Was plant die Gülen-Bewegung? Was wird die AKP unternehmen?
Auf dem Weg zu neuen Allianzen
Ismet Kayhan, Journalist
Während die Korruptions- und Bestechungsaffäre die politische Tagesordnung der Türkei bestimmt, verschärft sich der Streit zwischen der Fethullah-Gülen-Bewegung und der Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt.: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung).
Die ersten Widersprüche in der Allianz zwischen der Organisation Fethullah Gülens und der Regierung Recep Tayyip Erdoğans zeigten sich nach dem Entern der Mavi Marmara durch die Israelis. Doch der wahre Grund für den bisher beispiellosen Streit in der Öffentlichkeit zwischen AKP und Gülen-Bewegung ist der Machtkampf.
Die zunehmende Stärke der Gülen-Bewegung von der türkischen Außenpolitik bis zur Justiz und im sozialen Bereich und der Versuch, die Macht allein zu übernehmen, bewegte Erdoğan dazu, einen Feldzug gegen Privatschulen zu führen, die eine wichtige Rolle spielen in der gemeinschaftlichen Organisation der Gülen-Gemeinde.
Der Bildungssektor gehört zu den Hauptfaktoren für die Verbreitung der Gülen-Ideologie. Nicht nur Privatschulen, sondern auch Işık-Häuser (Lichthäuser), Studentenwohnheime, Universitäten … Es ist eine starke Organisation, die fast jeden in das geistige Klima der Gemeinde miteinbezieht. Sie breitet sich über den Bildungssektor bis zur gesellschaftlichen Grunddynamik aus, das heißt, sie streckt ihre Hände bis zu den Familien aus. In dieser Hinsicht sind die Privatschulen die Kapillaren der Gülen-Bewegung.
Die Verhaftung Başbuğs und die Forderung nach Waffenruhe
Die Verhaftung des ehemaligen türkischen Generalstabschefs Ilker Başbuğ war eine Aktion der Gülen-Bewegung. Wie auch weitere Gerichtsverfahren, zum Beispiel die »KCK«-Verfahren (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) oder das »Balyoz«-Verfahren (türk.: Vorschlaghammer; Name eines Putschplanes der türkischen Streitkräfte). Doch die Verhaftung Başbuğs störte die AKP-Regierung erheblich. Daraufhin bot der Ministerpräsident der Gülen-Bewegung gewissermaßen eine »Waffenruhe« an. Aber das akzeptierte diese nicht und ließ sogar Anzeichen für weitere Operationen erkennen. So war auch die Einvernahme des Geheimdienstchefs Hakan Fidan ein direkter Angriff auf Erdoğan.
Die Gülen-Bewegung bezeichnet sich als eine transnationale religiöse und soziale Bewegung. Das entspricht nicht den Tatsachen, sie ist eine »private« Organisation innerhalb des Staates und handelt wie eine politische Partei. Demnach handelt es sich bei ihr um eine globale politische Partei mit Ideologie und politischer Strategie und sie pflegt internationale Beziehungen.
Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass diese Organisation hinter den Putschversuchen in einigen Staaten Zentralasiens steckt. Die russische Administration stufte sie zu Beginn der 2000er Jahre als eine von der CIA in Zentralasien organisierte Bewegung ein. So hat Russland sie schon damals aus ihrem eigenen Hinterhof verwiesen.
Kurdistan wurde Gülen überlassen
Es ist eigentlich ein Machtkampf um die Regierung und somit den Staat. Die AKP-Regierung und die Türkischen Streitkräfte (TSK) haben Nordkurdistan Gülen überlassen. In den letzten Jahren wurde die kurdische Freiheitsbewegung im sozialen, politischen und kulturellen Bereich mit dessen Bewegung konfrontiert. Die erzielte in Kurdistan allerdings keine Erfolge. Trotz der Unterstützung durch AKP, TSK und den tiefen Staat konnte sie sich in Kurdistan nicht wie geplant organisieren. Und eben deshalb wurde ein schmutziger Krieg wie in den 90er Jahren gestartet. Daraufhin wurden Tausende kurdische Politiker verhaftet.
