsnormen in Frage, die die kapitalistische Moderne aufzuerlegen versucht, und betrachtet die Kunst als Ausdrucksmittel der Menschen, der Gesellschaft und ihrer Werte. Viele Kunstwerke sind mit dem Widerstand gegen den IS und den türkischen Faschismus verbunden, mit besonderem Augenmerk auf dem Widerstand der Frauen und der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), aber auch mit den historischen Wurzeln und Kämpfen des kurdischen Volkes.
In dieser Herangehensweise an die Kunst können wir einen Wandel erkennen, den die Revolution mit sich brachte und der vielleicht schon vor Rojava begann. Das kurdische Kino des 20. Jahrhunderts ist oft tragisch und handelt von den Massakern und dem Exil, die das kurdische Volk erlitten hat. Auch Dengbêj, eine Art traditioneller Lieder/Gedichte, ist durchdrungen von Geschichten über zerstörte Dörfer, ermordete Familien und verwaiste Kinder. In diesem neuen Jahrhundert hat die kurdische Kunst begonnen, ein neues Bild zu zeichnen. Eines, das die Kurd:innen nicht nur als Opfer unmenschlicher Tragödien, sondern auch als Akteur:innen des Wandels darstellt. Die Lieder der YPG und YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten), die den IS besiegen, oder der in den Bergen kämpfenden Guerillas, die neuen Filme über den Widerstand in Sûr oder in Kobanê, die großen Feiern zu Newroz (dem kurdischen Neujahr) sind Beispiele für eine Wiedergeburt des kurdischen Volkes und seinen Willen zum Widerstand. Sie sind nicht nur ein Volk, dessen Glaube leidet, sie sind ein staatenloses Volk, dessen Land besetzt worden ist und dessen Dörfer niedergebrannt wurden. Sie haben aus anderen antikolonialen Kämpfen und aus revolutionären Bewegungen der nationalen Befreiung gelernt und werden ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie werden ihr Land und ihre Kultur verteidigen und eine Zukunft für die nächsten Generationen aufbauen, mit Waffen, aber auch mit Musik, Tanz und Kino.
Was ist die Ansicht von TA über die Rolle der Religion und wie hat dies eure Fähigkeit beeinflusst, Verbindungen und Beziehungen zu lokalen Gemeinschaften herzustellen? Gab es Herausforderungen oder Veränderungen in der Haltung der Militanten? Im Westen kämpfen wir damit, Antiklerikalismus [Position gegen die Eliten der religiösen Institution; Anm. d. Red.] von grundlegender Islamophobie und Eurozentrismus zu trennen. Welche Lehren habt ihr aus eurem Einsatz in kurdischen und arabischen Gesellschaften gezogen?
Religion ist für uns nicht das Problem, wenn sie mit den Menschen und der Ethik verbunden ist, sondern wenn sie mit Macht und Herrschaft verbunden ist. Es ist diese Machtausübung, gegen die wir sind, was ihr auch mit dem Antiklerikalismus ansprecht. Einige Anarchist:innen kamen mit einem atheistischen Hintergrund hierher, und wenn wir nach unserer Religion gefragt werden, ist es für uns einfach zu antworten, dass wir keine Religion haben. Aber diese Antwort wird oft so verstanden, als ob wir keine Ethik hätten, und das hat uns auch zum Nachdenken darüber gebracht, dass die meisten von uns, auch wenn sie keine praktizierenden Christ:innen sind, in einer christlichen Kultur aufgewachsen sind.
Wir geben euch recht, dass wir im Westen schlecht darin sind, Antiklerikalismus von Islamophobie und Eurozentrismus zu trennen. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist mehrheitlich muslimisch (mit kleinen Minderheiten anderen Glaubens), fast jede:r glaubt an den Koran, auch wenn sich nicht jede:r als praktizierende:r Muslim:a bezeichnet. Diese Realität bildet die Grundlage für unsere Arbeit mit den Menschen hier. Wir sollten verstehen, welche Bedeutung die Religion für die Menschen und die einheimischen Genoss:innen hat. Es ist sehr hilfreich, ein wenig oder viel über den Islam zu wissen, wenn wir mit den lokalen Genoss:innen diskutieren. Mit der Religion für eine revolutionäre Perspektive zu argumentieren, ist eine Taktik, die sich als erfolgreich erwiesen hat. Es ist notwendig, die religiöse Überzeugung der Menschen zu respektieren, aber gleichzeitig kritisieren oder hinterfragen wir die Genoss:innen, wenn sie dadurch zu Handlungen verleitet werden, die nicht im Einklang mit den revolutionären Werten stehen. Es gibt Bestrebungen, einen demokratischen Islam aufzubauen, der sich mit der ethischen Seite der islamischen Religion befasst und nicht so sehr mit der Scharia. Dies ist ein notwendiger Prozess, um mit den Folgen des islamistischen Fundamentalismus fertigzuwerden, der vom IS als theokratischer Faschismus ausgeübt wird. Auch wenn es von außen so aussieht, als gebe es den IS nicht mehr, geht der Kampf gegen ihre Ideologie hier weiter. In einigen Regionen der AANES ist die IS-Ideologie immer noch weit verbreitet, und es wird Zeit und Mühe kosten, bis sich alle auf einen demokratischen Islam zubewegen.
Anarchistische und so genannte revolutionäre Bewegungen in Europa haben jahrzehntelang darum gerungen, etwas zu finden, das unsere eigenen Schwächen und unsere Kleinheit überwinden kann, indem sie sich mit alten und neuen Methoden auseinandergesetzt haben. Was ist eure Perspektive dazu? Stimmt ihr dem zu oder habt ihr das Gefühl, dass sich die Bewegungen selbst beschränken, und wenn ja, warum? Fehlender Einsatz von aufständischer Gewalt, fehlende Strukturen zur Führung des Kampfes, fehlende Ressourcen, fehlende Überzeugung?
Dies ist ein sehr wichtiger Punkt und eine sehr wichtige Frage, die ihr hier aufwerft. Wir stimmen zu, dass sich die Bewegungen selbst einschränken. Wir sehen das Problem im Kern darin, dass es an Organisationen mangelt, die langfristige Zielperspektiven schaffen und fördern können, da wir derzeit hauptsächlich auf Sympathie basierende Gruppen mit kurzfristigem Denken sehen.
Die Welle des Aufstands in den 90er Jahren, besonders in Italien, brachte eine kurzfristige Kampfperspektive, die die Effektivität zu fördern schien. In gewisser Weise hat das funktioniert, allerdings um den Preis, dass die Organisierungsfähigkeit untergraben wurde. Organisierungsfähigkeit ist entscheidend. Indem wir eine Organisation wurden, haben wir als TA nun die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, wir müssen nicht ständig neu anfangen. Wir können auch dauerhafte Projekte und Beziehungen aufbauen, wir können unser Verständnis vertiefen und von anderen Organisationen lernen, die sich abgemüht haben und abmühen. Nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf organisatorischer Ebene. Das bedeutet, dass dieses Wissen und diese Erfahrungen nicht mehr nur an eine Person, eine Zelle oder eine Gruppe gebunden sind, sondern dass sich die gesamte Organisation damit befasst. Dadurch wird unsere Kapazität als Organisation erheblich gesteigert.
Es ist nicht einfach, sich als revolutionäre Organisation zu entwickeln, darüber haben wir bereits gesprochen. Wir müssen mit der liberalen individualistischen Denkweise brechen, die so tief mit der kapitalistischen Sozialisation verwurzelt ist. Unsere Gesellschaften sind um diese kapitalistischen Werte herum organisiert, und um sie zu verändern, müssen wir unsere eigenen Werte und sozialen Institutionen entwickeln, um die Gesellschaft, die wir wollen, vorwegzunehmen. Die Dinge, die ihr erwähnt, die in anarchistischen Bewegungen fehlen (Strukturen, um den Kampf zu lenken, Ressourcen, Überzeugung, Aktion), können oft mit dem Mangel an Organisierung zusammenhängen. Wenn wir isoliert sind, als Einzelpersonen oder in kleinen Gruppen, nimmt unsere Fähigkeit ab, die Gesellschaft um uns herum zu beeinflussen und zu verändern. So, wie wir viele Dinge in Rojava lernen können, gibt es auch viele Lektionen, die wir von den anarchistischen Organisationen in Lateinamerika übernehmen können. Die Ideen des »especifismo«, eines theoretischen Rahmens, der auf die Entwicklung spezifischer anarchistischer Organisationen ausgerichtet ist, sind das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe. Wir können sie bis zu den plattformistischen Vorschlägen von Pjotr Arschinow und Nestor Machno zurückverfolgen, die jedoch in der Praxis von der Federación Anarquista Uruguaya (FAU) entwickelt wurden. Als portugiesische Anarchist:innen habt ihr leichten Zugang zu den Materialien und Texten, die von brasilianischen anarchistischen Organisationen entwickelt wurden.
