AKP und CHP im Kontext der Regime-Debatte in der Türkei
Ohne klare Haltung hat die CHP keine Funktion
Baki Gül, Journalist
Auf den Ruinen des Osmanischen Reiches, das sich vor dem Ersten Weltkrieg 1914–1918 über drei Kontinente erstreckt hatte, wurde der Nationalstaat der türkischen Republik basierend auf einem türkischen Nationalismus und einem sunnitisch-islamischen Glauben gegründet. Der Versuch von Mustafa Kemal und seinen Mitstreiter*innen, sich im internationalen Kontext als »westlich-säkular« zu positionieren, ist über die gesamte Historie der türkischen Republik rein formell geblieben. Nach der ersten Parlamentssitzung vom 19. Mai 1919, auf der Kurd*innen, Türk*innen, Christ*innen, Alevit*innen und andere gesellschaftliche Repräsentant*innen aus Anatolien, Thrakien und Mesopotamien versammelt waren, wurde die Repräsentanz dieser Gruppen mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 und der Gründung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 an den Nagel gehängt. Es wurde ein Staatsystem implementiert, das Zwangsumsiedlungen der nicht muslimischen Bevölkerung, die Nichtanerkennung der einen großen Anteil der türkischen ausmachenden alevitischen Bevölkerung und die Leugnung der Kurd*innen vorsah.
Als die Republik 1925 und 1938 mittels der Unabhängigkeitsgerichte Kurd*innen und Alevit*innen an den Galgen brachte, vermochte sie es gegenüber den Europäer*innen als einen »Kampf gegen feudale Rückständigkeit« darzustellen. In diesem »Kampf« steckt somit auch die Leugnung des millionenfachen Bevölkerungsanteils von Kurd*innen und Alevit*innen. Deren Leugnung, die Assimilation, das Verbot der Sprache, die Unterdrückung der Religionsausübung, die Zwangsumsiedlung und die militärische Vernichtung bildeten das Fundament dieser Politik, die durch die »Republikanische Volkspartei« (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), eine Nachfolgerin der von Mustafa Kemal und seinen Mitstreiter*innen gegründeten »Volkspartei« ((Cumhuriyet) Halk Fırkası), durchgesetzt wurde. Die Phase der alleinigen Regierungsmacht der Republikanischen Volkspartei, die Hegemonie der CHP genannt wurde, hatte von ihrer Gründung 1923 bis 1950 Bestand. Die Türkei hat unter der Hegemonie der CHP im Inneren bis in die fünfziger Jahre Kurd*innen, Alevit*innen, Armenier*innen, Pontus-Griech*innen und andere ethnische wie religiöse Gruppen unterdrückt und unter der Prämisse des »Türk*innentums« zu marginalisieren und zu vernichten versucht. Auch wenn sich die CHP als säkular und westlich orientiert darstellte, hat sie den türkischen Nationalismus und den sunnitischen Islam ins Zentrum des Staates gerückt und sich dementsprechend institutionell aufgestellt.
Mit ihrem säkularen Ansatz stellte sie sich gegen das osmanische Kalifat und mit ihrer Westorientierung sowie der Darstellung der Kurd*innen als feudal-rückständig legitimierte sie die Säuberungsmaßnahmen gegen sie. Die Hegemonie der CHP hat sich in dieser Form bis 1950 herausgebildet. Mit den Wahlen am 14. Mai 1950 beendete die 1946 gegründete nationalkonservative »Demokratische Partei« (Demokrat Parti, DP) das Einparteiensystem. Allerdings hat sich die DP nicht von der türkisch-nationalen und sunnitisch-islamistischen Linie verabschiedet. Vielmehr verfolgte sie die Unterdrückungs- und Säuberungsmaßnahmen gegen die anderen Identitäten und Religionen weiter. Unter ihrer Führung wurde die Türkei am 18. Februar 1952 Mitglied der NATO, damit vollzog sich ein klarer Schwenk hin zu einer liberalen Wirtschaft und zur Linie des sunnitischen Islams im türkischen Staat. Die Macht- und Hegemonialkämpfe zwischen CHP und DP verschärften sich in dieser Phase zunehmend. Unter dem Einfluss der weltweiten Entwicklungen begann in der türkischen Politik die Phase der Militärputsche. Am 27. Mai 1960 verübten die türkischen Streitkräfte einen Staatsstreich gegen die DP-Regierung. Das »Komitee der Nationalen Einheit« übernahm die Führung und richtete den Außenminister der DP Fatin Rüştü Zorlu und den Finanzminister Hasan Polatkan am 16. September 1961 durch den Strang hin, am 17. September dann Ministerpräsident Adnan Menderes. Angesichts des Militärputsches von 1960 können wir erkennen, durch wessen Hand die Hegemonie des Systems geformt wird. Der Putschmechanismus kam seitdem in einem zehnjährigen Rhythmus zum Tragen, so entstand im Grunde eine Tradition. Am 12. März 1971 wurde ein Militärputsch zur Unterdrückung revolutionärer Entwicklungen durchgeführt, dem folgte der Putsch vom 12. September 1980. Die auffälligste Entwicklung in dieser Phase war die Organisierung der Kurd*innen unter der Führung der »Arbeiter*innenpartei Kurdistans« (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK). Damit wurde der nationale Befreiungskampf in Form eines Guerillakampfes eingeläutet.
