Frauen im Widerstand gegen die koloniale Machtpolitik im Nahen Osten
Ezda Deniz Stara, Frauenaktivistin
Die Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Umgestaltungsprozess, um die strukturelle Krise des hegemonialen Systems zu überwinden. Projekte wie der IMEC-Korridor, das Abraham-Abkommen und das David-Korridor-Projekt greifen in die vor über hundert Jahren festgelegte geopolitische Ordnung und die Verteilung des Kapitals ein. Das Ziel besteht darin, die Ost-West-Blockbildung, den Status quo der klassischen Kolonialzentren und die damit verbundenen Hindernisse durch Nationalstaaten zu überwinden, um ein neues, global vernetztes System für unbegrenzten Kapitalverkehr und neue Profitquellen zu schaffen. Das Zentrum dieses Umbruchs bildet der Nahe Osten – und in besonderem Maße Kurdistan.
Vor hundert Jahren setzte Großbritannien nach dem Völkermord an den Völkern im Nahen Osten die Gründung von Nationalstaaten durch. Das Modell des Nationalstaates war eine neue Form des Kolonialismus und zugleich die brutalste Ausprägung des Kapitalismus. Die Kurdinnen und Kurden wurden mit dem Vertrag von Lausanne zum größten Opfer dieses genozidalen kolonialistischen Systems. Der hundertjährige Kampf des kurdischen Volkes gegen Kolonialismus und staatliche Zersplitterung hat das Nationalstaaten-Modell des hegemonialen Systems an seine Grenzen gebracht.
Die Fortsetzung kolonialer Gewalt in neuer Form
Doch ebenso, wie die Gründung der Nationalstaaten auf genozidalen Grundlagen erfolgte, wird nun auch deren Überwindung im Sinne der Interessen des Kapitals auf genozidalen Grundlagen vollzogen. Der Prozess, der vor vierzehn Jahren mit dem Einmarsch und dem Völkermord durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Şengal und Rojava begann, setzt sich nun mit dem Sturz des Assad-Regimes durch Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Etablierung neuer Machtstrukturen fort. Die Übergabe der Regierung in Afghanistan an die Taliban, die Öffnung Palästinas für einen Völkermord durch Israel sowie die Invasionsangriffe der Türkei auf Rojava dienen den Kräften, die das Weltgefüge neu gestalten, als Instrumente der Intervention. Dabei legitimieren sie ihre Präsenz in der Region, indem sie Völker, Frauen und Glaubensgemeinschaften systematisch einem Völkermord aussetzen.
Die Frauenfrage als Kern der kolonialen Machtpolitik
Deutlich wird: Im Nahen Osten wird ein Plan umgesetzt, der auf der Vernichtung von Frauen basiert. Seit jeher stützten sich Herrschaft und Staat auf patriarchale Ideologien, die Frauen entrechteten und Männer instrumentalisierten. Sexualisierte Gewalt und die Kontrolle über Frauenkörper waren dabei zentrale Mittel, um Klassen- und Staatsmacht abzusichern. Der aktuelle Umgestaltungsprozess knüpft genau an diese historische Praxis an.
In Afghanistan hat das Taliban-Regime alle Rechte der Frauen abgeschafft und ihnen sogar verboten, in Räumen mit Fenstern zu leben. Nach der Machtübernahme der HTS in Syrien kam es zu zwei groß angelegten Invasionen und Massakern. Der türkische Staat und die ihm unterstehenden Banden der SNA besetzten Teile Rojavas, beginnend mit Til Rifat und Minbic. An der Tişrîn-Talsperre wurde ihr Vormarsch durch einen entschlossenen Widerstand gestoppt, der als das »Stalingrad der Gegenwart« bezeichnet wird.