Kürzlich gab es Kritik daran, dass sich die westliche Linke auf die entstehenden anarchistischen Bewegungen in der Ukraine konzentriert habe und ihnen Ressourcen habe zukommen lassen. Diese Bewegungen ohne echte autonome Strukturen und eingebettet in staatlich gelenkte Armeen haben großzügige Unterstützung und Mittel erhalten, während nichtweiße Bewegungen um einen Bruchteil dieser Unterstützung kämpfen mussten. Stimmt ihr mit dieser Kritik überein?
Wir nehmen an, ihr bezieht euch auf den Artikel »Anarchist who Fought in Rojava: Response to ›No War But Class War‹ Debate«, der auf Abolition Media zu finden ist.7 Wir stimmen mit dem Artikel überein, dass der Umfang der Ressourcen, die von westlichen Linken in die Ukraine geschickt wurden, in keinem Verhältnis zu der Menge an materieller Unterstützung steht, die die Genoss:innen in Nordostsyrien erhalten haben, vor allem wenn man bedenkt, dass die Revolution hier so explizit in der libertären revolutionären Ideologie und Praxis verwurzelt ist, während dies für die Ukraine eher fraglich ist, wie der Artikel hervorhebt. »Solidarität ist etwas, das man in den Händen halten kann« – ein Slogan, der von der antiimperialistischen Gruppe KAK, die in den 70er Jahren in Dänemark aktiv war,8 populär gemacht wurde –, ist eine Aussage, in der wir uns sehr gut wiederfinden können. Während die AANES eine ganze Reihe von Solidaritätsbildern, Sensibilisierungskampagnen, diplomatischen Kampagnen usw. als materielle, finanzielle oder sonstige Unterstützung erhalten hat, die wir »in Händen halten« können, hat die westliche Linke sich nicht ernsthaft darum bemüht.
Abgesehen davon dauert der Krieg in der Ukraine seit etwas mehr als einem Jahr an, der Krieg in Rojava seit über zehn Jahren. Natürlich haben diese Zeitspannen auch eine Auswirkung. Die Ukraine ist in den Nachrichten und wir nicht, und wir werden es auch nicht sein, bis zu einer neuen Invasion, und selbst dann werden wir nur einen Bruchteil der Medienaufmerksamkeit erhalten, die die Ukraine bekommt. Wenn wir über die Ukraine und Rojava hinausblicken, fragen wir uns: Wer hat sich den völkermörderischen Krieg in Tigray oder den jüngsten Krieg im Sudan angesehen? Wer hat die materielle Unterstützung für diese Konflikte organisiert? Die Selbstverteidigungskräfte des Volkes von Tigray haben eine lange revolutionäre Tradition mit einem Projekt, das den Ideen des Demokratischen Konföderalismus ähnelt. Im Sudan haben wir vor kurzem eine militärische Eskalation erlebt, nachdem große Mobilisierungen und Aufstände das Land erschüttert hatten, das über eine bemerkenswerte und für die meisten afrikanischen Länder ungewöhnliche anarchistische organisierte Bewegung verfügte. Aber es werden nur wenige Artikel darüber geschrieben und noch weniger anarchistische Bücher über diese Konflikte diskutiert. Es ist auch nicht fair, dass diese Bewegungen wenig bis gar keine Medienberichterstattung, geschweige denn materielle Unterstützung erhielten. Das ist ein Teil des Kolonialismus, den wir zu bekämpfen versuchen. Für uns ist das auch ein Grund, bei Rojava zu bleiben, wo die Werte des Antikolonialismus sehr lebendig sind.
Um auf die Ukraine zurückzukommen: Anarchist:innen haben seit Beginn des jüngsten Konflikts gekämpft, sie waren auf dem Maidan-Platz und versuchten, sich dort zu organisieren. Wahrscheinlich ist dies nicht der richtige Ort, um darüber zu diskutieren, wie sehr diese Bewegung in der historischen anarchistischen Bewegung in der Ukraine verwurzelt ist, mit der Schwarzen Armee zur Befreiung der Bäuer:innen und der Machno-Revolution, aber heutzutage ist die Präsenz von Anarchist:innen entscheidend, um das nationalistische Narrativ der Rechtsextremen in Frage zu stellen, das von Anfang an eine dominierende Präsenz bei den Protesten in der Ukraine hatte. Wir haben als Anarchist:innen die Verantwortung, in solchen Zeiten unseren Platz einzunehmen, wir können nicht den Rechtsextremen den ganzen Raum überlassen, denn wenn wir das tun, werden sie ihn sich nehmen. Nun ist die aktuelle Situation in der Ukraine keine Revolution, die mit unseren Prinzipien übereinstimmt, aber es ist unsere Aufgabe, unsere Prinzipien in den Vordergrund zu stellen und sie bekannt zu machen. Wir können Malatesta zitieren: »Wir sind auf jeden Fall eine der Kräfte, die in der Gesellschaft wirken, und die Geschichte wird, wie immer, in den Richtungen fortschreiten, die sich aus allen Kräften ergeben.«
Historisch gesehen stehen Krieg und Revolution in einem wichtigen Zusammenhang. Ein Kriegsumfeld führt an manchen Orten dazu, dass die staatliche Autorität ins Wanken gerät und die Autorität zerfällt. Der Staat ist nicht mehr immer da, um den Menschen Infrastruktur und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet, dass es oft Gelegenheiten gibt, den Menschen bei der Selbstorganisation und Verwaltung zu helfen, zunächst vor allem im Sinne der gegenseitigen Hilfe und Solidarität. Dies ist eine Situation, in der es nützlich sein kann, unsere Ideologie unter die Leute zu bringen und in die Praxis umzusetzen, um unsere Tendenz zu stärken, wie Malatesta sagt.
Wir unterstützen unsere anarchistischen Genoss:innen, die in der Ukraine kämpfen, wir verfolgen einen Ansatz der kritischen Solidarität mit dem Volk der Ukraine und wollen uns mit den Widersprüchen auseinandersetzen, die er aufwirft, und nicht in einen binären und dogmatischen Ansatz verfallen. Wir möchten eure Aufmerksamkeit auch auf die Genossen Leschiy und Çîya lenken, die beide Zeit in der AANES verbracht haben und zusammen mit anderen anarchistischen Genoss:innen an der ukrainischen Front gefallen sind. Wir trauern um diesen Verlust und wollen aus ihrem Leben und ihren Entscheidungen lernen. Sie zeigen uns auch einen Weg der differenzierten Analyse und Überlegung, der Raum für die Widersprüche lässt, die unweigerlich auftauchen, wenn wir uns in der Revolution die Hände schmutzig machen. Wir stimmen mit dem Genossen oder der Genossin überein, der/die den Artikel geschrieben hat, dass es sehr einfach ist, von einem bequemen Sessel aus puristisch die in der Ukraine und in Rojava getroffenen Entscheidungen zu bewerten. Durch die Teilnahme an einer tatsächlichen Revolution oder einem bewaffneten Konflikt wird schnell klar, dass es oft keine »sauberen« oder klaren Lösungen gibt und dass ein:e Revolutionär:in in Taten und nicht nur in Worten zu sein bedeutet, ein tieferes Verständnis für differenzierte Analysen und Widersprüche zu erlangen.
Wie können wir euch bei TA unterstützen, materiell oder anderweitig?
