Mit der Perspektive der Jineolojî – Die Frauenbibliothek in Suleymaniya
Gisela Rhein, Bibliothekarin
Frauen brauchen einen Raum für sich um zu schreiben, zu denken und um ihre Gefühle und Geschichten zu erzählen. Diese Forderung hat Virginia Wolf in ihrem Buch »Ein Zimmer für sich allein« schon 1929 literarisch formuliert.
Auch Şehid Zilan war von diesem Buch beeindruckt und hat viele Jahre später diesen Gedanken umgesetzt und symbolisch den Grundstein für einen Raum gelegt, der für alle Frauen offen ist. In Suleymaniya in Bașur (Südkurdistan) im Nordirak konnte ich diesen Ort besuchen, in seinen Räumen arbeiten und Stück für Stück seine Geschichte und Realität kennenlernen.
Seit 2018 wohnte und arbeitete Şehîd Zîlan in Suleymaniya an der Jineoloji-Akademie und als Journalistin. Ihre Recherchen führten sie an viele Orte Kurdistans, vor allem in Südkurdistan. Auf ihren Reisen durch das Gebiet des alten Mesopotamien sammelte sie persönliche Geschichten von kurdischen Frauen, mündlich von Generation zu Generation weitergegebene Erzählungen, traditionelle Handarbeiten und Bücher. Eine Fülle von unbeachteter Kreativität, wenig wertgeschätzt und kaum bekannt, musste aus dem Verborgenen geholt werden, um sie der kurdischen sowie der internationalen Öffentlichkeit zugänglich machen zu können.
Ihre Idee war es, dieses Wissen an einem Ort für alle Frauen frei zugänglich zu machen. Mit ihrer Fähigkeit zuzuhören, ihrem großen Interesse am Leben kurdischer Frauen und ihrer warmen Zugewandtheit schuf sie im Lauf der Zeit ein Netzwerk von Frauen, die sie bei der Umsetzung ihrer Idee unterstützten.
Frauen aus Kunst, Kultur und Politik nutzten ihre gesellschaftlichen Verbindungen, um auch materiell eine Basis zu schaffen.
Der Traum eines Zentrums für Frauen (öffentliche Bibliothek, Archiv und Begegnungsort) wurde immer greifbarer.
Der Ort sollte die Geschichte der kurdischen Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans repräsentieren. Suleymaniya als Kunst- und Literaturstadt war und ist dafür genau der richtige Ort. Erinnerungen an bedeutende kurdische Künstler und Literaten finden wir überall in der Stadt. Kurdische Künstlerinnen und Schriftstellerinnen sind jedoch kaum sichtbar. Die Stadt gilt für alle vier Teile Kurdistans als Zentrum und blickt auf eine große literarische Tradition für den gesamten Mittleren Osten zurück. Hier leben Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans. Für viele von ihnen ist die Stadt nach ihrer Flucht vor Krieg und Vertreibung zur neuen Heimat geworden.
Der Gründungsgruppe gelang es materielle Unterstützung zu organisieren, geeignete Räume zu finden und Mitarbeiterinnen einzustellen.
Narîn ist eine von ihnen. Sie war von Anfang an dabei: »Ich komme aus Efrîn und bin Kurdin aus Rojava (Westkurdistan in Syrien). Ich arbeite als Mitarbeiterin hier im Zentrum und der Bibliothek. Am Aufbau dieses Projekts haben Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans mitgewirkt. Alle haben einen anderen kulturellen Hintergrund und sprechen einen anderen kurdischen Dialekt, aber hier sind wir zusammen gekommen, um gemeinsam diese Frauenbibliothek zu eröffnen. Das gibt diesem Ort eine besondere Bedeutung. Dieses Zentrum in Suleymaniya zu eröffnen, hat ebenfalls eine wichtige Bedeutung, denn Suleymaniya hat einen eigenen kulturgeschichtlichen Hintergrund. Die Stadt gilt als Literatur- und Kulturhauptstadt¹. Genau hier wollten wir den ersten Stein für das Forschungszentrum, das Archiv und die Bibliothek legen.«
Die praktische Umsetzung konnte beginnen. Das Material wurde geordnet, Möbel für die Räume ausgesucht und Präsentationsmöglichkeiten diskutiert. Mit dem Kunstprojekt Xwebûn² begann 2021 die praktische Arbeit. Hier ein Zitat aus dem Katalog der Ausstellung: »Es ist das Ziel von Xwebûn Künstlerinnen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Identität zu zeigen, sich selbst zu finden und ihr wahres Selbst künstlerisch aus Frauenperspektive auszudrücken.«

Die Innenräume der Frauenbibliothek. Foto: Gisela Rhein
Langsam füllte sich der Ort mit Leben. Frauen weltweit zeigten Interesse an diesem Projekt und erste Kooperationen bahnten sich an. Die offizielle Eröffnung wurde für den Herbst 2022 geplant.