Das Verlangen Fethullah Gülens nach mehr Einfluss in der Regierung führte zur Auflösung der Allianz zwischen Gülen und Erdoğan. So wurde er zum Hauptkontrahenten des türkischen Ministerpräsidenten. Er beanspruchte den MIT (Nationaler Nachrichtendienst) und alle seine Niederlassungen in Nordkurdistan unter der Führung seiner Bewegung.
Im Wesentlichen verfügt die Gülen-Gemeinde im Moment über größeren Einfluss als Kemalisten, Nationalisten und AKP-Regierung. Sie ist die am besten organisierte Kraft im Staat. Seit den 70er Jahren formiert sie sich in Bürokratie, Polizei, Justiz, Bildungswesen und Armee.
Auf dem Weg zu neuen Allianzen
Ob sich der Konflikt zwischen Gülen und AKP-Regierung anderweitig auf die KCK-, Balyoz-, Ergenekon-Verfahren auswirken wird, ist noch unklar. Doch während sich eine Allianz auflöst, werden definitiv neue geschmiedet. Aus dieser Perspektive betrachtet will die AKP-Regierung zu einer Art »Normalisierung« übergehen. Tatsächlich demonstriert die Aufnahme von Nationalisten in den Justizapparat anstelle der Gülen-Anhänger die neue Allianz der AKP mit den Nationalisten. Sie weist auf eine »besondere« Konzeption Erdoğans im Hinblick auf die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) in der kommenden Periode hin.
Die Situation in den KCK-Verfahren hängt vom Verlauf des »Lösungsprozesses« ab. Beim Ergenekon-Verfahren trifft das jedoch nicht ganz zu. Wenn es eines Tages um eine allgemeine Amnestie geht, werden beide Verfahren wahrscheinlich gleich behandelt, um die gesellschaftliche Reaktion zu neutralisieren.
Nach den Morden in Paris tauchten neue Dokumente auf, die zeigten, dass die Formel nicht aufgeht, dass die AKP nach einer Lösung [der Kurden- und Demokratiefrage] verlange, die Gülen-Bewegung dies aber verhindern wolle. Im Falle der Kurden stimmen AKP-Regierung und Gülen-Bewegung in vielen Aspekten offensichtlich überein. Die Annäherungsweise von Erdoğan und Gülen gegenüber den Sozialisten, Aleviten und Kurden ähnelt sich in vielen Punkten. Sie verfolgen eine klassisch rechte, faschistische Linie.
Die Ansicht, das Kurdenproblem könne ohne Erdoğan nicht gelöst werden, ist nicht richtig. Es war die kurdische Bewegung, die Erdoğan an den gemeinsamen Tisch einlud. Auch wenn statt der AKP-Regierung MHP oder Fethullah Gülen die Regierung übernehmen, sind sie gezwungen, sich mit der PKK und der kurdischen Bewegung an einen Tisch zu setzen.
Es ist nicht mehr möglich, dass dieser Machtkampf mit einem »Frieden« endet. Vielleicht kommt es zu einem »Waffenstillstand«. Doch eine Allianz in der Art wird es nie wieder geben.
Gemeinde sammelt Kraft
Wir befinden uns in einem Prozess, in dem die Karten in der Türkei neu verteilt werden. Man sieht, dass Erdoğan keinen Schritt zurückweichen wird. Er wird den Gülen-Einfluss in Bürokratie, Polizei und Bildungssektor begrenzen. Sodass die Gülen-Bewegung binnen Kurzem mit der Justiz konfrontiert sein wird. Es werden nacheinander der AKP-Regierung nahestehende Organisationen Strafanzeige stellen. Die Medien, unter Erdoğans Kontrolle, haben angefangen, Fethullah Gülen statt »Hodscha Efendi« (geistlicher Gelehrter) »Schreckensherrscher« zu titulieren.