Die wichtigsten Punkte, bei denen wir uns eure Hilfe vorstellen können, sind: a) ideologische Entwicklung, b) engagiertes Netzwerk, c) Widerstand gegen Repression, d) Militante, e) Ressourcen.
a) Die ideologische Entwicklung des anarchistischen Kampfes ist die Grundlage für unser Vorankommen. Wir sehen, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir als europäische Anarchist:innen erkannt haben, dass eine Organisierung auf der Basis von Affinität allein nicht ausreicht. Wir brauchen anarchistische Organisationen oder Strukturen, die uns nicht nur aufgrund persönlicher Affinität, sondern auf organisierte Weise zusammenhalten, um langfristig denken und eine umfassendere Strategie entwickeln zu können. Indem wir die anarchistische Ideologie und Praxis in unserem aktuellen Kontext weiterentwickeln, stärken wir uns gegenseitig.
b) Engagierte Netzwerke sind eine Grundlage für den Austausch von Diskussionen, Projekten, Ressourcen und Erfahrungen. Wir sehen dies im Aufbau langfristiger Beziehungen zu soliden Organisationen, und ein solcher Austausch kann durch Besuche und den Austausch von Militanten sowie andere Formen der Kommunikation erfolgen. Bezogen auf den Punkt der ideologischen Entwicklung umfasst dies das gegenseitige Lesen und Besprechen von Stellungnahmen und Briefen, das Lernen aus den Erfahrungen der anderen und das Geben von Rückmeldungen, Vorschlägen und Kritik dazu.
c) Netzwerke führen auch zum Widerstand gegen Repression. In den vergangenen Jahren wurden Militante, die in Rojava waren, und die kurdische Bewegung im Allgemeinen zunehmend kriminalisiert. Nicht wenige Genoss:innen sitzen im Gefängnis oder haben andere rechtliche Probleme. Wir brauchen überall Anarchist:innen, die sich gegen diese Kriminalisierung wehren.
d) Wir brauchen mehr Militante, die sich uns in Rojava anschließen, um hier zu kämpfen und zu entwickeln. Es besteht auch die Möglichkeit für Genoss:innen, die bereits in Europa organisiert sind, sich uns hier anzuschließen und gleichzeitig mit ihrer europäischen Organisation verbunden zu bleiben. Wir würden das sogar sehr begrüßen. Wir sehen darin einen möglichen Weg, die Beziehungen zwischen unserer Organisation und anarchistischen Organisationen in Europa zu stärken.
e) Was Material konkret betrifft, so brauchen wir Geld. Da sich von Zeit zu Zeit ändert, welche Materialien wir genau benötigen, kann ihr direktes Verschicken etwas schwierig sein. Wir können jedoch darüber sprechen, wenn der Wunsch besteht, so etwas zu tun. Wenn wir Geld direkt zur Verfügung haben, können wir es den dringendsten Bedürfnissen zuweisen und bei Bedarf in jeder sich ändernden Situation Anpassungen vornehmen.
2https://tekosinaanarsist.noblogs.org/
3Quelle: UL-Interview, übersetzt aus dem englischen Original von Batata Pala (AGZK; https://www.instagram.com/agzk038), veröffentlicht in der vierteljährlich erscheinenden portugiesischen Zeitung MAPA
(https://www.jornalmapa.pt/2023/09/23/anarquistas-em-rojava-a-
revolucao-e-uma-luta-em-si-mesma) und auf der Website der UL.
4Tekmîl ist der kurdische Begriff für eine Form von Selbstkritik und Kritik. Es ist eines der wichtigsten Werkzeuge der kurdischen Bewegung in ihrer Art und Weise der Organisierung. Jede:r hat am Ende von Versammlungen, Aktionen usw. die Möglichkeit zu analysieren, zu kritisieren und sich selbst zu kritisieren, damit sich jede:r individuell und kollektiv aus einer revolutionären Perspektive heraus weiterentwickeln kann.
5https://www.youtube.com/c/HunergehaWelat
6https://www.youtube.com/@kominafilmrojava5677
7https://abolitionmedia.noblogs.org/post/2022/04/18/anarchist-who-fought-in-rojava-response-to-no-war-but-class-war-debate
Der Autor des fraglichen Artikels vom 18. April 2022 beginnt mit den Worten: »Ich verließ Rojava vor nun fast drei Jahren und bis jetzt habe ich entschieden zu schweigen und das Schreiben denen zu überlassen, die lieber reden als handeln. Ich habe zugesehen, wie die Ukrainer:innen innerhalb des westlichen anarchistischen Milieus mehr Unterstützung erhalten haben, als die Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Êzîd:innen und andere sich jemals hätten vorstellen können.«
8»Kommunistisk Arbejdskreds« (Kommunistischer Arbeitskreis, KAK), 1963–1978; der Fokus seiner Arbeit lag auf der internationalen Solidarität mit unterdrückten Völkern, besonders durch die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«, u. a. auch mit erbeutetem Geld aus bewaffneten Banküberfällen. Er hatte engere Kontakte zur palästinensischen PFLP.
Die Stiftung der freien Frau in Syrien WJAS organisiert Bildung in al-Hol
Besuch im Camp al-Hol
Bericht einer Frauendelegation
Im September 2023 besuchte eine Frauendelegation aus Deutschland Projekte der Frauenstiftung WJAS (Weqfa Jina Azad a Sûrî) in Nord- und Ostsyrien1, darunter das Bildungsprojekt für Frauen in al-Hol.
Unser Besuch des al-Hol Camps war wohl der emotional am stärksten herausfordernde. Al-Hol ist ein trostloser Ort, an dem Tausende von Frauen und Kindern untergebracht sind, die keine Zukunftsperspektive haben. So verwundert es nicht, dass der IS im Camp fest verankert ist und es gar als Kaderschmiede für zukünftige Kämpfer betrachtet. Aber auch hier gibt es ein Pflänzchen der Hoffnung. Im Bildungszentrum der Frauenstiftung haben wir fröhliche Gesichter junger Frauen gesehen, die trotz der Bedingungen im Camp Hoffnung haben und dem tristen Lageralltag mit Hilfe der Bildungsarbeit der Frauenstiftung etwas entgegensetzen.
Das Camp al-Hol war ursprünglich für 20.000 geflüchtete Iraker:innen des Golfkriegs von 1991 geplant und wurde später auf eine Kapazität von 40.000 Geflüchteten erweitert. Als der IS 2014 in Syrien und Irak ein großes Gebiet besetzte, kamen Menschen ins Camp, die vor dem IS geflohen waren. Als der IS 2019 von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD2) geschlagen wurde, wurden viele Frauen und Kinder aus den befreiten Gebieten ins Camp gebracht. Heute sind ca. 50.000 Menschen im Camp untergebracht, ca. 25.000 Iraker:innen, ca. 18.000 Syrer:innen und ca. 7.500 Staatsangehörige aus Drittländern.
Im Camp leben also IS-Unterstützer:innen und IS-Angehörige, darunter auch die aus Drittstaaten, die in einem eigenen Bereich untergebracht sind, den sie nicht verlassen dürfen und der von anderen Camp-Bewohner:innen nicht betreten werden darf. Daneben leben im Camp aber auch Menschen, die vor dem IS geflohen sind, Menschen, die jahrelang unter der IS-Herrschaft gelebt (und gelitten) haben sowie noch einige der ursprünglich untergebrachten Iraker:innen aus dem Golfkrieg. Man kann also nicht davon sprechen, dass in al-Hol 50.000 IS-Familien leben; vielmehr ist es notwendig zu differenzieren, denn die IS-Angehörigen, die im Camp leben – Frauen, Mädchen und Jungen –, stellen eine große Bedrohung für die anderen Gruppen dar. In Gesprächen mit Mitarbeiterinnen der Frauenstiftung und Frauen aus dem Camp wurde uns berichtet, dass die IS-Frauen im Camp für den IS mobilisieren. Frauen, die vor der IS-Herrschaft geflohen sind, sehen sich hier mit Frauen konfrontiert, die sie zum IS »bekehren« wollen, sie bedrohen und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Die Situation war und ist für die im Camp lebenden Frauen und Kinder sehr belastend und auch gefährlich, da die IS-Frauen, als sie ins Camp kamen, sofort angefangen haben ihre IS-Strukturen aufzubauen und die anderen Frauen ideologisch zu beeinflussen. Auch heute noch werden Frauen unter Druck gesetzt sich der Ideologie anzuschließen, müssen Kinder an den IS abgeben, oder werden selbst verkauft. Im Camp leben, bis auf einige ältere Männer, hauptsächlich Frauen und Kinder, aber auch männliche Jugendliche, die im Alter von 15/16 Jahren von den Frauen als Männer angesehen werden. Eine Kursteilnehmerin im Stiftungshaus hat uns z.B. berichtet, dass sie vor diesen Männern Angst hat. Eine andere sagte, dass es viel Gewalt in den Zelten gibt und Frauen manchmal nachts aus Angst vor Gewalt nicht schlafen. Sie selbst ist allein mit ihren Kindern und hat Angst, dass ihre Nachbar:innen sie und ihre Kinder nachts umbringen.