Eine optimistische Şehîd Zîlan sprühte vor Ideen und plante gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Unterstützerinnen die Zukunft der Bibliothek und neue Projekte.
»Ich habe zu wenig Zeit, um all die Projekte, die ich im Kopf habe, umzusetzen.« Şehid Zilan
Aber es kam anders. Kurz vor der geplanten Eröffnung wurde sie am 04.10.2022 im Auftrag des türkischen Geheimdienstes MIT mit elf Schüssen auf offener Straße ermordet. Sie war auf dem Weg in die Bibliothek. Ihr Mörder Ismail Rasim Rifat Peker kam aus der Türkei und war dort im Gefängnis. Für den Mord an Şehîd Zîlan wurde ihm eine Strafminderung versprochen. Heute ist bekannt, dass er sie schon ca. drei Monate vor ihrer Ermordung beobachtet hatte.
Was machte sie zum Hassobjekt der türkischen Politik? Eine Mitarbeiterin der Bibliothek formuliert es so: »Sie war ein Sinnbild für die Kraft der Frau, eine Quelle der Kraft und Inspiration. Sie war eine Stütze für viele Frauen, denn die Gespräche mit ihr haben viele Frauen gestärkt. Es fiel ihr leicht Frauen zu organisieren, Pläne umzusetzen und damit weibliche Kraft in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Sie war wirklich eine große Bedrohung für das Patriarchat, für die patriarchale Gesellschaft und damit ein Angriffsziel im ideologischen Krieg gegen Frauen. Ein großartiger Mensch wurde ermordet!«
Seitdem die Türkei ihre aggressive und repressive Politik nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Südkurdistan umsetzt und verfestigt, steigt die Zahl der gezielten Morde an Menschen, die sich für eine demokratische und antipatriarchale Gesellschaft einsetzen. Solche Morde sind nicht nur eine Bedrohung für alle Menschen, die sich für eine demokratische und antipatriarchale Gesellschaft einsetzen, sondern sie sollen auch als Signal dienen. So auch der Mord an Şehîd Zîlan. Er sendet ein Zeichen an alle Frauen, die in der Region politische und antipatriarchale Arbeit machen. Er soll Angst erzeugen, aber der Kern der unterstützenden Frauen ließ und lässt sich davon nicht abschrecken.³
Was lässt sich dem Verlust entgegensetzen?
Die Antwort ist klar: Die Träume und Pläne von Şehîd Zîlan weiterführen! Für die Mitstreiterinnen und Unterstützenden begann nach dem Mord eine Phase des Trauern und Neufindens. Die Frauen mussten Şehîd Zîlans Ideen nun selber weitertragen und -entwickeln. Aus Sicherheitsgründen musste ein neues Haus gefunden werden, in einer als sicher eingeschätzten und belebten Gegend.
Die Ausdauer des Bibliotheksteam führte zum Erfolg: Am 24. Juli 2023 wurde die Bibliothek feierlich mit Gästen aus allen vier Teilen Kurdistans und aus Europa eröffnet.
Ich hatte die Möglichkeit an diesem Ort mehrere Wochen zu arbeiten. Beim Betreten des Eckgebäudes in einer belebten Straße, fiel mir zuerst der Hof der Bibliothek auf. Groß ist er nicht und, wie in Suleymaniya üblich, mit weißem Beton ausgegossen. Doch gibt es hier Granatapfel-, Orangen und Olivenbäume und viele Blumentöpfe, in denen die Samen aufgehen. Hier lässt sich gemütlich Tee trinken, wenn die Sonne Suleymaniyas nicht zu heiß brennt.
Im Haus, verteilt auf zwei Stockwerke, sind die Bibliothek und das Archiv untergebracht. Jeder Raum strahlte auf mich eine einladende und offene Atmosphäre aus. Unten im Arbeitsbereich mit Blick auf die Sofas für Gäste habe ich am Computer gesessen und in der Küche jeden Morgen das Frühstück und das Zusammensein genossen. Vor der kleinen Bildergalerie bedeutender kurdischer Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen im Sitzungs- und Veranstaltungsraum habe ich immer wieder Halt gemacht.
Im ersten Stock hat mich der Erinnerungsraum an Şehîd Zîlan sehr berührt. Einige ihrer persönlichen Gegenstände erinnern stellvertretend auch an alle ermordeten Frauen aus der Frauenbewegung aus allen Teilen Kurdistans.
