NKP PlakatAtomkraftwerke in der Türkei

Kommt der nukleare Wahnsinn nun auch in die Türkei?

Ercan Ayboğa, April 2014

Die nächsten Wochen und Monate entscheiden darüber, ob der Bau des ersten Atomkraftwerks (AKW) des türkischen Staates in der Provinz Mersin offiziell beginnen wird. Anfang April 2014 hat das Konsortium des Akkuyu-AKWs – angeführt vom russischen Staatsunternehmen ROSATOM – die zweimal überarbeitete Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) beim türkischen Ministerium für Umwelt und Stadtplanung eingereicht. Die Proteste und Kampagnen gegen den Bau laufen zurzeit auf Hochtouren und es ist spannend, ob die zivilgesellschaftlichen Organisationen dieses für Mensch und Natur extrem gefährliche Projekt stoppen können.

 

Grundlagen zum Akkuyu-AKW

Das Akkuyu-AKW ist das erste der drei bisher geplanten Atomkraftwerke in der Republik Türkei und liegt 140 Kilometer westlich der Großstadt Mersin am Mittelmeer. Mehrere Versuche, eine Ausschreibung erfolgreich zu Ende zu führen, waren seit den 1970er Jahren gescheitert. Doch im Jahre 2005 wurde ein Investitionsprogramm beschlossen; die notwendige Gesetzesgrundlage wurde Anfang 2007 geschaffen. Drei Jahre später schloss die türkische Regierung ein Abkommen mit der russischen Regierung, wonach das russische Unternehmen Atomstroyexport JSC – ein Tochterunternehmen der staatlichen ROSATOM – das Kraftwerk nach dem Betreibermodell BOT (Build Operate Transfer) fertigstellen soll. Sogleich gründete die russische Firma im Dezember 2010 die türkische Aktiengesellschaft »Akkuyu NGS Elektrik Üretim A. Ş.«, die für den Bau, den Betrieb, die Stilllegung und den späteren Abbau des AKWs zuständig und verantwortlich sein soll. Dass jetzt der Bau so weit fortgeschritten ist, hängt mit den gestiegenen finanziellen Möglichkeiten des türkischen Staates zusammen.

Der Bau sollte ursprünglich 20 Mrd. US-Dollar kosten, inzwischen wird von 25 Mrd. ausgegangen. Diese hohen Kosten kommen unter anderem daher, dass die grundlegende Infrastruktur für AKWs mit aufgebaut werden muss und besondere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind.

Diese Kosten werden allein vom Unternehmen Akkuyu NGS E. Ü. A.Ş. getragen, ebenso die zu erwartenden satten Gewinne. Nach einem zugesicherten hohen Stromabnahmepreis (12,35 Eurocent/kWh) über 15 Jahre soll das Akkuyu-AKW an die türkische Regierung übergeben werden.

Vier Reaktoren (des Typs WWER-1200/AES-2006) mit einer Leistung von je 1 200 MW sollen nach etwa sieben Jahren Bauzeit errichtet werden. 4 800 MW würden einer jährlichen Stromproduktion von 35 000 GWh und damit etwa 5 % des Staatsbedarfs entsprechen. Und das über 49 Jahre.

Risiken und Folgen des Akkuyu-AKWs

Es gibt genug Gründe gegen AKWs. Die Anti-Atom-Bewegung in der BRD hat genau 100 Gründe1 zusammengetragen, die hier nicht genannt werden, doch grundlegend für alle AKWs in der Türkei zutreffen. Stattdessen sollen die in der Türkei viel diskutierten Gefahren aufgeführt werden.

  • Das von der türkischen Regierung bei Wasserkraftwerken verwendete Argument der Reduzierung der Energieabhängigkeit vom Ausland wird bei den AKWs außer Acht gelassen und es wird vielmehr auf die angebliche Diversifizierung der Energiequellen verwiesen. Die Türkei hat keine eigenen Uranvorkommen, und so wird die Abhängigkeit von Russland, das auch schon einen Großteil des benötigten Erdgases liefert, um ein Weiteres erhöht.