Die Selbstverwaltung übernimmt Verantwortung
Die Situation im Camp ist aus humanitärer und sicherheitstechnischer Sicht extrem schwierig. Die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien (AANES) übernimmt Verantwortung für das Camp, aber sie hat dafür nicht annähernd ausreichende Ressourcen. Sicherheitskräfte der QSD bewachen den Ein- und Ausgang des Camps, patrouillieren im Camp und führen Razzien durch. Dies konnte aber nicht verhindern, dass sich im Camp Bereiche gebildet haben, in denen der IS das Sagen hat. Der IS sendet auch Waffen und Geld an seine Unterstützer:innen im Camp und versucht Unterstützer:innen herauszuschmuggeln. Bei Durchsuchungen des Camps wurden Tunnel, Gräben und Waffen, aber auch Unterrichtsmaterial gefunden. Es ist schon länger bekannt, dass Jugendliche in den Trakt geschleust werden und mit besonders radikalisierten IS-Frauen Kinder zeugen.
Die Autonome Administration hat Schulen im Camp aufgebaut, aber die IS-Frauen schicken ihre Kinder nicht in diese Schulen. Sie unterrichten ihre Kinder heimlich im Zelt mit den eingeschmuggelten Unterrichtsmaterialien, um sie in der IS-Ideologie zu erziehen und von anderen, demokratischen Einflüssen, fernzuhalten. Die Indoktrination der Kinder und die Tatsache, dass sie der IS als potentielle nächste Generation sieht, macht al-Hol zu einem der gefährlichsten Orte weltweit. Es besteht durchaus die Gefahr eines Angriffs des IS auf das Camp, um diese Kinder zu befreien und zu Kämpfern auszubilden.
Internationale Verantwortung
Vor dieser Gefahr darf die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere auch Deutschland, nicht die Augen verschließen. Wenn ein weiteres Erstarken des IS verhindert werden soll, benötigt die Selbstverwaltung internationale Unterstützung, um die Sicherheit des Camps, sowohl für die im Camp lebenden Menschen, als auch zum Schutz der Region vor Ausbrüchen zu gewährleisten. Es bedarf außerdem wirksamer Resozialisierungsprogramme und Hilfe zur Eingliederung für diejenigen, die nicht dem IS angehören.
Die einzige langfristige Lösung ist aber, die Menschen in ihre Ursprungsländer zurückzuführen. Darüber gibt es ein weitreichendes Übereinkommen. Der Syrische Demokratische Rat hat z.B. 2020 entschieden, dass alle Syrer:innen frei sind das Camp zu verlassen und erkennt damit an, dass nicht alle Syrer:innen dem IS ideologisch verbunden waren. In der Praxis ist dies aber schwierig. Viele der Frauen haben Angst in ihre Kommunen zurückzukehren, da ihnen das Stigma einer Insassin von al-Hol anhaftet. Und dann gibt es auch noch das Problem der Identitätsnachweise: Wenn Syrer:innen das Camp verlassen möchten, brauchen sie Identitätsnachweise und müssen sich registrieren. Viele besitzen aber keine solchen Nachweise, weil sie in den Kriegsjahren durch Vertreibung verloren gegangen sind oder nicht mitgenommen wurden.
Für die Iraker:innen im Camp gibt es Ansätze der irakischen Regierung zur Rückführung, aber diese laufen langsam und stückchenweise, nur ca. 150 Familien verlassen jeden Monat das Camp. Da aber 25.000 Iraker:innen im Camp untergebracht sind, ist das weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Für die Angehörigen von Drittstaaten gibt es wenig Anstrengungen. Insbesondere westliche Regierungen nehmen kaum Staatsangehörige zurück. Frankreich hat z.B. vor kurzem erklärt, es werde keine weiteren Rückführungen vornehmen, obwohl noch einige seiner Staatsangehörigen im Camp sind. Auch Deutschland nimmt derzeit keine IS-Angehörigen mehr zurück, obwohl noch weitere deutsche IS-Angehörige im al-Hol-Camp oder anderen Einrichtungen untergebracht sind. Auch die Drittstaaten müssen Verantwortung für ihre Staatsangehörigen übernehmen und sie nicht einfach der AANES und den QSD zuschieben, die dafür völlig unzureichend ausgerüstet sind. Die Drohung, die das Camp al-Hol für eine potentielle Wiederkehr des IS darstellt, ist nicht nur eine Gefahr für die Region, sondern auch für uns.
Die Bildungsarbeit der Frauenstiftung im Al Hol Camp
Um so wichtiger ist die Arbeit der Frauenstiftung im al-Hol Camp. Die Stiftungsfrauen, die im Camp arbeiten, empfinden ihre Arbeit als sehr wichtig; sie erreichen Frauen, die noch nicht ideologisiert sind, machen ihnen Angebote, unterstützen und stärken sie, damit sie sich gegen die IS-Frauen und deren Kinder wehren können. Auch kommen Frauen zu ihnen, die aus der al-Hol-Atmosphäre heraus wollen. Sie wollen sich ändern, ihre durch den IS geprägte Einstellung ändern, erzählt eine Mitarbeiterin. Daraus ziehen die Frauen der Stiftung ihre Motivation diese gefährliche Arbeit durchzuführen und auszubauen. Sie haben uns eine andere Seite des Camps gezeigt. Ihre Erzählungen von Frauen aus dem Camp, die lernen und ihren Kindern etwas beibringen wollen, die ihnen die Möglichkeit zum Lernen geben wollen und die Motivation, die sie daraus ziehen, haben uns beeindruckt. Wir konnten selbst sehen, wie gut es den Frauen aus dem Camp tut, in das Stiftungszentrum zu kommen. Sie entspannen, sind gelöst, können abschalten.
Wie konnte das gelingen? Als die Stiftung begann das Bildungszentrum im al-Hol Camp aufzubauen, sind die Stiftungsfrauen im Camp herumgegangen, um die Arbeit der Stiftung und ihre Ziele bekannt zu machen. Es gab zu der Zeit immer wieder Angriffe auf das Gebäude der Stiftung und teils auch auf die Mitarbeiterinnen, sie haben aber immer weiter gemacht. Inzwischen hat sich die Situation gebessert, das Stiftungszentrum und die Stiftungsfrauen werden akzeptiert. Sie haben es geschafft Kontakt zu Irakerinnen und einigen nicht-ideologischen Syrerinnen aufzubauen und die Frauen ins Stiftungszentrum einzuladen. So hat sich die Arbeit der Stiftung herumgesprochen, und heute kommen neue Frauen, weil sie von anderen Frauen davon gehört haben. Inzwischen ist die Nachfrage so groß, dass das ursprüngliche Gebäude nicht mehr ausreichte und ein größeres renoviert und bezogen werden musste.
Das neue Stiftungsgebäude hat drei Räume und eine kleine Küche. Es ist von 9:00 bis 14:30 Uhr geöffnet. Die Frauen, die das Stiftungszentrum besuchen, kommen nur aus einigen Bereichen des Camps. Es ist in acht Bereiche unterteilt. Die Frauen im Bereich für Drittstaatenangehörige können nicht in das Zentrum kommen, da sie ihren Bereich aus Sicherheitsgründen nicht verlassen dürfen. Aus den meisten anderen Bereichen kommen Frauen in das Stiftungszentrum. Damit sind durchaus auch Schwierigkeiten verbunden, denn die Stiftungsfrauen wissen zunächst nicht, ob auch dogmatische Frauen unter den Teilnehmerinnen sind. Besonders bei neuen Frauen gibt es Unsicherheiten, da viele Frauen auch sehr verschlossen sind. Deshalb geht es den Stiftungsfrauen bei neuen Frauen aus dem Camp zunächst um ein gegenseitiges Kennenlernen, im Verlauf dessen beide Seiten offener und entspannter werden können.
Kurse und Seminare
Im Stiftungszentrum werden Kurse und Seminare, sowie eine (Aus-) Bildung in der Nähwerkstatt angeboten. Die Ausbildung geht über zwei Stunden am Tag, an drei Tagen der Woche und dauert insgesamt eineinhalb Monate. Die Lehrerin ist Schneiderin und kommt selbst aus dem Camp. Eine Kursteilnehmerin (18 J.) sagt uns: »Ich wollte die Ausbildung machen, um Kleidung für meine Kinder, meine Mutter und mich nähen zu können. Ich möchte auch Kleidung nähen und sie verkaufen, um damit eigenes Geld zu verdienen.« Bei unserem Besuch war gerade eine Bildung beendet und wir konnten an der Zertifikatsverleihung teilnehmen. Die jungen Frauen waren ganz aufgeregt und präsentierten stolz ihre Zertifikate. Zum Abschluss gab es auch eine gemeinsame Feier, bei der auch noch kurz getanzt wurde.
