»Wir leisten in Kobanê nicht nur Widerstand mit Waffen, sondern vor allem mit unseren Köpfen«
Die Revolution in Rojava will kein vereinheitlichendes BildungssystemDie Revolution in Rojava will kein vereinheitlichendes Bildungssystem
Interview mit Abdi Qader, KPC-Demokratik
Abdi Qader ist Mitglied des im Juni 2015 gegründeten »Komitees für die Bildung und Ausbildung einer Demokratischen Gesellschaft«, KPC-Demokratik (Komiteya Perverdeya Ciwaka Demokratik). Er ist in Kobanê geboren und hat sein Studium in Qamişlo absolviert. Eine Juniorprofessur an der Universität in Helep (Aleppo) gab er Anfang 2014 auf, um sich am Aufbau des Bildungssystems in Kobanê zu beteiligen. Der 32 Jahre alte Biologielehrer bildet an der Naturwissenschaftlichen Fakultät in Kobanê Lehrer für den Schuldienst aus. Im Gespräch mit dem Kurdistan Report berichtet er über die Fortschritte und Herausforderungen beim Aufbau des Bildungswesens in Kobanê.
Wie ist die aktuelle Situation in Kobanê, und wie steht es um die Bildungseinrichtungen in der Stadt?
Das Leben in Kobanê ist nach wie vor nicht einfach. Hilfsgüter in die Stadt zu bringen ist auf Grund der Blockade der Staaten der Region kaum möglich. Im Osten hält die Demokratische Partei Kurdistans PDK die Grenzübergänge vom Nordirak nach Rojava weitgehend geschlossen. Im Norden hat die türkische Armee eine meterhohe Mauer errichtet und die Grenze abgeriegelt. An bestimmten Tagen in der Woche dürfen Flüchtlinge zwar aus der Türkei nach Kobanê zurückkehren, allerdings dürfen sie nur das mitnehmen, was sie am Leib tragen. Medikamente oder Lebensmittel werden an der Grenze konfisziert. Von Süden her werden wir weiterhin durch die Dschihadisten und die Regierungstruppen Syriens bedroht.
Nicht nur auf Kobanê sondern auf sämtlichen Stadtverwaltungen in Rojava lastet ein immenser finanzieller Druck. Der Aufbau des Bildungswesens geht daher langsamer voran, als wir es uns wünschen, aber wir haben auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung schon einige Fortschritte gemacht. Nach der Befreiung von Kobanê war die Stadt zu 80 % zerstört, wir hatten zuletzt nur noch 300 Schüler. In den rund 400 Dörfern außerhalb der Stadt gab es vor den brutalen Angriffen des selbsternannten »Islamischen Staates« (IS) noch 270 Schulen, auch sie wurden zerstört oder unbrauchbar gemacht. In der Stadt konnten wir bereits 13 Schulen wieder aufbauen und in den Dörfern haben wir 111 Schulen wiederhergestellt und wiedereröffnet. Zwar zum Teil nur notdürftig, mit Wänden und Dächern aus Lehm, aber das haben wir fast vollständig aus eigener Kraft geleistet. Die Bauarbeiten und die Ausbildung von Lehrern dauern weiter an, damit wir auch an den Orten, an denen derzeit noch Bildungseinrichtungen fehlen, eine Ausbildung gewährleisten können.
Können Sie uns einen kurzen Einblick in das Bildungswesen und seinen Wiederaufbau geben?
Zunächst möchte ich betonen, dass auch während der Belagerung und des Krieges das Leben in Kobanê nicht völlig stillstand. Auch wenn zum Zeitpunkt der Befreiung nur noch 300 Schüler in Kobanê übrig waren, liefen Bildung und Unterricht zu dieser Zeit weiter. Schließlich leisten wir nicht nur mit Waffen Widerstand gegen die gewaltsame Unterdrückung der Gesellschaft, sondern vor allem auch mit unseren Köpfen. Daher haben wir nach der Befreiung versucht, die Schulen so schnell wie möglich wieder zu eröffnen, auch wenn für die Menschen natürlich zunächst materielle, existentielle Bedürfnisse Vorrang haben. Inzwischen unterrichten wir allein in der Stadt wieder rund 3 500 Schüler. Unser Ziel ist es, ein Bildungssystem aufzubauen, das allen Bewohnern des Kantons ermöglicht, unter freien, gleichen und angemessenen Bedingungen zu lernen. Wir legen Wert darauf, dass sich unser gesellschaftliches Projekt auch im Bildungs- und Erziehungswesen widerspiegelt. Daher steht die Ausbildung zur aktiven, konstruktiven Teilnahme an der Gesellschaft im Mittelpunkt.