  • Es ist allseits bekannt, dass es in vielen Gebieten der Türkei starke Erdbeben mit vielen Menschenopfern gegeben hat. Gerade auch das AKW Akkuyu liegt in einem stark erdbebengefährdeten Gebiet, denn nicht weit entfernt verläuft eine tektonische Verwerfung. Diese war bereits in der Vergangenheit Ursache für mehrere starke Erdbeben. Auch deshalb wird die Auslegung des AKWs für ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richterskala heftig kritisiert. Unglaublich und lächerlich ist die dabei ausgeschriebene Katastrophenzone in einem Umkreis von fünf Kilometern. Im Falle eines Super-GAUs wären die Provinzen Mersin, Antalya und Adana mit ihren vielen Millionen EinwohnerInnen direkt betroffen, die Türkei und das östliche Mittelmeer im weiteren Sinne.

  • Die Kosten von 25 Mrd. US-Dollar sind enorm. Das ohnehin abzulehnende Projekt wird damit noch problematischer. Mit dieser Summe könnte ein Vielfaches an Strom mittels anderer Erzeuger erzielt werden. Vor allem könnte mit etwas mehr als der Hälfte dieses Geldes das veraltete Stromnetz und -system (jährlicher Verlust zwischen 20 und 23 % des gesamterzeugten Stroms) komplett erneuert und so mehr Strom eingespart werden, als das AKW produzieren soll. Wenn 15 Jahre lang Strom von diesem Kraftwerk bezogen werden muss, kann das aufgrund eventueller Stromüberschüsse andere Stromproduzenten negativ treffen.

  • Genauso problematisch wie die Baukosten sind die Kosten für den Rückbau des AKWs nach einer Betriebszeit von 49 Jahren, für die ROSATOM nicht in die Pflicht genommen wird. Das bedeutet, dass der Staat bzw. die Gesellschaft dafür aufkommen muss. Wenn wir bedenken, dass es sich um weitere Milliarden handelt, wird das Projekt noch unattraktiver. Im Falle eines GAUs können die Rückbaukosten noch weiter in die Höhe schießen.

  • Der nukleare Abfall wird wahrscheinlich teilweise an Russland geliefert werden, wo ROSATOM für die (End-)Lagerung sorgen soll. Der Atommüll würde mit Schiffen durch den Bosporus transportiert, womit die 15-Millionen-Stadt Istanbul bei einem Unfall einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt würde.

  • In Izmir wurde die unterirdische Lagerung (nur unter einer dünnen Erdschicht) nuklearer Stoffe (Europium 152 und 154) bekannt und das ganz in der Nähe einer bewohnten Siedlung. Das wird seit Jahren illegal durchgeführt und kam ans Tageslicht, weil die radioaktive Strahlung in der betroffenen Region um das 140-Fache höher als normal gemessen worden war. Die Regierung hat sich bis heute nicht dazu erklärt. Ein weiteres Beispiel, wie der türkische Staat eigene Gesetze übergeht. Der Fall von Izmir zeigt auch, dass die Türkei absolut unfähig ist, nukleare Abfälle – selbst vorübergehend – zu lagern. Angesichts der Tatsache, dass im türkisch-russischen Abkommen die Frage der nuklearen Abfälle nicht abschließend behandelt wurde, besteht die Gefahr, dass viele Regionen radioaktiv verseucht werden könnten.

  • Da das Kraftwerk mit Meerwasser gekühlt werden soll, wird sich das Meerwasser in der Küstenregion deutlich erwärmen und Fauna und Flora erheblich beeinflussen. Zum Beispiel wären die zahlreichen Vogel- und Schildkrötenkolonien bedroht.