In Latakia und Tartus ereignete sich ein Massaker an Alawit:innen. Alawitische Frauen wurden verschleppt und ermordet. Im Irak führte das Gesetz über den persönlichen Status zu einer noch komplexeren und erschreckenderen Lage: Schiitische Geistliche einigten sich mit dem sunnitischen Block darauf, IS-Mitglieder im Austausch gegen ein Gesetz freizulassen, das die Verheiratung von neunjährigen Mädchen erlaubt. In der Folge wurden tausende IS-Kämpfer freigelassen. Diese positionierten sich neu, insbesondere im Umfeld von Şengal, was für êzîdische Frauen eine erneute existenzielle Bedrohung darstellt.¹
Der schiitische Halbmond und frauenfeindliche Gesetzgebung
Der iranische Staat installierte entlang des sogenannten schiitischen Halbmondes – von Afghanistan über Pakistan bis in den Irak – ein Organisationsmodell, das mit frauenfeindlichen Gesetzesinitiativen wie der Legalisierung von Kinderehen begann. Die Ähnlichkeit dieser Praxis mit der frauenfeindlichen Mentalität des IS zeigt, dass zwei scheinbar entgegengesetzte Kräfte in ihrer Haltung zu Frauen und Gesellschaft eine Einheit bilden, wobei sich ihre Widersprüche auf einen reinen Machtkampf beschränken.
Der türkische Staat hat mit rund 3.000 Dschihadisten aus der Türkei und aus turkmenischen Gruppen in Mossul eine dschihadistische Struktur geschaffen, die zum Zweck der Intervention gegen das autonome System von Şengal entwickelt wurde. Diese parallele Struktur, errichtet von einer kurdenfeindlichen kolonialistischen Allianz, bedroht die êzîdischen Frauen erneut mit Völkermord.
Alawitische Frauen im Fokus der Gewalt
Die Situation alawitischer Frauen in Syrien bleibt weiterhin ein brennendes Thema. Berichten zufolge wurden zehntausende Alawit:innen ermordet und tausende Frauen verschleppt. Ihr Schicksal ist ungeklärt, immer wieder werden Frauenleichen an Straßenrändern gefunden. Ohne den entschlossenen Widerstand an der Tişrîn-Talsperre wäre es womöglich zu einem noch größeren Völkermord und Femizid an Frauen in Nordostsyrien gekommen.
Die systematische Entführung, Vergewaltigung und Ermordung alawitischer Frauen verdeutlicht die existenzielle Bedrohung, der alle Frauen im Nahen Osten ausgesetzt sind. Revolutionäre und oppositionelle Frauenorganisationen sowie die Öffentlichkeit sind aufgefordert, dieses Thema als dringliche Aufgabe zu behandeln. Aus moralischer wie politischer Verantwortung heraus darf es kein reines Reagieren und Abwarten geben. Nur eine direkt organisierte Widerstandsfront der Frauen, die sich in das politische System einmischt und neue gesellschaftliche Positionen für Frauen schafft, kann diese gewaltsame Politik durchbrechen.
Frauenwiderstand als Gegenmacht
Umso bedeutsamer ist daher der organisierte Widerstand der Frauen. Der Kampf der kurdischen Frauen gegen den frauenverachtenden Dschihadismus und Völkermord hat die Umsetzung neuer politischer Instrumente entscheidend behindert. Die führende Rolle der YPJ im Widerstand von Tişrîn, die Gründung des Syrischen Frauenrats durch Kongra Star in der Region Damaskus–Aleppo sowie die Aufnahme von Frauenrechten in das Abkommen mit der HTS sind von hoher politischer und gesellschaftlicher Bedeutung.
Zudem machten die YPJ und Kongra Star die Massaker von Latakia und Tartus als »zweites Şengal-Massaker« international bekannt, organisierten Hilfskampagnen und sensibilisierten die Weltöffentlichkeit. Dies trug maßgeblich zum Rückzug der HTS-Banden bei. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Legitimität der neuen syrischen Regierung nun an den rechtlichen Status der Frauen geknüpft wurde und damit die demokratische Ausrichtung Syriens festgelegt wurde. Aufgrund dieses Drucks, der auf den dschihadistischen Regierungen und Strukturen lastet, sind Frauen zu einer strategischen Kraft und zum wichtigsten Subjekt des demokratischen Systems bei der Gestaltung Syriens geworden.
Nahost-Frauenkonferenz und neue Allianzen
Eine weitere wichtige Entwicklung war die Nahost-Frauenkonferenz, die vom 15. bis 17. Mai 2025 in der südkurdischen Stadt Silêmanî unter der Schirmherrschaft der Regionalen Demokratischen Frauenkoalition des Nahen Ostens und Nordafrikas (NADA) stattfand. Mit 170 Delegierten aus 18 Ländern wurde auf der Konferenz darüber diskutiert, wie Frauen sich organisieren und dem frauenfeindlichen Dschihadismus sowie dem repressiven Nationalstaatssystem Widerstand leisten können. Die wichtigste Entscheidung war die Vereinbarung eines Organisationsmodells für den gemeinsamen, aktiven Kampf gegen frauenfeindliche Politiken und für Frauensolidarität.
