mrd-25-11-13-dokh-aciklamaDer Stand der Entwicklungen im Falle der Pariser Morde

Ist euer Schweigen das Eingeständnis eurer Mitschuld?

Maxime Azadi

Sakine Cansız, genannt Sara, befand sich unter den 21 Personen, die an der Gründungsversammlung der PKK am 27. November 1978 im Dorf Fis, Licê/Amed (Diyarbakır) teilgenommen haben. Mit Sara haben nicht nur die Frauen in der PKK eine Präsenz erhalten, sie ist mit ihrem Widerstand gegen die unmenschlichen Praktiken im Gefängnis von Amed zu einem Symbol geworden. Einige Monate nach Gründung der PKK, 1979, wurde sie festgenommen. Sie war zwölf Jahre im Gefängnis von Amed inhaftiert und schrecklicher Folter ausgesetzt. Sie hat sich ihren Folterern niemals gebeugt.

 

Sie war sowohl für ihre männlichen als auch weiblichen Weggefährten ein Widerstandssymbol. Sie entgegnete dem bekannten Folterer im Gefängnis, Esat Oktay: »Wer bist du, dass ich dir gegenüber strammstehen soll! ... Ich beuge mich den Henkern nicht!« Sara, die den Folterungen Oktays ausgesetzt war, wurde tagelang in einem anderen Gefängnisteil festgehalten und schlimmster Folter unterzogen, weil sie ihrem Folterer ins Gesicht gespuckt hatte.

In einem Interview mit der kurdischen Presse berichtete sie über die Folter: »Manchmal wurden wir auf eiskaltem Beton einer Bastonade unterzogen. Manchmal wurden die Leitungen für die Abwässer verstopft, so dass wir darin versanken. Sie ließen uns in diesem Wasser laufen und folterten uns, vor allem schlugen sie uns mit kurzen Schlagstöcken, was stärkere Schmerzen erzeugte … Schreie über Schreie … Die Folterer riefen, hörbar für die männlichen Kollegen, sie wollten uns sterilisieren: ›Wir werden euer Embryonenbett austrocknen, damit ihr keine Bastarde mehr gebären könnt.‹«

Die BDP-Kovorsitzende Gültan Kışanak, die zur gleichen Zeit im Gefängnis von Amed inhaftiert war, sagte über die Folter, die Sara nach dem Bespucken Esat Oktays erleben musste: »Es gab keine Stelle am Körper ohne Hämatom. Sie hatte Frakturen und Wunden am Kopf, am Körper … Danach haben wir dort noch anderthalb Jahre zusammen erlebt …«

Sara war für ihre WeggefährtInnen stets jemand Unbeugsames. Gültan Kışanak nennt sie »die Seele, das Gedächtnis der kurdischen Bewegung« sowie die »Rosa Luxemburg der kurdischen Frauen«.

Diese Vergangenheit von Sara weist darauf hin, warum sie am 9. Januar 2013 gemeinsam mit zwei Weggefährtinnen mitten in Paris zur Zielscheibe wurde. Kışanak erklärte nach der Ermordung der drei Revolutionärinnen: »Sie hat in jeder Phase des Kampfes eine korrekte Haltung eingenommen. Daher kommt ein Angriff auf sie einem unmittelbaren Angriff auf die PKK gleich.«

Sakine Cansız (Sara), eine der fünf noch lebenden PKK-GründerInnen, Fidan Doğan (Rojbîn), die Pariser Vertreterin des Nationalkongresses Kurdistan mit Sitz in Brüssel, sowie Leyla Şaylemez (Ronahî), Mitglied der kurdischen Jugendbewegung, wurden in der Nähe des Pariser Bahnhofs Gare du Nord im dauerüberwachten Kurdistan-Informationszentrum mit Kopfschüssen ermordet. Der einzige Tatverdächtige, Ömer Güney, wurde nach der Tat verhaftet. Während auf Sara, Roj­bîn und Ronahî jeweils drei Kopfschüsse abgefeuert wurden, ging der zehnte Schuss in den Mund von Rojbîn. Diese war eine der aktivsten Mitarbeiterinnen der kurdischen Diplomatie in Europa.

Diese Morde ereigneten sich zu einer Zeit, in der Friedensgespräche zwischen dem seit 1999 auf der Insel Imralı inhaftierten KurdInnenführer Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat begannen. Es besteht kein Zweifel am politischen Charakter des Mordes. Dieses Attentat wird vor allem als Angriff auf die Friedensgespräche gewertet.