In diesem Stockwerk finden wir auch einen kleinen Kinderbereich sowie einen großen, funktional und gemütlich eingerichteten Ausleihbereich, der auch gut als Lese- und Studienraum geeignet ist. Daneben ein Magazinbereich und einen Ausstellungsraum für traditionelle Handwerksarbeiten. Überall im Haus erinnern Steine an die Landschaften in allen Teilen Kurdistans. In Şehîd Zîlans Leben spielte die Natur eine große Rolle. Daran erinnern auch viele künstlerische Nachbildungen von Granatäpfeln. In der wunderschönen Landschaft von Hawraman, ca. zwei Stunden Autofahrt von Suleymaniya entfernt, stehen unzählige Granatapfelbäume. Ihre Früchte sind von großer Bedeutung für die Kultur der Region und die Frauen dort tragen viele Geschichten in sich. Immer wieder haben mir Menschen erzählt, wie gern sich Şehîd Zîlan dort aufgehalten hat.
4000 Bücher von Frauen und über Frauen in den beiden kurdischen Hauptdialekten Soranî und Kurmancî
4000 Bücher von Frauen und über Frauen in den beiden kurdischen Hauptdialekten Soranî und Kurmancî und den Sprachen Farsi, Türkisch, Arabisch stehen in den Regalen. Es gibt auch einen kleinen Bestand mit europäischen Sprachen und alle Ausgaben des Jineoloji-Magazins. Seit zehn Jahren erscheint das Magazin!⁴
Hier wird systematisch gesammelt und wir finden Publikationen, die in kleinen Auflagen erschienen sind und auch deshalb kaum Beachtung gefunden haben. Durch Spenden kann die Bibliothek laufend erweitert werden und auch eigene Bücher herausbringen.
Eine weitere wichtige Aufgabe, der sich die Bibliothek annimmt, ist die Veranstaltungs- und Bildungsarbeit: Lesungen mit anschließender Diskussion, Seminare in Mädchenschulen zu Themen wie Gewalt an Frauen, Mobbing im Internet und Ökologie. Seminare mit Studentinnen der Universität zur Identität der Frauen werden von den drei festen Mitarbeiterinnen und mit ehrenamtlicher Unterstützung organisiert. Die Gründungsmitglieder leisten weiter eine wichtige Unterstützung für die Bibliothek, auch bei der Kontaktpflege mit der regionalen Regierungspartei und ihren Kultureinrichtungen für Frauen. Auch dank ihnen hat die Bibliothek einen offiziellen Status im Irak und in Südkurdistan – ein kleiner Schutz vor Repression.
Die Arbeit dieser, für alle Frauen offenen Kultureinrichtung, ist in einer von patriarchalen Regeln geprägten Gesellschaft nicht leicht. Eine wichtige Unterstützerin der Bibliothek brachte die gesellschaftliche Realität auf den Punkt: »Ich habe geheiratet, weil ich die Grenzen, die mir die Familie gesetzt hat, nur so durchbrechen konnte. Nach der Heirat konnte ich das Haus verlassen, einen Beruf ausüben. Als junges Mädchen durfte ich nicht einmal mehr die Haustür öffnen.«
Diese Bibliothek ist weit mehr als eine Bibliothek. Sie ist ein Ankerpunkt für Frauen, an dem sie ihren Wert als Frau fühlen und erleben können, eine Quelle für weibliches Selbstbewusstsein. Hier arbeiten ausschließlich Frauen, hier engagieren sich Frauen für gesellschaftsverändernde Ideen.
Hier können Frauen ihre Geschichte kennenlernen, hier können sie ihre literarische und ihre wissenschaftliche Arbeit der Öffentlichkeit vorstellen.
Pläne und Träume
Es gibt Pläne für die Weiterentwicklung der Bibliothek:
Der Bestand muss ausleihbar gemacht werden, er muss digitalisiert werden, um ihn international zugänglich zu machen. Auch ein Programm für Kinder zur Lese- und Sprachförderung wäre wünschenswert und eine Sammlung von Audiodateien mit mündlichen Überlieferungen war schon der Traum von Şehîd Zîlan. Nicht zuletzt sollte auch die Zusammenarbeit mit Frauenbibliotheken in anderen Ländern verstärkt werden.
Für diese Pläne und Träume braucht die Bibliothek ein unterstützendes Netzwerk über Südkurdistan hinaus. Engagierte, entschlossene Mitarbeiterinnen und ehrenamtliche Unterstützerinnen vor Ort hat sie schon!
Für alle Interessierten hier die Website: pirtukxaneyajinenkurdistan.com
in den Sprachen Englisch, Arabisch, Soranî, Kurmançî, Türkisch
¹ Seit 2019 gilt Sulaymaniyah als Kultur und Literaturstadt. https://slemanicityofliterature.com/
² Xwebûn ist das kurdische Wort für Selbstsein
³ https://pirtukxaneyajinenkurdistan.com/en/post/statement-justice-for-nagihan-akarsel/
⁴ 10 Jahres Feier in Amed am 5.März 2025: https://www.youtube.com/watch?v=Q97tReIIe8w
Titelbild: Eine Gruppe von Frauen treffen sich in der Frauenbibliothek. Foto: Gisela Rhein