Nationale Einheit als Schlüsselthema
Parallel dazu haben kurdische Frauen in den letzten drei Monaten bedeutende Arbeiten zum Thema »Nationale Einheit« veröffentlicht. Denn eine der Hauptursachen für den Stillstand und die Eskalation der kurdischen Frage ist die nationale Zersplitterung. Kolonialistische Staaten nutzen diese aus und verbünden sich mit der kollaborierenden kurdischen Elite, um Besatzung und Angriffe zu organisieren. Infolgedessen sind kurdische Frauen besonders von Massakern, Verschleppungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen betroffen.
In diesem Sinne stellt die nationale Zersplitterung ein zentrales Problem der kurdischen Frauenfrage dar. Ihre Überwindung und die Entwicklung einer nationalen Einheitshaltung sind daher zentrale Anliegen der kurdischen Frauenbewegung. Aus diesem Grund fanden in allen Teilen Kurdistans Konferenzen zur Nationalen Einheit statt. Politische Parteien, Frauenorganisationen und Persönlichkeiten aus den vier Teilen Kurdistans gründeten daraufhin die »Gemeinsame Nationale Plattform der kurdischen Frauen«. Diese basiert auf einem demokratischen Gesellschaftsverständnis und der Einheit aller gesellschaftlichen Gruppen.
Diese Frauenplattform fasste den Beschluss, eine Nationale Frauenkonferenz abzuhalten. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Konferenz der kurdischen Parlamentarierinnen, die am 28. und 29. Mai 2025 in Amed (Diyarbakır) stattfand. Die Politik der nationalen Einheit der kurdischen Frauenbewegung verdeutlicht den Einigungswillen und ist somit zu einer bedeutenden Kraft für die politische Zukunft Kurdistans geworden.
Die Rolle der Frauen im Demokratischen Gesellschaftsprojekt
In seiner »Initiative für eine Demokratische Lösung und Frieden« hat unser Repräsentant Abdullah Öcalan die Politik der Wahrung, Offenlegung und Stärkung der Frauenstellung als Grundprinzip bestimmt und damit die zentrale Rolle der Frauenbewegung als konstituierendes Element hervorgehoben. Diese Dynamik verlangt, dass Frauen ihren Kampf für Frieden und ein demokratisches Leben gegen Krieg, Faschismus und Dschihadismus intensivieren.
Die Vielzahl der Kräfte, die für die Kriege und den Faschismus im Nahen Osten verantwortlich sind, kann letztlich nur durch eine Gesellschaft überwunden werden, die auf den Werten der Frauenfreiheit basiert. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Abdullah Öcalan mit seinem Fokus auf die Freiheit der Frau die radikalste Analyse und Lösung für historische und aktuelle Probleme entwickelt hat. Der kommende Prozess wird dazu führen, dass hegemoniale Mächte, die ihre Pläne auf dem Rücken der Frauen realisieren wollen, durch eine demokratische Ordnung abgelöst werden, welche die Freiheit der Frauen und das Wohl der Völker in den Mittelpunkt stellt.
In diesem Kontext stellt das »Manifest für eine demokratische Gesellschaft und den Frieden« ein Manifest für die Freiheit der Frauen, ihren Widerstand und ihre politische Mitgestaltung dar. Je mehr Frauen sich auf dieser Grundlage organisieren, desto eher wird aus dem gegenwärtigen Chaos eine solidarische und gerechte Alternative erwachsen.
¹ Im Januar 2025 hat das irakische Parlament eine umstrittene Änderung des Personenstandsgesetzes Nr. 188 verabschiedet, die es ermöglicht, Mädchen ab dem Alter von neun Jahren zu verheiraten, wenn ein religiöses Gericht zustimmt. Feministische Organisationen, Menschenrechtsgruppen und insbesondere die Bewegung freier ezidischer Frauen (TAJÊ) haben diese Gesetzesänderung scharf kritisiert, da sie als Legitimierung von Kinderehen und massiver Rückschritt für die Rechte von Frauen und Mädchen im Irak gilt.