Dreimal pro Woche finden außerdem Kurse und Seminare im Zentrum und in einzelnen Zelten statt. Die Seminarthemen bilden ein breites Spektrum ab: Frau und Familie, Kinderehen, Gesundheit, Werte und Prinzipien, Mentalität, um einige Beispiele zu nennen. Das Interesse an der Bildung wie den Seminaren ist groß; bis zu 20 Frauen können an einem Seminar teilnehmen. Als wir ankamen, fand gerade ein Kurs zur Naturheilkunde statt – den gibt es dort jeden Donnerstag. Die Leiterin erzählt über verschiedene Mittel, um einfache Krankheiten zu behandeln – auch was gut für die Haare und für die Haut ist – und bietet Mixturen und Cremes für verschiedene Behandlungen an. Die Stimmung im Kurs ist gelöst.
Aber auch außerhalb der Seminar- und Bildungszeiten kommen Frauen in das Stiftungszentrum und nutzen diesen Ort auch als einen sozialen Ort, einen Treffpunkt, in dem sie unter Gleichgesinnten sein und gemeinsam Zeit verbringen können. Nach dem Kurs erzählen uns verschiedene Teilnehmerinnen ihre Geschichte. Eine sagt z.B.; »Ich wurde mit 11 Jahren verheiratet und habe zwei Kinder bekommen. Jetzt bin ich 17 und lebe seit vier Jahren im Camp. Es ist gut einen Ort zu haben, an dem man lernen kann, es hilft mir sehr Neues zu lernen. Wir werden dort unterstützt, und ich kann entspannt sein. Im Zelt bin ich alleine, bei der Stiftung kann ich mit anderen Frauen zusammen kommen, reden, lachen. Deshalb komme ich jeden Tag hierher, auch wen ich an keiner Bildung teilnehme.« Eine andere Teilnehmerin gibt sich kämpferisch: »Ich sollte mit 12 Jahren verheiratet werden. Ich wollte das nicht und habe dagegen gekämpft. Das Leben besteht nicht nur darin, mit einem Mann verheiratet zu sein, man muss sich auch eigene Gedanken machen und einen eigenen Kopf haben.« Aber auch im al-Hol Camp ist es so – sobald eine Kamera da ist, verschleiern sich die Frauen komplett. Sobald die Kamera weg ist und sie vertrauen zu den Frauen im Raum haben – wird die Gesichtsverschleierung, manchmal auch die ganze Burka, abgenommen.
Die Motivation der Mitarbeiterinnen
Zum Schluss unseres Besuches erzählen uns die Mitarbeiterinnen, warum sie diese Arbeit machen und von den Herausforderungen darin. Für die Arbeit im Camp brauchen sie z.B. mehr und vor allem geschulte Kolleginnen, die sich u.a. in der Traumapädagogik auskennen. Aber es gibt wenige, die dort arbeiten wollen; und wenn jemand gefunden ist, ist es häufig so, dass sie mehr Lohn verlangen, als die Stiftung finanzieren kann. Auch haben die Stiftungsmitarbeiterinnen den Wunsch, die Arbeit mit Kindern auf- und auszubauen. Aber auch dazu fehlen die finanziellen Mittel. Eine Stiftungsmitarbeiterin, die seit 2015 im al-Hol Camp arbeitet, sagt uns: »Ein Ort für die Kinder wäre gut, die Hälfte der Frauen schickt ihre Kinder nicht zur Schule. Sie akzeptieren die Campschulen nicht, weil sie von der Autonomen Administration sind. Die Kinder sollten auch etwas anderes kennenlernen, z.B. Musikunterricht bekommen, malen, mit Spielzeug spielen können, nicht immer nur über Religion lernen.«
Die Arbeit im Camp ist nicht einfach, es besteht immer auch das Risiko, dass die Stiftungsmitarbeiterinnen von ideologisierten IS-Frauen angegriffen werden. Sie empfinden aber die Arbeit im al-Hol Camp als sehr wichtig und machen sie gerne. Sie ziehen Motivation z.B. daraus, dass die Teilnehmerinnen der Bildungen und Kurse lernen eigene Stärke zu entwickeln und dass sie andere Werte kennenlernen. »Die Frauen wollen lernen, haben Wünsche und Bedürfnisse, sie wollen ihren Kindern etwas beibringen können und ihnen die Möglichkeit zum Lernen geben.« erzählt eine Mitarbeiterin. Und weiter: »Veränderungen finden statt. Wenn Frauen hierherkommen ist es schon eine Veränderung. Sie lernen, sie haben ein eigenes Handwerk und können Geld verdienen und unabhängig von den Männern werden.« Eine andere Mitarbeiterin hebt hervor: »Wir können uns bewegen, die Frauen aus dem Camp können das nicht, wenn wir etwas brauchen, können wir das besorgen, die Frauen hier können das nicht. Es ist menschlich Frauen und Kindern zu helfen.« Die Bildungsarbeit der Frauenstiftung im Camp wird so gut angenommen, dass die Nachfrage nicht erfüllt werden kann. Wie eine Mitarbeiterin sagt: »Die Nachfrage nach Bildung hier im Camp ist groß, aber es fehlt an finanziellen Mitteln, die Arbeit weiter auszubauen.« Bildung bietet aber den Frauen die Möglichkeit sich außerhalb der Religion zu bilden und eigene Sichtweisen zu entwickeln. Dies ist ein zentraler Effekt der Arbeit der Frauenstiftung im al-Hol Camp, der weiter unterstützt werden sollte.
1 Vgl. auch das Interview mit der Delegation im KR 230, S. 23-26
2 Quwetên Suriya Dimokratîk (Demokratische Kräfte Syriens, auch SDF abgekürzt)
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024
Neue Entwicklungen im Nahen Osten und der Weg zu einer Lösung
Das etatistische Paradigma als Ursache im Nahost-Konflikt
Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)
Ausgehend von Abdullah Öcalans Geschichtsauffassung, die über das etatistische1 Paradigma hinausgeht und historische Entwicklungen aus der Perspektive eines sozialistischen Paradigmas betrachtet, analysiert Cemil Bayık die aktuelle Situation im Nahen Osten und insbesondere die arabisch-jüdische Frage und entwirft mit ihrer Hilfe Perspektiven. In dieser Ausgabe des Kurdistan Reports wird der erste Teil seiner Ausführungen abgedruckt, in der nächsten Ausgabe der zweite.
Teil 1
In dem Maße, wie die Globalisierung des Kapitals zunimmt, werden alle Orte mit menschlicher Bevölkerung für die Kräfte der kapitalistischen Moderne wichtig. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die Widersprüche und Rivalitäten in Asien und im Pazifikraum in den letzten Jahren zugenommen haben. Denn heute wächst und entwickelt sich das kapitalistische System durch Konsum. Deshalb nennt man die heutige Welt eine Konsumgesellschaft, das ist eine korrekte Benennung. Das System der kapitalistischen Moderne hat das Stadium der Konsumgesellschaft erreicht. Durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist das Problem der Produktion heute bereits gelöst: Alles konkret vorstellbare kann produziert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Probleme gelöst sind. Im Gegenteil, wir befinden uns in einer Phase, in der die Probleme besonders groß sind. Denn das System der kapitalistischen Moderne ist immer noch dominant. Die Existenz der kapitalistischen Moderne verhindert die Lösung der Probleme. Andererseits hat die Tatsache, dass der Konsum zum Hauptmittel des Kapitals geworden ist, dazu geführt, dass die Probleme ins Außerhalb der Menschen und der Gesellschaft verlagert wurden. Dies äußert sich in der Zerstörung der Natur, der Zerstörung der Ökologie und dem zunehmend unbewohnbaren Zustand unseres Planeten. Als das Hauptziel der Konsum selbst war, wurde alles, auch die Natur, immer mehr objektiviert. Der Vorsitzende Apo2 hat erklärt, dass das System der Zivilisation, das sich durch die Trennung von Subjekt und Objekt sowie durch die Vertiefung des Unterschieds zwischen ihnen entwickelt hat, im System der kapitalistischen Moderne seine maximale Tiefe erreicht hat und allmählich ein Stadium erreichen wird, in dem sogar das Subjekt objektiviert wird. Ein solches Stadium erleben wir jetzt. Das schlägt sich natürlich in mehr Widersprüchen, Konkurrenz, Konflikten und Kriegen nieder. Dies geschieht in Form des Dritten Weltkriegs3. Denn Widersprüche sind nicht lokal oder regional, sondern universell. Der jeweilige Widerspruch ergibt sich aus dem System selbst.
