HDP-Delegation kam zu diplomatischen Gesprächen nach Deutschland
Werden die Gespräche positive Ergebnisse mit sich bringen?
Interview mit Selahattin Demirtaş, HDP-Kovorsitzender
Am 11. und 12. April hielt sich eine Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus der Türkei/Nordkurdistan in Deutschland auf. Kovorsitzender Selahattin Demirtaş, Fraktionsvize Hişyar Özsoy, Kobürgermeisterin von Amed (Diyarbakır) Gültan Kışanak und Europavertreter Eyyüp Doru führten diplomatische und politische Gespräche mit verschiedenen Vertretern der deutschen Bundesregierung und der Oppositionsparteien, die allesamt sehr positiv verliefen. Neben der Flüchtlingskrise ging es vor allem um die Rückschritte in der Türkei bei den demokratischen Grundrechten und die drohende Immunitätsaufhebung für die Abgeordneten der HDP-Fraktion. Selahattin Demirtaş gewährte dem Kurdistan Report ein Interview.
Könnten Sie für unsere Leser kurz die zwei langen, intensiven Gesprächstage zusammenfassen?
In Deutschland haben wir die bisher effektivsten und intensivsten diplomatischen Gespräche geführt. Wir haben mit beinahe allen an der Politikgestaltung beteiligten Institutionen und Personen aus Deutschland gesprochen. Außenminister, Bundestagspräsident, die Parteivorsitzenden aller im Bundestag vertretenen politischen Parteien, Fraktions- und außenpolitische Sprecher der Fraktionen, der Vizekanzler, bis hin zum außen- und sicherheitspolitischen Berater der Kanzlerin – sie alle waren Teil der Gespräche. Zum ersten Mal hatten die deutsche Bundesregierung und der Staat die Möglichkeit, der HDP direkt, aus erster Quelle zuzuhören. Wir haben wiederum die Möglichkeit erhalten, unsere politischen Positionen, Lösungsvorschläge und Kritik vorzustellen, weshalb ich die Gespräche als besonders wichtig erachte. Sie waren auch hinsichtlich der internationalen politischen Akzeptanz und Anerkennung der HDP sehr wichtig.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind allseits bekannt. Denken Sie, dass sich im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen etwas verändern könnte?
Die deutsch-türkischen Beziehungen sind tief verwurzelte, strategische Beziehungen mit einer langen Vergangenheit, keine leicht zu verändernden, labilen. Wir sprechen uns nicht für einen Abbruch oder eine Schwächung der deutsch-türkischen Beziehungen aus, aber für prinzipienhafte und konstruktivere. Deutschland hat insbesondere in den letzten Monaten einer durch [Staatspräsident] Erdoğans Person kriselnden AKP [Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] Unterstützung und Zuspruch gegeben und sich dadurch an der Verschleierung der Straftaten gegen die Opposition aus der Türkei indirekt mitschuldig gemacht. Gleichzeitig wird in den EU-Türkei-Beziehungen fundamentalen Rechten und Freiheiten sowie den Kopenhagener Kriterien kein hinreichender Wert beigemessen und die Türkei stellt sich keiner umfassenden radikalen Selbstkritik. Dennoch setzt man sich mit der AKP-Regierung zusammen und handelt ein Flüchtlingsabkommen aus, das auf Prinzipienlosigkeit beruht. Diese Kritik haben wir unseren Gesprächspartnern aus Deutschland aus erstem Munde mitgeteilt. Wie bereits gesagt, die türkisch-deutschen Beziehungen beruhen auf wechselseitigen Interessen, die eine lange Tradition haben. Die Beziehungen sollten aber nicht auf einem Verständnis beruhen, das die Kurden und die Opposition in der Türkei missachtet und tyrannisiert. Wir haben in den Gesprächen die deutschen Verantwortlichen darauf aufmerksam gemacht, dass Deutschland in den Beziehungen zur türkischen Regierung diesen Punkten mehr Aufmerksamkeit schenken muss und dass ihre derzeitige stümper- und lückenhafte Haltung in der Zukunft zu einer Vertiefung der regionalen Probleme führen kann. Natürlich erwarten wir nicht, dass augenblicklich eine grundlegende Änderung eintritt. Dies ist ein Prozess, und um in der Diplomatie Lösungen zu finden, muss man geduldig, entschlossen und zielstrebig sein. Insbesondere müssen die kurdische Community in Deutschland und die progressiven Kräfte aus der Türkei ihre diplomatische Arbeit in Bezug auf die deutsche Öffentlichkeit und die politischen Parteien fortsetzen und intensivieren.