Aber was hat die Gülen-Bewegung vor?
Die seit dreißig Jahren im Staat organisierte Bewegung hat mittlerweile erheblich »Kraft« gesammelt. Teilweise wird sie zurückstecken. Sie wird sich jedoch zum Ziel setzen, im Stillen und Tiefen zu agieren. Sie wird ihre Taktik ändern und neue Allianzen bilden. Mit der Unterstützung der Vereinigten Staaten wird sie ihre internationalen Verbindungen einsetzen.
Wer wird die Administration von der AKP übernehmen?
Die momentane Lage wird sowohl auf die Präsidentschaftswahl als auch auf die Führung der AKP Einfluss nehmen. Erdoğan hat keine andere Möglichkeit, als in den Cankaya-Palast [Präsidentensitz] zu wechseln. Der Kampf geht hauptsächlich darum, wer als nächster die AKP-Regierung präsentieren wird. Die Gülen-Bewegung und die USA wollen Abdullah Gül an der AKP-Spitze. Erdoğan will sowohl in Cankaya als auch die AKP regieren. Aus diesem Grund will er die Partei einer »harmlosen« oder ihm »loyalen« Figur überlassen.
Diese innere Auseinandersetzung würde nicht zu einer Demokratisierung der Türkei führen. Durch einen neoliberalen Angriff stärkt die AKP ihre Autorität und macht den Alltag konservativer. Die Demokratisierung des Landes hängt hauptsächlich von der Entwicklung der sozialen Opposition und dem Kampf der Linken, Aleviten und kurdischen Bewegung ab.
Gülen-Bewegung ging aus Krisen immer gestärkt hervor
Wird es dieses Mal auch so sein?
Mit dem »12.-September-Putsch« (1980) wuchs die Stärke Gülens. Während der Regierungszeit Özals wurden andere Gemeinschaften entmachtet, doch die Anhängerschaft Fethullah Gülens schwoll an. Die Äußerung Kenan Evrens »Wahre Religion ist saubere Religion, kein Fundamentalismus« führte dazu, dass die Gülen-Gemeinde erhebliche Veränderungen vornahm.
Obwohl Gülen von den TSK verfolgt wird, lobte er sie: »Wenn die Armee nicht rechtzeitig eingegriffen hätte, bliebe der ganzen Nation keine andere Wahl, als zu weinen.«
In der Putschperiode wuchs die Gülen-Bewegung mit ihren Schulen im Ausland und ihren Privatschulen und Kollegs im Land weiter.
Der Tod Turgut Özals und der nach ihm gewählte Präsident Demirel veränderten das Gleichgewicht noch einmal. Die Führung der Partei des Rechten Weges (DYP) durch Tansu Çiller und insbesondere deren enge Beziehung zu Gülen waren Anzeichen für eine neue Ära. Çiller verlangte Gülens Unterstützung für den »Gesetzentwurf für den Kampf gegen den Terror« und diese Besprechung wurde mit dem Einverständnis beider Seiten veröffentlicht.
Auch während der Phase des 28. Februar [1997; der »postmoderne« Putsch stürzte die Regierung Erbakan] unterstützte die Gülen-Bewegung die Armee. Während diese sich gegen Erbakan und andere religiöse Gemeinschaften wandte, drückte sie bei Gülen ein Auge zu. Auch nach dem 28.-Februar-Verfahren erstarkte die Gemeinde.
Doch dieses Mal scheint der Kampf richtig ernst. Die Liquidation oder wenigstens die Beschränkung der Gülen-Bewegung hängt davon ab, wie sich der türkische Staat dem Kurden- und Alevitenproblem annähert. Wenn der Staat eine Demokratisierung erzielt, ist die Eingrenzung der Gülen-Bewegung möglich.
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