Der türkische Staat hat, um den politischen Islam zu etablieren, wichtige politische Arbeitsfelder entwickelt und dadurch die türkisch-islamistische Linie zu ihrer Hauptorientierung gemacht. Dementsprechend haben sich die politischen Parteien, die sich als kemalistisch-säkular und sozial-demokratisch artikulieren, über die ursprüngliche Linie der CHP entwickelt, so zum Beispiel die »Demokratische Linkspartei« (Demokratik Sol Parti, DSP) Bülent Ecevits, die »Sozialdemokratische Populistische Partei« (Sosyaldemokrat Halkçı Parti, SHP) und die heutige CHP.
Aus der nationalistisch-islamistischen Linie der DP heraus bildete sich die »Partei des Rechten Weges« (Doğru Yol Partisi, DYP) Süleyman Demirels, die »Mutterlandspartei« (Anavatan Partisi, AP) Turgut Özals, die »Nationale Sicht« (Millî Görüş) Necmettin Erbakans, die »Partei der Nationalistischen Bewegung« (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) des türkischen Faschisten Alparslan Türkeş und die heutige Partei Tayyip Erdoğans, die »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP). Auch wenn es Parteien wie die »Türkische Arbeiter*innenpartei« gab, die einen links- und proletarisch orientierten Ansatz hatte, war der türkische Staat bestrebt, das Überleben solcher Parteien im politisch-legalen Bereich zu unterbinden.
Dennoch entstanden zwischen 1990 und 2016 zur Vertretung der Kurd*innen und demokratischer Kreise die »Arbeitspartei des Volkes« (Halkın Emek Partisi, HEP), die »Demokratiepartei« (Demokrasi Partisi, DEP), die »Partei der Demokratie des Volkes« (Halkın Demokrasi Partisi, HADEP), die »Partei der Demokratischen Gesellschaft« (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die »Demokratische Partei des Volkes« (Demokratik Halk Partisi, DEHAP), die »Partei des Friedens und der Demokratie« (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) und die heutige »Demokratische Partei der Völker« (Halkların Demokratik Partisi, HDP) und die »Partei der Demokratischen Regionen« (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP). Sie versuchten durch ihre anhaltenden Bemühungen, am politischen Wesen der Türkei teilzuhaben. All diese Parteien drückten das politische Interesse der Kurd*innen, Alevit*innen und Demokrat*innen aus. Doch bis auf die aktuellen HDP und DBP wurden alle anderen unter den Vorläufern von CHP und AKP aufgelöst und verboten.
Mit diesen kurzen historischen Ausführungen zu den politischen Parteien und Führungen können wir den versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 und die Lage, in die die Türkei durch Tayyip Erdoğans AKP und die politische Haltung von MHP und CHP gebracht worden ist, besser verstehen.
Auch wenn die Republik ein unitäres und parlamentarisches System hat, ist der Austausch der Regime durch einen Militärputsch genauso »normal« wie der Wechsel durch Wahlen. Trotz des republikanischen Staatssystems und trotzdem die Machteliten gemäß den globalen Machtverhältnissen Haltung und Position beziehen können, verfolgen sie im Kern eine türkisch-nationalistische und sunnitisch-islamistische Linie.
