Aktuelle politische Lage

Mit dem demokratischen Konföderalismus die festgefahrene Situation im Mittleren Osten überwinden

Dîrok Hêvî

 

Der Angriff der Hamas auf Israel wird sicher bedeutende Veränderungen für die Region nach sich ziehen. Ihn mit seinen Folgen für die Lage in Kurdistan gut zu analysieren und zu verstehen ist daher auch für uns wichtig. Trotz gewisser Eigenheiten sind die meisten Entwicklungen der Region miteinander verbunden, und weil der Krieg in Gaza im Grunde genommen alle hier betrifft, wird er von allen Seiten intensiv verfolgt, nicht nur im Hinblick auf Israel und Palästina.

Die 1987 gegründete Hamas hat sich als Teil der Muslimbrüder organisiert, ist aber seit 2017 organisatorisch selbstständig und daher nur noch ideologisch mit ihnen verbunden. Während in den 1970ern, in der Zeit des Kalten Krieges, revolutionär-sozialistische Organisationen in Palästina noch stark waren, wurden durch die USA/NATO in vielen Ländern des Mittleren Ostens islamistische Gruppen aufgebaut und gestärkt als Gegengewicht zu dem Einfluss der Sowjetunion. Das vielleicht bekannteste Beispiel sind die Taliban, die gegen den Einfall der Sowjetunion in Afghanistan mit Geld und Waffen überschwemmt wurden.

Gleiches gilt jedoch auch für andere Regionen, unter anderem Palästina. Nicht von ungefähr erfuhr die Hamas massive Unterstützung und konnte dadurch mit der Zeit die revolutionären Kräfte verdrängen. Nach dem Motto »koste es, was es wolle« wurden durch die USA/NATO in vielen Ländern verstärkt islamistische/dschihadistische Ideen verbreitet und solche Gruppen großgezogen. Alles unter der Prämisse »Kampf gegen den Kommunismus«. Ziel war es, mit der Ausbreitung radikaler, islamistischer Ideen der Ausbreitung sozialistischer Ideen den Boden zu entziehen und damit einen »grünen Gürtel« zu schaffen. Heute nun sehen wir die Auswüchse und Folgen davon. Sowohl die Taliban als auch al-Qaida, IS und Hamas sind Produkte dieser Hegemonialkräfte.

Auch für die Regierung in Israel ist die Stärkung der Hamas bis zu einem gewissen Grad eine willkommene Entwicklung, weil dadurch die Macht der Fatah gebrochen wurde, unter der sich sowohl der Gazastreifen als auch die Gebiete der Westbank zu einem Regierungsgebiet entwickelten, das zu einem Staat hätte werden können. Die Stärkung der Hamas führte zu einer Schwächung der Fatah und einem Bruch; die Hamas übernahm die Kontrolle in Gaza, die Fatah weiterhin in der Westbank. Die Hamas hat mehr Fatah-Mitglieder ermordet als Israel und auch damit ihre Stärke und ihren Machtanspruch gezeigt. Die klassische Idee des »Teile und Herrsche« hat der faschistischen israelischen Regierung in die Hände gespielt. Nicht von ungefähr sprach Netanyahu davon, dass, wer die Schaffung eines palästinensischen Staates ablehne, den Geldfluss nach Gaza unterstützen müsse.1

Nach dem Ende des Kalten Krieges und spätestens seit den frühen 2000ern, als die USA/NATO ihre Unterstützung für solche Gruppen zurückfuhren, nahm sich der Iran ihrer an. Nicht von ungefähr saß die Führung der Hamas über lange Zeit im Iran und in Syrien. Das änderte sich erst 2011 im Zuge des Frühlings der Völker (so genannter Arabischer Frühling), in dem sich die Hamas gegen Assad positionierte. Sie verlegte ihre Zentrale von Syrien nach Qatar und in die Türkei. Während die Türkei mit dem Eintritt in die NATO und der offiziellen Anerkennung Israels in der islamischen Welt und unter den arabischen Staaten an Ansehen und Einfluss verloren hatte, versucht sie unter der AKP-Regierung mit Hilfe des sunnitischen Islams wieder ihre Rolle der Vorherrschaft in der arabischen Welt (wie in den Zeiten des Osmanisches Reiches) zu erlangen. Daher auch ihre intensiven Bemühungen auf die Entwicklungen in Ägypten, in Tunesien, auf die Kräfte gegen das syrische Regime und auf das Barzanî-Regime (Nakschibendi-Orden) Einfluss zu nehmen.