Im »Komitee für die Bildung und Ausbildung einer Demokratischen Gesellschaft« (KPC-Demokratik) kommen Kurden, Assyrer und Araber aus verschiedenen öffentlichen Institutionen zusammen. Wir versuchen dort das System der demokratischen Gesellschaft aktiv umzusetzen. Die alten Schulbücher müssen überarbeitet, in die verschiedenen Sprachen übersetzt und neu gedruckt werden. Eine Kommission aus insgesamt 33 Personen entwickelt derzeit Unterrichtsmaterialien für die Schulen, auch hier arbeiten Männer und Frauen zusammen. Ich selbst bin an der Neugestaltung der Biologiebücher beteiligt. Alle Schüler sollen die Gelegenheit bekommen, an ihrem jeweiligen Wohnort an einer öffentlichen Schule in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Wir unternehmen daher alles, um eine mehrsprachige Ausbildung zu ermöglichen. Zurzeit mangelt es aber noch an Lehrkräften. Im Moment durchlaufen unsere Lehrer daher nur eine 6- bis 8-monatige Ausbildung, diese Ausbildungszeit möchten wir aber gerne auf zwei Jahre ausdehnen. An allen Schulen gilt das Prinzip der Gleichheit. Alle haben die gleichen Rechte und auch die Selbstbestimmung der Frau ist hier verankert. Derzeit stellen übrigens Frauen die überwältigende Mehrheit der kurdischen Lehrkräfte.
Wie sehen die Lehrpläne aus und wie sind die Schulen organisiert?
Die Revolution in Rojava will kein vereinheitlichendes Bildungssystem. In Rojava leben Menschen aus vielen unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Die Kinder der verschiedenen Völker sollen in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, aber die gleiche Schule besuchen. Daher werden die Schüler zunächst entsprechend ihrer jeweiligen Muttersprache in Klassen eingeteilt. Ab der dritten Klasse wird dann zusätzlich eine der Nachbarsprachen gelehrt. Kurdische Kinder lernen also z. B. auch Arabisch und umgekehrt. An einer Schule konnten wir auch bereits eine aramäische Klasse realisieren. In der sechsten Klasse kommt dann noch eine weitere Fremdsprache, z. B. Englisch oder Französisch, dazu. So lernen die Kinder von klein auf, andere Sprachen zu verstehen und zu achten. Dies führt dann wiederum zur Entstehung einer aufgeschlossenen, multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft. Auch im Geschichtsunterricht setzen wir besondere Schwerpunkte für die jeweiligen ethnischen Gruppen. Ab der siebten Klasse gibt es außerdem Kurse, in denen die Lehren und Inhalte der »Jineolijî« unterrichtet werden. Auf diese Weise verankern wir über das Bildungs- und Erziehungswesen ein Bewusstsein für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung.
Natürlich müssen auch die Auswirkungen des Kriegs in der Gestaltung des Schulalltags berücksichtigt werden. Die meisten unserer Schüler haben durch den Krieg Familienmitglieder, Freunde, Freundinnen und ihr Zuhause verloren. Zum Teil mussten sie sogar mit ansehen, wie ihre Eltern vom IS ermordet wurden. Als Pädagogen sehen wir es als unsere Aufgabe, den Schülern zu helfen, ihre durch den Krieg verursachten, multiplen Traumata und Ängste zu bewältigen. Daher bieten wir von der ersten Klasse an auch Kurse mit psychologischen Inhalten und Schwerpunkten an.