Die modernste Kriegsflotte der Welt befindet sich im Nahen Osten
Da das System überall existiert, sind Widersprüche und Kriegszustände überallhin getragen worden. Zweifelsohne werden diese Widersprüche durch bestimmte Zentren ausgetragen. Eines dieser Zentren ist der Nahe Osten. Dieser ist seit dem Altertum ein wichtiges Zentrum. Daher war die Region auch eines der Zentren der Widersprüche und Konflikte. Diese Stellung hat sie auch heute noch. Die Zunahme von Widersprüchen und Rivalitäten an anderen Orten wie Asien in der Phase der Konsumgesellschaft bedeutet nicht, dass die Bedeutung des Nahen Ostens abgenommen hat. Im Gegenteil, sie hat zugenommen. Die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten sind auch insofern wichtig, als sie den Irrtum einer solchen Diskussion deutlich machen.
Der Vorsitzende Apo hat schon erklärt, dass alle Widersprüche und Konflikte heute in den Bereich des Dritten Weltkriegs fallen. Dies wird am besten durch die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten belegt. Wäre dies nicht der Fall, so wären die modernsten Kriegssysteme der Welt nicht in diese Region gebracht worden. Die modernste Kriegsflotte der Welt befindet sich derzeit im Nahen Osten.
Als sich die Entwicklungen in Palästina abzeichneten, brachten die USA ihr größtes Kriegsschiff in die Region. Es heißt, dass auch das zweite Schiff dorthin gebracht werden soll. Ebenso wird gemunkelt, dass das Vereinigte Königreich seine Marineflotte in die Region bringen wird. Das größte Kriegsschiff der USA bedeutet die größte Kriegsflotte der Welt. Das bedeutet eine ernsthafte Kriegshaltung. Es wäre falsch zu sagen, dass dies nur für den Krieg Israels gegen Gaza und die Hamas gilt. Ohne Zweifel sind die Existenz und die Sicherheit Israels für die USA und die NATO sehr wichtig. Selbst wenn es nur aus diesem Grund ist, ist gleichwohl eine Kriegshaltung vorhanden, welche Taten folgen lassen könnte. Die Existenz und Sicherheit des Staates Israel ist jedoch eine regionale Frage. Sie betrifft nicht nur die Fläche, auf der er errichtet wurde, sondern den gesamten Nahen Osten.
Die Gründung des Staates Israel, die zu einer erneuten Eskalation der historischen arabisch-jüdischen Frage und zur Entstehung der palästinensischen Frage führte, ist eng mit der Nahostpolitik der Kräfte der kapitalistischen Moderne verbunden.
Denn einer der Grundpfeiler der etablierten Ordnung im Nahen Osten ist die Existenz und Sicherheit des Staates Israel. Ein Ergebnis dieser Ordnung, ist die Palästina-Frage. Aufgrund dieser Situation ist die palästinensische Frage, eine Frage, die den gesamten Nahen Osten bis heute betrifft.
Die Taten der Hamas vom 7. Oktober und die darauf folgenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen und die Region haben diese Tatsache erneut bestätigt. Es ist noch nicht abzusehen, wie diese Entwicklungen ausgehen werden.
Jetzt diskutieren alle darüber und versuchen vorherzusagen, wie die Ereignisse ausgehen oder sich entwickeln werden. Zweifellos ist es im Moment schwierig, dies vorherzusagen. Wir wissen nicht, ob es sich um einen sich ausbreitenden Krieg oder um eine Abfolge von Konflikten mit definierten Grenzen handeln wird. Die sich vertiefenden Widersprüche zwischen den Kräften der kapitalistischen Moderne und die sich verschärfende Krise des Systems zeigen jedoch, dass sich die Entwicklungen im Rahmen des Dritten Weltkriegs abspielen werden.
Das zeigt sich auch in den Haltungen, die zum Ausdruck kommen. Andererseits ist die Entwicklung nicht nur im Nahen Osten zu beobachten. Auch in anderen Teilen der Welt gehen die Entwicklungen in diese Richtung.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Beispiel dafür. Mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine hat der Dritte Weltkrieg zum ersten Mal die Grenzen des Nahen Ostens verlassen. Die aktuellen Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass das Zentrum des Krieges wieder der Nahe Osten sein wird. Tatsächlich war er schon immer das Zentrum des Krieges, ohne Unterbrechung. In Kurdistan und Palästina herrscht seit hundert Jahren ununterbrochen Krieg. Die ganze Region war schon immer ein Schlachtfeld für die kurdische und die palästinensische Frage. Neu ist nun, dass die kapitalistische Moderne das Stadium der Konsumgesellschaft erreicht hat und deren Folgen offen zutage treten. Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, dass sich der Dritte Weltkrieg im Nahen Osten wie auch in anderen Teilen der Welt verschärft und die künftigen Entwicklungen auf dieser Grundlage stattfinden.
Für die kurdische und die palästinensische Frage ist ebenso wie für das jüdische Volk eine wirkliche und dauerhafte Lösung wichtig
Einer der Hauptpfeiler der bestehenden Ordnung im Nahen Osten ist zweifellos die auf dem Völkermord an den Kurd:innen basierende Politik. Diese Realität muss bei der Analyse der palästinensischen Frage, der Ordnung im Nahen Osten und der neuen Entwicklungen berücksichtigt werden. Sonst kann man den Ursprung der Probleme, die Art der Entwicklungen und damit die Ergebnisse, die sich ergeben werden, nicht richtig verstehen. Die in Kurdistan und Palästina durchgesetzte Ordnung ist Ausdruck der im Nahen Osten etablierten Ordnung. Diese basiert auf dem Völkermord an beiden Völkern. Deshalb haben die positiven und negativen Entwicklungen in Kurdistan und Palästina Auswirkungen auf die gesamte Region. Während der Kampf der beiden Völker und ihr Streben nach Freiheit die genozidale, kolonialistische Ordnung im Nahen Osten erschüttern, stärkt die herrschende »Ordnung« diese. Und ebenso ist die Existenz und die Frage des jüdischen Volkes eine Realität im Nahen Osten. Auch dies ist eine wichtige Tatsache der Region. Die Existenz und die Frage des jüdischen Volkes können nicht ignoriert oder geleugnet werden.
Für die kurdische und die palästinensische Frage ist, ebenso wie für das jüdische Volk, eine echte und dauerhafte Lösung wichtig. Die Veränderung der im Nahen Osten entstandenen Ordnung, die auf den Interessen der kapitalistischen Moderne beruht, kann nur auf diesem Wege erreicht werden: einem Prozess auf demokratischer Grundlage mit der Überwindung der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und der Ermöglichung eines freien und gleichberechtigten Zusammenlebens der Völker. Es ist wichtig, die kurdische, arabische und jüdische Frage aus einer solchen Perspektive zu betrachten. Alle anderen Ansätze sind absolut falsch und unvollständig. Der arabische Nationalismus (im Kontext des Antisemitismus) sieht das Problem in der Rückkehr der Jüd:innen in den Nahen Osten, während der jüdische Nationalismus (Zionismus) das Problem in der Existenz der Araber:innen sieht: Damit die einen existieren können, müssen die anderen verschwinden. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Diese Ansätze, die das Ergebnis von Nationalismus und einer national-etatistischen Mentalität sind, haben die Probleme bis heute nur vertieft. Diese Ansätze sind der Grund für all die schmerzhaften Verluste. Gleichzeitig wird dieser Ansatz, der sich als Folge der etatistischen Mentalität und ihrer nationalstaatlichen Variante entwickelt hat, als die einzige Option dargestellt. Aber in Wirklichkeit ist er nicht die einzige Option für die Völker. Eine solche historische Lesart ist völlig falsch und unbegründet.
Es ist nur richtig, dass weder die Rückkehr der Jüd:innen in den Nahen Osten, noch die Existenz der Palästinenser:innen das Problem sind. Indem er zu den Wurzeln der Geschichte vordringt, hat der Vorsitzende Apo die Realität aufgedeckt, die allen Fragen, einschließlich der arabisch-jüdischen Frage, in ihrer historischen Entwicklung zugrunde liegt. Diese vom Vorsitzenden Apo entwickelte neue Lesart der Geschichte ist äußerst wissenschaftlich. Sie hat eine Qualität, die die soziale Realität korrekt offenbart. Die neue Geschichtsauffassung des Vorsitzenden Apo, die über das etatistische Paradigma hinausgeht und historische Entwicklungen aus der Perspektive eines sozialistischen Paradigmas betrachtet, ist für die Lösung der Probleme im Nahen Osten von größter Bedeutung.