Die Hamas wird finanziell von Qatar, politisch von der Türkei und militärisch stark vom Iran unterstützt. Letzterer fokussiert sich seit Jahrzehnten darauf, sowohl sein Projekt des »Schiitischen Halbmonds« voranzutreiben als auch um sich herum unterschiedliche Kräfte und Milizen zu schaffen und zu stärken. Damit sollen die hegemonialen Kräfte, die ihn zu schwächen suchen, beschäftigt und gleichzeitig die Auseinandersetzungen vom eigenen Territorium ferngehalten werden.

Die Türkei hat sowohl aus den Beziehungen zum Staat Israel als auch aus den Beziehungen zur Hamas und deren intensiver Unterstützung Vorteile zu ziehen versucht. So wurden die arabischen Staaten von der Türkei immer wieder mit der Drohung der Annäherung an Israel unter Druck gesetzt, auch um zu erreichen, dass diese Länder, um das zu verhindern, Millionen von Dollar für den Kauf türkischer Produkte ausgaben. Gleichzeitig sollte massive Propaganda die Türkei solidarisch mit dem palästinensischen Volk erscheinen lassen.

Sowohl für den Iran als auch für die Türkei kommt der Angriff der Hamas zu einem wichtigen Zeitpunkt. Durch die sich verändernden Beziehungen vieler arabischer Länder zu Israel verliert die Türkei in dieser Hinsicht als Vermittlerin an Bedeutung. Der Iran hat vor kurzem einen Vertrag über eine noch engere Zusammenarbeit mit China unterzeichnet, mit dem er noch stärker in dessen »Belt and Road«-Projekt als zentrales Durchgangsland für die Energietrasse eingebunden werden soll. Diese soll vom Iran durch die Türkei führen. Für beide Länder wäre diese Trasse ein riesiger Gewinn.

Dieses Vorhaben ist nun durch das vom Westen vorangetriebene multinationale Handelsprojekt India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) bedroht, bei dem es auch schwerpunktmäßig um Energieressourcen geht und das von Indien über die Emirate (UAE) und Saudi-Arabien nach Israel führen soll, von dort weiter nach Europa.

Dafür wiederum ist eine Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien von großer Bedeutung, die im Mittleren Osten wohl am stärksten der Türkei und dem Iran schaden würde. Beides Kräfte, die die Hamas massiv unterstützen und von denen sich die arabischen Staaten der Region mehr und mehr bedroht fühlen. Noch profitiert die Türkei z.B. außerordentlich davon, aserbaidschanisches Erdöl mit ihren Tankern nach Israel zu transportieren. Doch bereits mit dem Vertrag zwischen Israel und fünf weiteren Anrainerstaaten des Mittelmeers über eine Erdgasförderung im Mittelmeer hat die daran nicht beteiligte Türkei einen schweren Rückschlag erlitten. Die Vermutung liegt nahe, dass Israel seine Botschafterin als Reaktion auf die Genugtuung der Türkei über den Angriff der Hamas auf Israel und das möglicherweise damit verbundene Aus für das IMEC-Projekt aus der Türkei abgezogen hat.2

Ohne Zweifel hat der barbarische Überfall der Hamas auf Israel dem legitimen Kampf des palästinensischen Volkes für Selbstbestimmung schwer geschadet. Noch Wochen zuvor war Israel auf internationalen Druck hin gezwungen, seine Angriffe auf Gaza zu stoppen. Nun gibt es diesen Druck nicht mehr und Israel bombardiert Gaza täglich hundertfach. Abgesehen von Erdoğan hat sich im Zuge dieser Angriffe kein einziger Staat, auch nicht die arabischen Staaten, mit der Hamas solidarisiert. Erinnern wir uns, in den vergangenen Jahren hat die Hamas die Türkei zur Besetzung Syriens beglückwünscht.