Auch wenn die Republik ein unitäres und parlamentarisches System hat, ist der Austausch der Regime durch einen Militärputsch genauso »normal« wie der Wechsel durch Wahlen. Trotz des republikanischen Staatssystems und trotzdem die Machteliten gemäß den globalen Machtverhältnissen Haltung und Position beziehen können, verfolgen sie im Kern eine türkisch-nationalistische und sunnitisch-islamistische Linie. Mit der Gründung der AKP hat sich eine islamische, nationalistische, konservative Linie institutionalisiert. Die CHP hatte zuvor auf einem sozialdemokratischen Fundament dasselbe verfolgt. Sowohl die MHP als auch die anderen Systemparteien haben sich ein grundlegend rassistisches Programm zu eigen gemacht. Das Bestreben der Kurd*innen, sich demokratisch zu artikulieren, ist durch diese Parteien immer wieder verhindert worden.
Am 15. Juli 2016 wurde wie bereits in den Jahren 1960, 1971 und 1980 mit der Begründung geputscht, dass »die Einheit und der Fortbestand des türkischen Staates bedroht« seien. Die AKP verstand den Putschversuch als gegen sich gerichtete Unternehmung und hat das, was die Putschist*innen vorhatten, letztlich selbst realisiert. Sie hatte bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 die absolute Mehrheit im Parlament und somit ihre Alleinherrschaft verloren. Die Korruption von Tayyip Erdoğan und seinen Freund*innen, die Erfolglosigkeit von AKP und Militär gegen den kurdischen Widerstand, die nicht lösungsorientierte Politik in der regionalen Krise und gegenüber dem Chaos in Syrien und dem Irak, die Krise und die Widersprüche im Verhältnis zur EU, den USA und der NATO haben die türkische Elite unter der Losung zusammengebracht, dass »der letzte türkische Staat konstitutionell bedroht ist«. Daher haben sich AKP, MHP und CHP nach dem 15. Juli vereint, um »den Fortbestand des letzten türkischen Staates zu sichern«.
Als AKP und MHP die politischen Interessen Erdoğans durchzusetzen bemüht waren und deswegen die Repression und Unterdrückung zu legitimieren versuchten, wurde offensichtlich, dass der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu die AKP unterstützt. Die Politik der CHP und Erdoğans Politik der Unterdrückung waren nach dem 15. Juli deckungsgleich. Die CHP hat auf Bitten Erdoğans die Verhängung des Ausnahmezustands und das Aussetzen von Verfassungsbestimmungen und internationalen Vereinbarungen direkt und indirekt unterstützt.
Erst das gemeinsame konstitutionelle Vorgehen von AKP und MHP und die Repression, die zuerst auf die Anhänger*innen Fethullah Gülens abzielte, danach die Kurd*innen und die demokratischen Kräfte der Türkei und schließlich sogar die CHP selbst bedrohte, hat Letztere zur Änderung ihrer Haltung gezwungen. Was jedoch nicht gegen die totalitäre, nationalistische und religiöse Linie von Erdoğan und MHP gerichtet ist und durch den weiteren Kurs gegen Kurd*innen und Alevit*innen weiterhin keinen demokratischen Charakter beweist.
Die CHP schweigt angesichts der faschistischen Maßnahmen der AKP und Erdoğans, durch die zehntausende Menschen festgenommen und verhaftet, zehntausende Staatsbedienstete suspendiert, Unternehmen enteignet, oppositionelle Zeitungen und TV-Anstalten geschlossen und verboten, etliche gewählte Stadtverwaltungen unter Führung der DBP mit Putschmethoden ihrer Amtsausübung beraubt, die HDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie viele weitere inhaftiert und kurdische Städte zerstört worden sind. In einigen Städten dauerten Ausgangssperren und Besatzung teilweise über ein Jahr an, das türkische Militär ist in syrisches Territorium einmarschiert und plant eine Invasion in Südkurdistan und Mûsil (Mosul).
Nachdem die AKP und Erdoğan allerdings die CHP und deren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu unmittelbar angegriffen hatten, versuchte die CHP ihre Politik zu ändern. Aber das hat sie politisch wirkungslos gemacht und dazu geführt, dass ihre demokratische Identität hinterfragt wurde. Hätte sie sich stattdessen gegen die Repression gegen die von über sechs Millionen gewählte HDP gerichtet, sich bei der Schließung von Medienunternehmen nicht hinter die AKP gestellt und sich der Entsendung türkischen Militärs in den Irak und nach Syrien verweigert, könnten AKP und MHP heute ihre türkisch-sunnitische und islamistische Linie nicht institutionalisieren und die Diktatur Tayyip Erdoğans hätte keinen Bestand mehr.