Widerstand

Bereits mit dem Auftauchen von Plänen für ein AKW im Westen von Mersin in den 1970er Jahren gab es Kritik, allerdings in sehr kleinem Rahmen. Das wiederholte sich in den 1990ern, diesmal war die Kritik schon stärker. Erst mit dem Investitionsprogramm für AKWs im Jahre 2005 kam die eigentliche und bis heute andauernde Protestbewegung in Bewegung. Nach einigem Hin und Her gründete sich 2006 schließlich die wichtigste Bewegung gegen Kernkraftwerke in der Republik Türkei: die Anti-Nuklear-Plattform (NKP – Nükleer Karşıtı Platform). Während 2005 und 2006 die Anti-AKW-Bewegung auch in den bürgerlichen Medien Widerhall fand, konnte bis 2010 nicht mehr viel von ihr wahrgenommen werden. Erst mit dem türkisch-russischen Staatsvertrag von 2010 bekam sie wieder Auftrieb. Wie viele soziale Bewegungen kann sie dann Akzente setzen, wenn die Gefahr als real empfunden wird.

Die NKP ist unter der folgenden türkischsprachigen Internetpräsenz zu finden: http://portal.nukleerkarsitiplatform.org/. Sie ist türkeiweit organisiert und besteht aus lokalen Plattformen. Sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen können Mitglied werden. Somit ist sie offen für verschiedenstes Engagement. Berufsgruppen sind stark involviert, vor allem Elektroingenieure. Diese Form einer sozialen Bewegung ist für die Republik Türkei ungewöhnlich, da auf vielen anderen Gebieten, wie bei den staudammkritischen bzw. Wasserbewegungen, untereinander eine starke Konkurrenz herrscht.

In Mersin wie auch in Sinop am Schwarzen Meer ist die NKP die treibende Kraft gegen den Bau von AKWs und kann zu Demonstrationen viele tausend Menschen in ihren Provinzhauptstädten erreichen. Sie zeigt seit Jahren ununterbrochen wahrnehmbare Aktivitäten. In Izmir besteht auch eine aktive NKP-Gruppe, die vor allem gegen die Lagerung von Atommüll agiert.

Ein ähnliches Problem dieser Bewegung ist der Umstand, dass die in erster Linie betroffenen Personen – also diejenigen, die in der Nähe des AKWs leben – kaum aktiv in der NKP organisiert sind. Die Plattform wird hauptsächlich von Menschen aus den Provinzhauptstädten getragen. Allerdings muss im Falle von AKWs festgehalten werden, dass bei einem GAU die Menschen in den etwas entfernteren Städten deutlich mehr betroffen sind als bei einem Staudammbau oder anderen Großprojekten. Insofern sind sie ebenso Betroffene. Wie auch in anderen Ländern zeigt sich in der Türkei der Kontrast zwischen Land und Stadt deutlich. Die Menschen auf dem Land leben oft in ärmlicheren Verhältnissen, erhoffen sich vielleicht hohe Entschädigungszahlungen oder Arbeitsplätze und sind im Durchschnitt weniger kritisch.
Das Gegenmittel ist eindeutig: Die AktivistInnen aus den Städten müssen so lange auf dem Land mit den Menschen arbeiten, bis die Mehrheit vom Kampf gegen ökologische und soziale Zerstörung überzeugt werden kann.

Wenn der Bau tatsächlich beginnen sollte, wird die Anti-Atom-Bewegung zusammen mit den Bewegungen gegen zerstörerische Großprojekte wie Staudämme und Wasserkraftwerke das Potenzial entwickeln, zu einer der bedeutendsten Bewegungen in der Republik zu werden. Durch die von AKWs ausgehende riesige Gefahr kann ein wichtiger Teil der Gesellschaft zum Protest auf die Straße gebracht werden.

Hinkende Vergleiche

Ein wichtiges Problem sind unpassende Vergleiche mit – im Besonderen – westlichen Staaten in Bezug auf die Kernkraft. Öfters schon wurde behauptet, mehr und mehr Staaten würden sich von der Kernkraft verabschieden und nur wenige – wie die Republik Türkei – weiter daran festhalten. Das wird vor allem deswegen behauptet, um die eigene Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Kernkraft im eigenen Land abgelehnt werden müsse. Doch entspricht dies leider nicht der Realität.