Außerdem wird das Kovorsitzenden-System auch an den Schulen konsequent umgesetzt. Zur Zeit des Regimes gab es nur einen Schuldirektor. Heute leiten immer eine Frau und ein Mann gemeinsam die Schule. Dieser Umstand wird innerhalb der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen. Drei Viertel der Bevölkerung in Kobanê sind Frauen, denen wir auf diese Weise zeigen, dass unser politisches Konzept einer demokratischen Gesellschaft mit gleichen Rechten für die Geschlechter nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern tatsächlich auch verwirklicht wird.
Wie unterscheidet sich das neue Bildungs- und Erziehungssystem vom alten?
Der wohl bedeutendste Unterschied steht in Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Lehrenden und Schülern. Ebenso wie das Regierungssystem basierte auch das alte Erziehungssystem vor allem auf Angst und Gewalt. Ich selbst erinnere mich noch gut an meine eigene Schulzeit und daran, wie wir regelrecht angefangen haben zu zittern, sobald unser Lehrer den Raum betrat. Eine Erziehung zu freien und selbstbestimmten Bürgern war nicht vorgesehen und kritisches, eigenständiges Denken wurde von Beginn an unterdrückt.
Im neuen System sind die Schüler für das Schulleben mitverantwortlich und sie können aktiv mitbestimmen. An jeder Schule werden Schülerkomitees gebildet, um die Schulen demokratisch und partizipatorisch zu gestalten. Außerdem haben wir Sanktionsmechanismen für Lehrende entwickelt, die physische oder psychische Gewalt anwenden. Zur Zeit des Regimes beschränkte sich die Ausbildung auf stumpfes Auswendiglernen und regelmäßige Prüfungen. Wir haben auch ein neues Bewertungssystem eingeführt und die Prüfungsleitungen um mündliche Gespräche zwischen Lehrenden und Schülern ergänzt. Es gibt kein »Durchfallen« im klassischen Sinne mehr. Die Prüfungen helfen uns herauszufinden, in welchen Bereichen die einzelnen Kinder Schwierigkeiten haben. Statt einfach nur schlechte Noten zu verteilen, arbeiten wir Lehrenden dann gezielt mit unseren Schülern an ihren jeweiligen Defiziten.
Darüber hinaus beschäftigen wir an den Schulen keine Reinigungskräfte. Lehrer und Schüler sind gemeinsam für die Sauberkeit verantwortlich. Wir spielen und lachen mit unseren Schülern. All diese Maßnahmen haben dazu beigetragen, dass die Kinder heute gerne und ohne Angst in die Schule gehen.
Was sind die größten Herausforderungen, mit denen Sie derzeit konfrontiert sind?
Besonders schwer ist natürlich, mit dem Schmerz der Kinder adäquat umzugehen. Durch den Krieg haben unsere Kinder vieles erlebt, was sie nicht vergessen können. Wir versuchen nach Kräften, sie mit verschiedenen Aktivitäten abzulenken und den Kindern, deren Eltern im Kampf gegen den IS getötet wurden, zu erklären, wofür ihre Eltern ihr Leben gegeben haben. Allerdings fehlen uns die Kapazitäten für eine gezielte Traumatherapie.
Große Probleme im Bildungsbereich werden durch die irreparablen Schäden an den Schulgebäuden verursacht. An vielen Orten konnten die Schulen noch nicht wieder eröffnet werden und besonders in der Stadt sind die Klassen überbelegt. Aktuell besteht dort jede Klasse aus durchschnittlich 60 Schülern. Außerdem fehlen Lehrkräfte. In Kobanê gibt es zurzeit 1 250 Lehrkräfte. Um unserem Anspruch, jedes Kind an seinem Wohnort in seiner Muttersprache zu unterrichten, gerecht zu werden, müssen wir aber noch mehr Lehrende ausbilden. Insbesondere da immer mehr Menschen nach Kobanê zurückkehren. Außerdem werden in Kobanê momentan im Durchschnitt 20 Kinder pro Tag neu geboren, so dass wir auch in der Verantwortung stehen, für die kommende Generation Bildungsmöglichkeiten zu schaffen.