Obwohl ein Jahr vergangen ist, hat es bisher aus Regierungskreisen keine ausreichende Erklärung zum Ermittlungsstand gegeben. Informationen zum Fortschritt der Ermittlungen liegen nicht vor. Alles wird geheim gehalten.

Die KurdInnen können keine überzeugende Bereitschaft der französischen Justiz und Regierung zur Aufklärung des Attentates erkennen. Dabei stehen das Kurdistan-Informationszentrum sowie sämtliche politischen und kulturellen Aktivitäten der KurdInnen in Frankreich unter Beobachtung der französischen Geheimdienste. Auch wenn Ömer Güney als Tatverdächtiger verhaftet wurde, gab es keine Erklärung zu seinen suspekten Reisen in die Türkei. Seine letzte Reise in die Türkei fand im Dezember 2012, also nur wenige Wochen vor dem Attentat statt.

Ömer Güney war den französischen Geheimdiensten bestens bekannt. Er war im März 2012 bei einer Besetzungsaktion kurdischer Jugendlicher auf dem Eiffelturm sowie im Dezember desselben Jahres im Rahmen einer polizeilichen Durchsuchungsaktion in Holland festgenommen worden. Die holländische Polizei hatte Güney ohne ernsthafte Vernehmung nach ein paar Stunden freigelassen und die französische Polizei davon in Kenntnis gesetzt.

Seit seiner Verhaftung am 21. Januar bleibt alles weiterhin geheim. Seine wahre Identität, seine Arbeitgeber, seine Rolle beim Attentat, die Beweggründe, die Reisen in die Türkei und die Auftraggeber des Attentats warten auf Aufklärung.

Fast neun Monate nach dem Attentat gab es eine interessante Entwicklung in Paris. Eine oder mehrere unbekannte Personen drangen am 23. September in die Wohnung der für das Attentat zuständigen Staatsanwältin Jeanne Duyé ein und stahlen das mit »heiklen« Akten beladene Notebook. Dieser fragwürdige Diebstahl wurde von der Zeitung Le Parisien aufgedeckt. Demnach drangen die Unbekannten gewaltlos in die Wohnung ein und entwendeten das Notebook.

Die Zeitung Le Figaro berichtete später, dass Staatsanwältin Duyé ein Jahr zuvor in die Anti-Terror-Abteilung versetzt worden war. Doch weder Le Parisien noch Le Figaro noch andere französische Zeitungen haben eine Verbindung zwischen der Staatsanwältin und der Ermordung der drei Frauen in Paris hergestellt.

Der Diebstahl ereignete sich merkwürdigerweise kurz nach einer Anfrage von Antoine Comte, einem der RechtsanwältInnen der Opfer, bei der Staatsanwältin Duyé hinsichtlich Ömer Güney, ob dieser vor dem Attentat vom französischen Geheimdienst beobachtet worden sei. Ihm war geantwortet worden, »dass dies nichts mit dem Attentat zu tun« habe. Damit hatten Jeanne Duyé und Christophe Teissier von der Anti-Terror-Staatsanwaltschaft die Anfrage am 20. September abgelehnt.

Dieser Diebstahl, zu dem sich die französischen Verantwortlichen in keinster Weise geäußert haben, wirft neue Fragen auf: Steht er in Zusammenhang mit dem Pariser Attentat? Wer profitiert vom Schließen dieser Akte oder wer kann problemlos in die Wohnung eines solchen Staatsanwaltes eindringen? Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und französischen oder ausländischen Geheimdiensten? Es ist bekannt, dass Geheimdienste weltweit an zahlreichen »schmutzigen« oder »fragwürdigen« Ereignissen beteiligt sind.

Sowohl die Angehörigen als auch das kurdische Volk wollen endlich, dass die Morde aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Das Schweigen der französischen Behörden sowie der westlichen Regierungen verstärkt den Unmut. Daher gehen kurdische Frauen jeden Mittwoch unter dem Motto »Ist euer Schweigen das Eingeständnis eurer Mitschuld?« in zahlreichen europäischen Großstädten auf die Straße und fordern Gerechtigkeit.

In Frankreich wurde bis heute bei keinem politischen Attentat nach einer staatlichen Schuld gesucht. Mit dieser Tradition muss gebrochen werden. Wenn wahre Gerechtigkeit geschaffen werden soll, müssen alle am Attentat beteiligten Kräfte, unabhängig vom Ausmaß, offengelegt werden. Ansonsten wird sich Frankreich nicht von dem Verdacht einer Mitschuld befreien können.