Die historische arabisch-jüdische Frage entstand als Folge der Entwicklung der staatlichen Zivilisation. Auch unabhängig voneinander sind die arabische und die jüdische Frage ein Ergebnis der staatlichen Zivilisation. Der Vorsitzende Apo hat sich damit in seiner Betrachtung der historischen Entwicklung ausführlich beschäftigt. Er hat den Zusammenhang mit dem Widerspruch zwischen den Hurriter:innen4 und den Amurriter:innen5 in der Geschichte aufgezeigt6. Diese sind wichtig, und ohne sie zu kennen oder zu berücksichtigen, ist es nicht möglich, das Wesen der heutigen Probleme zu verstehen und eine Lösung anzubieten. Denn dann wäre die Folge, dass keine Lösungen für die Probleme entwickelt werden können und diese sich weiter verschärfen.
Eine der Fragen, die sich aufgrund dieses Ansatzes verschärft haben, ist die arabisch-jüdische Frage. Bis heute gibt es keinen anderen Ansatz für die arabisch-jüdische Frage als die derzeitige Sichtweise: Die Kräfte, die sich als Feinde gegenüberstehen, haben sich darauf geeinigt, das Problem mit der Mentalität der kapitalistischen Moderne und ihrem nationalstaatlichen Verständnis zu lösen.
Dennoch, beide leiden unter der Mentalität der kapitalistischen Moderne und ihrem nationalstaatlichen Verständnis. Die arabisch-jüdische Frage, die uns heute als israelisch-palästinensischer Konflikt begegnet, basiert jedoch auf der nationalstaatlichen Mentalität und dem nationalstaatlichen Ansatz. Der Ansatz, in den alten Gebieten, in denen Araber:innen und Jüd:innen leben, Nationalstaaten zu errichten, ist die Hauptursache für dieses Problem. Ohne die Überwindung dieses Ansatzes wird eine Lösung des Problems nicht möglich sein. Dies ist in der Tat nicht nur für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, sondern auch für die Lösung aller Probleme im Nahen Osten, insbesondere der kurdischen Frage, essenziell.
Die Entstehung der palästinensischen Frage
Genau wie die Entstehung der kurdischen Frage ist auch die Entstehung der palästinensischen Frage ein Ergebnis der Nahostpolitik der kapitalistischen Moderne. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bestand der Ansatz der Kräfte der kapitalistischen Moderne im Nahen Osten darin, das Osmanische Reich zu zerschlagen und abhängige Nationalstaaten zu schaffen. Das Bündnis des osmanischen Staates mit Deutschland konnte die Entwicklung dieses Prozesses nicht verhindern. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg gestalteten Großbritannien und Frankreich die Welt und den Nahen Osten neu. Der Einfluss und die Kontrolle vor allem Großbritanniens entwickelten sich im Nahen Osten. Die Geografie des Nahen Ostens wurde so weit wie möglich in Form von abhängigen Staaten fragmentiert. Kurdistan wurde auf vier Nationalstaaten aufgeteilt, und das kurdische Volk wurde in die Serie von Völkermorden einbezogen. Dies war das Ergebnis eines Abkommens zwischen dem türkischen Staat und den Kräften der kapitalistischen Moderne. Auf der einen Seite wurde das kurdische Volk dem Völkermord preisgegeben, auf der anderen Seite wurden der türkische, der persische und die arabischen Nationalstaaten abhängig gemacht. Die Kräfte der kapitalistischen Moderne hielten diese Methode für geeignet, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Ausrottung und Liquidierung zahlreicher Völker, wie z. B. die Armenier:innen und Assyrer:innen, erfolgte ebenfalls innerhalb dieses Prozesses. Und auch das Wiederauftauchen der arabisch-jüdischen Frage und die Entstehung der palästinensischen Frage sind Ergebnisse dieses Prozesses.
Ohne Zweifel hat jede Frage ihre eigenen Aspekte. Die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Nahen Osten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und der darauf folgende Prozess sollten in diesem Licht gesehen werden. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Moderne in Europa nahmen auch die Pogrome und Massaker gegen das jüdische Volk zu. Infolgedessen entwickelten die Jüd:innen die Idee, sich im Nahen Osten, den sie als ihr altes Land betrachteten, niederzulassen und dort einen eigenen Staat zu gründen. Um die Hindernisse zu beseitigen, die diesem Vorhaben im Wege standen, bedienten sie sich der Unterstützung durch die Kräfte der kapitalistischen Moderne. Dies war der Hauptgrund für das Entstehen der problematischen Situation. Damals versuchte Großbritannien, die Dynamik auszugleichen, um den Nahen Osten stärker von sich abhängig zu machen. Dies ist eine klassische Methode des Systems der kapitalistischen Moderne und des Imperialismus. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Politik des Gleichgewichts sowie des Teilens und Herrschens. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass Großbritannien die Situation des jüdischen Volkes in seiner Herangehensweise an die »Nahost«-Frage und an die arabische Frage ausgenutzt hat. Das Vorgehen der Kräfte der kapitalistischen Moderne basiert auf dem Verhältnis von Interessen, und Großbritannien handelte damals in diesem Sinne.
Sicher gibt es auch einen Grund, der umfassendere Fragen einschließt.
So befürchtete Großbritannien beispielsweise, dass die USA Deutschland im Krieg unterstützen würden, weil die Jüd:innen, die vor den Pogromen in Russland nach Amerika geflohen waren, Beziehungen zu den USA aufgebaut hatten. Um dies zu verhindern, begann Großbritannien, sich mit denjenigen Jüd:innen, mit denen Kontakt bestand, zu arrangieren und sich stärker für die jüdische Sache zu interessieren. Denn Russland stellte sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite Großbritanniens gegen Deutschland. In dieser Zeit war Russland der Ort, an dem Pogrome gegen Jüd:innen am häufigsten vorkamen. Am Ende kam es nicht zum befürchteten Szenario, und Großbritannien war der Sieger des Krieges. In Russland entwickelte sich die Oktoberrevolution.
Später war die jüdische Bevölkerung aber vor allem den Massakern und dem Völkermord unter den Nazis ausgesetzt. Infolgedessen kam es zu einer verstärkten Einwanderung von Jüd:innen in den Nahen Osten.
Mit all diesen Prozessen haben auch die arabisch-jüdischen Widersprüche und Konflikte zugenommen. Mit der Gründung des Nationalstaates Israel hat sich dieser Konflikt bis heute verschärft und vertieft.
Die Flucht des jüdischen Volkes vor den Pogromen in Europa in den Nahen Osten war in der Tat ein richtiger und notwendiger Schritt. Denn im Nahen Osten wird die jüdische Gemeinschaft mit sich selbst in Kontakt kommen und ihre Entwicklung sicherstellen. Außerhalb des Nahen Ostens ist es für das jüdische Volk nicht möglich, sich als Gesellschaft zu entwickeln und seine Existenz zu sichern. Der Vorsitzende Apo erklärt dies in einer historischen, sozialen und aktuellen Analyse.
Die Tatsache, dass die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Nahen Osten mit einer nationalstaatlichen Mentalität konzipiert wurde und der Prozess entsprechend durchgeführt werden sollte, führte jedoch zu gegenteiligen Ergebnissen. Zusätzlich zur nationalstaatlichen Mentalität hat das Vorhandensein historischer religiöser und sogar tribalistischer Auffassungen den Widerspruch weiter vertieft. Dies hat zu einer Situation geführt, die noch gefährlicher ist als zuvor, ganz zu schweigen davon, dass das jüdische Volk die Frage seiner Existenz überwinden und die Bedingungen schaffen muss, die seine Entwicklung gewährleisten. Man kann den Prozess folgendermaßen zusammenfassen: Die Geschichte des jüdischen Volkes und die Entwicklung des Völkermords, dem das palästinensische Volk heute ausgesetzt ist, sind ein Beispiel für Ergebnisse der Entwürfe, die mit einer etatistischen Mentalität gemacht wurden. Denn die Situation ist äußerst schmerzhaft. Das jüdische Volk kam in den Nahen Osten, in das Land Palästina, wegen der Massaker, denen es in Europa ausgesetzt war. Der Grund, warum die Jüd:innen Massakern ausgesetzt waren, die zu Völkermord führten, ist die staatliche Zivilisation in der Ausformung der kapitalistischen Moderne und das Verständnis des Nationalstaates. Aufgrund derselben Mentalität ist das palästinensische Volk jedoch Massakern und Völkermord ausgesetzt. Diese Situation ist in der Tat ein Beispiel, aus dem Lehren gezogen werden sollten. Es gibt wahrscheinlich kein anderes historisches Ereignis, das so beispielhaft und lehrreich ist wie dieses.