Auch die Ausstattung der Schulen ist allerdings unzureichend. Wir haben die zur Verfügung stehenden Ressourcen unter den Schulen aufgeteilt, aber es fehlen nach wie vor Bänke, Tische, Stühle und Tafeln. Außerdem benötigen wir mehr Schulbücher und Unterrichtsmaterialien. In Rojava gibt es momentan nur eine funktionsfähige Druckerei in Qamişlo, im Kanton Cizîrê. Dort muss alles geduckt werden, auch Tageszeitungen etc. Der Bedarf der drei Kantone kann von dort aus natürlich unmöglich alleine gedeckt werden. Wir haben bereits eine umfangreiche Sammlung an Materialien für den Unterricht erarbeitet. Die vorbereiteten Materialien können wir aber kaum nutzen, da sie uns nur auf USB-Stick zur Verfügung stehen. Der Bau einer Druckerei ist also sehr wichtig für die Qualität der Lehre und den Ausbau des Bildungswesens in Kobanê.
In Kriegszeiten ist es kaum möglich, langfristige Prognosen zu geben, aber können Sie uns dennoch etwas über die Pläne und Ziele für das Bildungswesen erzählen?
Wir haben viele größere und kleinere Projekte, die auf ihre Umsetzung warten, während sich unser Bildungssystem weiter entwickelt. Ein Ziel ist es, den Unterricht praxisbezogener zu gestalten. Als Naturwissenschaftler denke ich in diesem Zusammenhang natürlich z. B. an Labore etc. Noch fehlen uns dafür aber die Möglichkeiten. Die schulische Ausbildung endet in Kobanê momentan nach der 12. Klasse. Für eine weiterführende Ausbildung müssen die Schüler dann an eine Akademie oder eine Hochschule nach Qamişlo oder Afrîn. Daher würden wir gerne auch in Kobanê eine Universität aufbauen. Entsprechende Lehrkräfte gäbe es sogar, es mangelt aber an den notwendigen finanziellen Mitteln. Außerdem fehlt in der Stadt nach wie vor eine Bibliothek, um den wachsenden Bildungshunger zu stillen.
Viel Energie investieren wir momentan in die Realisierung des flächendeckenden muttersprachlichen Unterrichts für die verschiedenen Sprachen. Zumal wir beobachten können, dass Kinder mit mehr Begeisterung lernen, wenn sie dies in ihrer Muttersprache tun können. Zu Zeiten des Regimes durfte der Unterricht nur in arabischer Sprache stattfinden. Wir Kurden wurden unserer Sprache und somit auch eines Teils unserer Identität beraubt. Ich selbst habe für einige Monate im Gefängnis gesessen, weil ich Kindern in Helep Kurdisch-Unterricht gegeben hatte. Bis heute muss die kurdische Sprache in den syrischen Städten noch heimlich unterrichtet werden. Es zeichnet sich allerdings bereits ab, dass in verschiedenen Bezirken in Helep und Manbic unser Gesellschaftssystem und damit auch unser Bildungssystem etabliert werden wird.
Ein großes Problem ist, dass die autonome »Föderation Nordsyrien – Rojava« international nicht anerkannt wird. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Bildungswesen, da die in Kobanê erworbenen Schulabschlüsse außerhalb Rojavas nicht akzeptiert werden. Dieser Aspekt ist daher ein wichtiger Bestandteil unserer diplomatischen Bemühungen. Wir versuchen internationale Kooperationen auszubauen und z. B. gemeinsam mit Lehrenden in Deutschland entsprechende Projekte zu entwickeln, um auf die Akzeptanz unserer Arbeit hinzuwirken. Die Anerkennung unserer Abschlüsse hätte schließlich auch positive Auswirkungen auf das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit einer schulischen Ausbildung.
Wir konnten bereits wichtige Fortschritte machen und haben unter den gegebenen Bedingungen auch schon viel erreicht. Aber es gilt, noch einige Hindernisse für die Weiterentwicklung und Stabilisierung des Bildungssystems in Kobanê zu überwinden. Denn mit dem Ausbau des Bildungswesens könnte auch der Kampf für eine freie und demokratische Gesellschaft erfolgreicher sein.