Die palästinensische als auch die kurdische Frage können wir als die beiden zentralen Probleme des Mittleren Ostens bezeichnen. Solange sie nicht gelöst sind, wird dieser nicht zur Ruhe kommen und die hegemonialen Kräfte werden in ihrer Kontrolle über die Region weiterhin von diesen Widersprüchen profitieren. Deswegen kann weder eine Solidarisierung mit der Hamas noch eine solche mit der faschistischen israelischen Regierung zu einer Lösung führen. Genau wie sich in Syrien während des so genannten arabischen Frühlings die kurdische Freiheitsbewegung auf die Seite weder des Baath-Regimes noch der hegemonialen Kräfte und der islamistischen Opposition geschlagen hat, gilt dies auch in der Palästinafrage. Nur indem auf dem sogenannten »dritten Weg« bestanden wird, kann eine nachhaltige Lösung für ein demokratisches Zusammenleben der Völker erzielt werden. Allein mit der Lösung der demokratischen Nation, der Idee des demokratischen Konföderalismus können diese langjährigen Probleme gelöst werden. Im Endeffekt handelt es sich bei allen Völkern um alteingesessene Völker der Region. Sowohl in Kurdistan als auch in Palästina wirken sich die Zersplitterung und die Bestrebungen der »Teile und herrsche«-Politik negativ auf eine mögliche Einheit und eine Lösung für dieses Problem aus.

Im Endeffekt sehen wir bei den meisten Konflikten in der Region, dass die hegemonialen Kräfte immer wieder auf die Spaltung der Völker durch Nationalismus oder Religion setzen. Auch die Auseinandersetzungen mit Abu Xewla in Deir ez-Zor im September haben das wieder verdeutlicht. So wurde immer wieder versucht, das Narrativ eines kurdisch-arabischen Konflikts in die Welt zusetzen, obwohl das Problem einen anderen Hintergrund hatte. Auch stammte ein Großteil der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) vor Ort selbst aus Deir ez-Zor und der arabischen Gesellschaft, und fast alle Gefallenen auf Seiten der QSD waren arabisch. Bei dem Konflikt selbst handelte es sich um den Versuch des Iran und des Assad-Regimes, in Deir ez-Zor die Kontrolle zu übernehmen. Dafür wurden iranische Milizen in der Region gestärkt und massiv mit frischen Waffen ausgerüstet. Der Plan scheiterte, denn der Zusammenhalt der Volksgruppen konnte nicht gebrochen werden. Im Nachhinein lässt sich vermuten, dass der Plan weit umfangreicher war. Es sieht so aus, als habe die Hoffnung des Regimes und des Iran darin gelegen, erst Deir ez-Zor und von dort aus weitere Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Angriff kann als Racheaktion des Regimes an der Bevölkerung von Deir ez-Zor bezeichnet werden, weil sie sich für die Selbstverwaltung und gegen das Regime entschieden hat.

Wenn wir uns die Lage in Kurdistan und des Besatzerstaates Türkei anschauen, sehen wir, dass die ökonomische Situation in der Türkei sich immer noch nicht verbessert hat, obwohl Erdoğan bei vielen Staaten der Region um Geld gebettelt hat. Die oppositionellen Kräfte sind geschwächt. Die Republikanische Volkspartei (CHP) ist gespalten, die Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker HEDEP (ehemals Demokratische Partei der Völker HDP und Grüne und linke Zukunftspartei YSP) hat auf Grund jahrelanger Festnahmen und immenser Repression Schwierigkeiten, die gesellschaftlichen Kräfte zu bündeln. In den letzten Jahren wurde verstärkt versucht, die gegen Abdullah Öcalan angewandte intensivierte Isolationsfolter auf die Zehntausenden politischen Gefangenen auszuweiten. Die Zahl der schwerkranken Gefangenen in den Gefängnissen wächst auf Grund der Haftbedingungen immer weiter und einer immer größeren Anzahl von ihnen wird die Behandlung verweigert. Gleichzeitig steigt die Zahl derer, die trotz abgesessener Strafe nicht entlassen werden.

In Rojava zielten die Angriffe des faschistischen türkischen Staates Anfang Oktober darauf ab, die gesamte Gesellschaft zu bestrafen, weil sie trotz des Spezialkriegs und der anhaltenden Angriffe (Krieg niederer Intensität) weiterhin auf ihrer Revolution besteht und den Kampf nicht aufgibt. Deswegen konzentrierten sich die Angriffe auf Strom- und Wasserwerke, Ölförderanlagen, Gesundheitszentren und Schulen. Gleichzeitig werden ununterbrochen gezielte Drohnenangriffe auf führende Kräfte der Revolution sowie Zivilpersonen fortgesetzt. Zusätzlich wird mit allen möglichen Mitteln versucht, dem Islamischen Staat wieder zum Erstarken zu verhelfen und neue Unruhen in der Region zu befeuern.