Der nationalstaatliche Ansatz verschärft die Probleme
Die Tatsache, dass Probleme mit dem Modell des Nationalstaats nicht gelöst werden können, sondern verschärft werden, zeigt sich am besten an der arabisch-jüdischen Frage, der Entstehung der kurdischen Frage und der Tatsache, dass diese Fragen ungelöst bleiben. Dies ist ebenfalls ein Ergebnis des nationalstaatlichen Ansatzes, wie auch andere Probleme im Nahen Osten auf eben diesem Ansatz beruhen. Da er im Nahen Osten nicht überwunden werden konnte, ist es auch nicht möglich gewesen, die Probleme zu lösen. Fast keines der Probleme wurde gelöst und keine Entwicklungen zu ihrer Lösung in Gang gesetzt. Wie der israelisch-palästinensische Konflikt zeigt, gibt es schwerwiegende Probleme, die jederzeit die gesamte Region in einen Krieg stürzen können. Dasselbe gilt für die kurdische Frage. Die genozidale, kolonialistische und nationalstaatliche Mentalität des türkischen Staates gegen die Kurd:innen und seine entsprechende Politik stehen in Zusammenhang mit Konflikten, Krieg und Völkermord im Nahen Osten. Diese Situation zeigt, dass es in Wirklichkeit keine Entwicklung gibt und dass das, was Entwicklung genannt wird, nur eine rein formale und keine echte ist. Außerdem ist die ständige Einmischung der Mächte der kapitalistischen Moderne in den Nahen Osten, ihre Gestaltung und Verwaltung des Nahen Ostens nach ihren Interessen ebenfalls dieser Mentalität geschuldet. Es waren die Kräfte der kapitalistischen Moderne, die den Nahen Osten auf der Grundlage von Nationalstaaten entworfen haben. Dieses System besteht immer noch. Wenn es eine Veränderung gegeben hat, dann in der Form der Intervention der USA und der NATO in einige Regime auf der Grundlage der Bedürfnisse des globalen Kapitalsystems. Dies stellt keine qualitative Veränderung dar. Der National-Etatismus bestimmt nach wie vor das vorherrschende Denken und die Politik im Nahen Osten.
Der Anteil des nationalstaatlichen Ansatzes an der gegenwärtigen Phase der Palästinafrage ist entscheidend. Der arabische Nationalismus gegen den jüdischen Nationalismus hat das Problem nicht nur nicht lösen können, sondern es sogar noch verschärft. Das geht so weit, dass er einerseits eine fanatische Haltung einnimmt, während er andererseits, wenn sich die Bedingungen ändern, die gegenteilige Haltung einnehmen kann. Die Tatsache, dass die arabischen Nationalstaaten nicht immer für die Sache des palästinensischen Volkes eingetreten sind, hat der palästinensischen Sache am meisten geschadet, insbesondere zu Beginn des Konflikts. Mit der offiziellen Gründung des Staates Israel nahmen die arabischen Nationalstaaten eine radikale Haltung gegenüber Israel ein. Im Laufe der Zeit haben der Widerstand gegen Israel und die palästinensische Sache jedoch eine politische Form angenommen.
Mit der Machtübernahme des Nasserismus7 und später der Baath-Parteien8 in Syrien und im Irak wurden die israelische Frage und die palästinensische Sache zu einer politischen Rivalität. Dieser Ansatz der arabischen Nationalstaaten hat auch eine unabhängige Entwicklung der palästinensischen Bewegung verhindert oder erschwert. Eine vereinheitlichende Herangehensweise an den israelisch-palästinensischen Konflikt ist ohne Zweifel falsch. Für das Verständnis der Wahrheit ist es wichtig, Ereignisse und Phänomene in ihrer historischen Entwicklung, ihren Zusammenhängen und Verflechtungen zu betrachten. Dies sollte jedoch nicht in der Form geschehen, dass alles gleich gemacht wird. Es sind die Mentalität und die Politik des israelischen Staates, die die palästinensische Frage geschaffen haben. Genau wie der türkische Staat leidet auch der israelische Staat an einer genozidalen Mentalität. Der israelische Staat geht mit dem palästinensischen Volk auf die gleiche Weise um, wie der türkische Staat mit dem kurdischen Volk. Der türkische Staat baut seine Existenz auf dem kurdischen Völkermord auf. In gleicher Weise hat der israelische Staat seine Existenz auf dem Völkermord und der Vernichtung des palästinensischen Volkes aufgebaut. Der auf dem arabischen Nationalismus basierende Ansatz hat diese Mentalität noch verstärkt. Diese beiden Nationalismen haben sich gegenseitig beflügelt.
Der jüdische Nationalismus sieht vor, dass Palästina vollständig zu Israel gehört und zu diesem Zweck die Araber:innen eliminiert werden müssen; der arabische Nationalismus sieht die Errichtung einer arabischen Souveränität in Palästina vor und dass zu diesem Zweck Israel zerstört werden müsse. Diese beiden nationalstaatlichen Ansätze, die von traditionellem Nationalismus und Religion geprägt sind, haben dazu geführt, dass die Frage angesichts der Verschärfung des Konflikts und des Völkermords am palästinensischen Volk nicht mehr gelöst werden kann.
Das Versagen der arabischen Nationalstaaten, sich die palästinensische Sache wirklich zu eigen zu machen und eine Lösung für das Problem zu finden, wirkte sich anfangs positiv auf die Entwicklung der palästinensischen Bewegung aus. Nach der Niederlage der arabischen Nationalstaaten gegen Israel im Jahr 1967 begann die palästinensische Bewegung zu erstarken und für die Befreiung des palästinensischen Volkes zu kämpfen, indem sie sich die palästinensische Sache wirklich zu eigen machte. Seitdem ist der Kampf des palästinensischen Volkes stärker geworden und wird in der ganzen Welt anerkannt. Die palästinensische Bewegung und der Kampf des palästinensischen Volkes wurden von den Völkern im Nahen Osten und in der ganzen Welt unterstützt.
Viele Menschen aus dem Nahen Osten und der Welt haben sich dem Kampf für die Sache des palästinensischen Volkes in den Reihen der palästinensischen Bewegung angeschlossen.
Die Unterstützung der palästinensischen Sache in der Region und in der Welt beruht zweifellos auf der Tatsache, dass die palästinensische Bewegung eine sozialistische Sichtweise hat. Sie erhielt Unterstützung von vielen sozialistischen Ländern und Bewegungen, insbesondere von den Sowjets. Bekanntlich reiste die PKK auch in die Gebiete, in denen die palästinensische Bewegung präsent war, und führte Aktionen in Solidarität mit der palästinensischen Bewegung durch. In dieser Zeit kämpfte die PKK, die ihre Gründungsphase gerade erst abgeschlossen hatte, während des israelischen Angriffs auf Beirut an vorderster Front, und als Guerillabewegung hatte sie hier ihre ersten Gefallenen zu beklagen. Diese von der kurdischen Freiheitsbewegung geknüpften Beziehungen haben es den Völkern Palästinas und Kurdistans ermöglicht, bis heute solidarisch miteinander zu sein.
1 Etatismus bezeichnet eine politische Annahme, nach der ökonomische, soziale oder ökologische Probleme durch staatliches Handeln zu bewältigen sind.
2 Abdullah Öcalan, Vorsitzender der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), seit 1999 in Isolationshaft in der Türkei
3 »Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Kampf für den Frieden«, KR 224, S. 41 ff.
4 Die Hurriter:innen waren im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. an der Grenze zu Nordmesopotamien ansässig.
5 Die Amurriter:innen waren ein antikes Volk semitischer Sprache aus Vorderasien. Sie sind vor allem im Gebiet des mittleren Euphrat nachweisbar.
6 Hier geht es um den Widerspruch und Konflikte zwischen sesshaften Völkern in Stadtstaaten und nomadischen Völkern. Vgl. die Ausführungen Abdullah Öcalans zur Frühgeschichte des Mittleren Ostens in verschiedenen seiner Bücher.
7 Gamal Abdel Nassers (von 1952-54 Ministerpräsident Ägyptens) Version der Idee einer geeinten arabischen Nation vom Atlantik bis zum Persischen Golf wird als Nasserismus bezeichnet.
8 Die Ideologie des Baathismus verbindet nationalistischen Panarabismus und revolutionären Säkularismus mit den Elementen eines arabischen Sozialismus.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024