Insgesamt zehn Staaten haben die Kernkraft, trotz Baubeginn, nicht in Angriff genommen, sind bereits ausgestiegen oder haben es beschlossen. Darunter fällt auch die BRD ab 2011. Allerdings gibt es mehr als 30 Staaten, die weiterhin AKWs betreiben, sogar neue planen, oder die ersten Anlagen bauen bzw. AKW-Programme beschlossen haben.

Zwar nimmt weltweit die Zahl der AKWs insgesamt seit über zehn Jahren nicht mehr zu, was auch an den seit den 1980er Jahren existierenden Anti-AKW-Bewegungen liegt. Doch ist die Anzahl der AKWs mit über 4302 relativ stabil. Eine AKW-Renaissance erfolgte in kleinem Ansatz mit der Diskussion über die Klimaveränderung ab 2007. Mehrere Lobbyverbände und Staaten forderten mehr AKWs, da sie angeblich zu den »erneuerbaren Energiequellen« gehörten. So haben einige Staaten erneut beschlossen, wieder auf AKWs zu setzen. So auch die USA. Im selben Jahr, 2009, kippte die bundesdeutsche Regierung den sogenannten »Atomausstieg«.

In dieser Phase des »Aufschwungs« der Kernkraft passierte etwas, das eigentlich nicht passieren dürfte: die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 mit dem zweiten großen Super-GAU der Menschheitsgeschichte. Und das im Technologieland Japan, das als eines der sichersten und zuverlässigsten angesehen worden war. Dies beeinflusste einige andere Staaten, wieder mehr Abstand zur Kernkraft zu gewinnen; u. a. die BRD, in der seit über 30 Jahren eine starke Anti-Atom-Bewegung aktiv ist.

Doch auch diese Entwicklung gerät ins Stocken. Jetzt versuchen beispielsweise die AKW-Betreiber und deren Lobbyisten in der BRD, den deutschen Atomausstieg, der bis 2022 terminiert worden war, zu kippen. Auch haben die Konzerne gerade erreicht, dass ihnen von der Bundesregierung Milliarden für den Ausstieg gezahlt werden. Dieser Beschluss des Verfassungsgerichtes spielt denen in die Hände, die den Atomausstieg gern auf Jahrzehnte hinausschieben wollen.

Und auch Japan hat dieses Jahr angekündigt – trotz des Super-GAUs –, viele der 2011 stillgelegten AKWs wieder in Betrieb zu nehmen.

Türkische und kurdische Organisationen sowie Einzelpersonen verkennen diese Entwicklungen und die laufenden internationalen Diskussionen. Sie übernehmen nur den Teil der Entwicklungen und Nachrichten, die ihnen in ihre Kampagne passen. Es sollte aber eine realistische Auseinandersetzung geführt werden. Eine umfangreiche Diskussion könnte eine tiefergehende Auseinandersetzung mit sich bringen, die langfristig von großem Nutzen wäre. Ziel einer erfolgreichen Kampagne muss auch sein, Personen und Initiativen, die weniger politisch aktiv und vom Staat beeinflussbar sind, zu erreichen. Denn das Problem – angesichts der bestehenden politischen Verhältnisse in der Türkei – wird Mensch und Natur noch Jahrzehnte begleiten.

Fußnoten:
1 https://www.100-gute-gruende.de/lesen.xhtml

2 Im Dezember 2013 waren in 31 Ländern 437 Kernkraftwerke mit einer installierten elektrischen Bruttoleistung von 393 GWe in Betrieb und in 15 Ländern 70 Kernkraftwerke mit einer elektrischen Bruttoleistung von knapp 74 GWe im Bau. (http://www.kernenergie.de/kernenergie/themen/kernkraftwerke/kernkraftwerke-weltweit.php)