In Südkurdistan sehen wir eine von Tag zu Tag engere Zusammenarbeit zwischen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) der Barzanîs und dem faschistischen türkischen Staat. Besonders in den letzten Monaten verwendet die PDK viel Energie darauf, für die türkische Besatzungsarmee Straßen in die Guerillagebiete zu bauen und dort die Militärposten der Besatzer zu bewachen; die Guerilla hat immer wieder Aufnahmen davon veröffentlicht. Dahinter steckt das Kalkül der PDK die türkische Diktatur bei der Bekämpfung der Guerilla zu unterstützen, und sollte diese sich wehren und dabei Ziele der PDK treffen, dies als Angriff auf sich zu werten. Das würde dann so dargestellt, als habe die PKK die PDK angegriffen und als rechtfertige das alle dann folgenden Gegenschläge. Seit Jahren warnt die Guerilla die PDK und fordert sie auf, ihren Verrat und ihre Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht Türkei zu beenden, um nicht einen erneuten »Bruderkrieg« zu provozieren. Bis heute ist diese Warnung allerdings vergeblich. Ohne die Unterstützung der PDK könnte die Türkei sich unmöglich so weit in die Guerillagebiete hineinwagen. Gleichzeitig erleben wir in Südkurdistan eine massive Repression des PDK-Regimes gegen eine kritische Berichterstattung über die PDK/Barzanî-Macht und deren Machenschaften.

Diese enge Zusammenarbeit zwischen dem türkischen und dem PDK/Barzanî-Regime bezieht sich jedoch nicht nur auf Südkurdistan, sondern auch auf Rojava und Nordkurdistan. Dort versucht die Türkei mit Hilfe dieser kurdischen Kollaborationskräfte die revolutionären Bestrebungen zunichte zu machen.

Hinzu kommt, dass die Türkei über die PDK/Barzanî versucht auf die Politik des Iraks Einfluss zu nehmen. Im Zusammenhang mit dem Plan Erdoğans, getrieben von neoosmanischen Ambitionen, die Türkei in den Grenzen des Misak-ı Millî [Nationalpakt von 1920; Anm. d. Red.] neu zu ordnen, geht es ihr um die Kontrolle der gesamten Grenzregionen. Dabei hat sie es besonders auf Mûsil (Mosul) und Kerkûk abgesehen, eine sehr erdölreiche Region. Dafür hat der türkische Geheimdienst MIT seine Machenschaften in Südkurdistan massiv intensiviert und gleichzeitig versucht die Türkei mit dem Aufstauen von Flusswasser, noch mehr Druck auf den Irak auszuüben.

Die Angriffe der türkischen Besatzerarmee gegen die befreiten Gebiete der Guerilla werden ununterbrochen fortgesetzt. Weiterhin werden dabei Chemiewaffen eingesetzt und massive Bombardements gegen Stellungen der Guerilla geflogen. Immer wieder versucht die Türkei mit Hilfe der PDK von südkurdischer Seite aus Überraschungsoffensiven. Trotz all dieser massiven Angriffe, ununterbrochener Drohnenflüge über den Guerillagebieten und immer mehr Außenposten der türkischen Besatzungsarmee leistet die Guerilla einen Widerstand historischen Ausmaßes. Jüngst konnte sie im Rahmen einer revolutionären Offensive in Zap 49 Besatzer ausschalten und 12 in Metîna.

Perspektivisch sieht es nicht danach aus, als würden sich die bestehenden Konflikte kurzfristig entschärfen, das Konfliktpotential scheint eher noch zu wachsen. Daher ist es umso wichtiger, mit hohem Tempo und voller Energie am Aufbau der demokratischen Nation zu arbeiten und endlich die physische Freiheit Abdullah Öcalans zu erreichen, um die Region in eine neue Phase eintreten zu lassen.

 

 Fußnoten

1https://www.timesofisrael.com/for-years-netanyahu-propped-up-hamas-now-its-blown-up-in-our-faces/

2https://medyanews.net/turkish-media-expresses-hope-of-shelving-of-trade-corridor-amid-israel-hamas-conflict/ (Weil in der Türkei die Presse als Sprachrohr der Regierung agiert, können Pressestimmen als indirekte Regierungserklärungen verstanden werden).


 Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024