Wie erklären Sie sich das Interesse an der kurdischen Politik?
Es gibt zwei Hauptgründe. Zum einen sind die Kurden in der Türkei und im Mittleren Osten, in Rojava, zu einem politischen Akteur avanciert, ohne den mittlerweile weder regionale noch globale Kräfte Entscheidungen treffen können. Das steigert natürlich die Glaubwürdigkeit der HDP in der Türkei wie auch international. Außerdem ist Deutschland aufgrund der Unterstützung Erdoğans scharfer Kritik seitens der deutschen Öffentlichkeit ausgesetzt. Um diese zu beruhigen und um zu zeigen, dass gleichermaßen der Dialog zur Opposition gesucht wird, wurden die Gespräche mit uns aufgenommen.
Aus der deutschen Bevölkerung, von Künstlern bis zu Wissenschaftlern gibt es deutliche negative Reaktionen auf Erdoğan; die Politiker kriegen das doch sicher mit ...
Natürlich kritisiert die deutsche Gesellschaft die Bundesregierung aus allen politischen Richtungen. Die Flüchtlingskrise ist für Deutschland ein sehr wichtiges Thema, das die Gesellschaft sehr beschäftigt, und es wird eine Lösung erwartet. Dass in diesem Zusammenhang die AKP-Regierung, die den Islamischen Staat unterstützt, den Bürgerkrieg in Syrien gefördert und zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, ohne jegliche Reaktion oder Konsequenz als Partner wahrgenommen wird, hat verständlicherweise zu negativen Reaktionen der deutschen Bevölkerung geführt. Insbesondere die brutale Vorgehensweise gegen die Kurden in den letzten Monaten, das Fehlen von Widerspruch oder Kritik aufseiten der deutschen Regierung und die Schönfärberei der AKP-Regierung bei der Unterzeichnung des Flüchtlingsdeals, all das hat in der deutschen Gesellschaft Empörung hervorgerufen, weil die Deutschen und Europäer ganz genau wissen, dass Erdoğan der Grund für den Flüchtlingsstrom ist. Erdoğan nutzt die Flüchtlingskrise, die er geschaffen hat, als Trumpf und ist durch seine unethische Haltung verantwortlich für die Situation von Flüchtlingen am Ägäischen Meer und an der Grenze zu Griechenland. Dass nun aufgrund des Flüchtlingsdeals über all dies geschwiegen wird, hat zu diesen Reaktionen geführt, und alle sind sich bewusst, dass dadurch das Problem nur größer wird. Die Augen vor Erdoğans Gesetzlosigkeit und Kriegspolitik zu verschließen wird vielleicht zu noch größeren Flüchtlingsströmen führen. Wir äußern diese Kritik schon seit längerem und haben gesehen, dass die deutsche Gesellschaft für dieses Thema auch eine große Sensibilität entwickelt hat.
Sie haben den Flüchtlingsdeal als zeitgenössischen Sklavenhandel bezeichnet. Wie standen die Gesprächspartner zu diesem Thema? Die finanziellen Hilfen der EU unterliegen keiner Kontrolle und man weiß nicht, wofür genau das Geld ausgegeben wird. Manche behaupten, die Gelder würden in den Krieg fließen. Was sind Ihre Beobachtungen und Meinungen dazu?
Natürlich müssen die Finanzhilfen penibel kontrolliert werden. Wir sagen nicht, dass es über die Flüchtlinge kein Abkommen geben soll. Sicherlich besteht Bedarf für ein internationales Abkommen und eine Zusammenarbeit, aber dies muss auch mit moralischen Werten vereinbar sein. Es darf nicht den Eindruck erwecken, als sei der Mensch eine verhandelbare Ware, als würde man Sklaven kaufen und verkaufen. Eine Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen müsste gleichzeitig eine Friedensvision beinhalten, eine friedliche Annäherung an die regionalen Probleme, insbesondere an die Kurdenfrage. Das aktuelle Abkommen jedoch ist sehr oberflächlich formuliert, geht nicht auf die Ursachen des Problems ein und bietet keinerlei Lösungsvorschläge zur Beendigung der Gewalt. Das zeigt, dass die Staaten nicht gewillt sind, diese Problematik vom Ansatz her zu lösen und stattdessen eher eine Politik wählen, die diese Problematik nutzt, um die internationale Kräftekonstellation neu zu ordnen. Die Türkei als auch Europa wollen die Flüchtlinge weiterhin als Trumpf im Ärmel behalten. Die Hilfsleistungen an die Türkei werden auf Projektbasis geleistet, daher müssen die europäischen Institutionen und Regierungen als Förderer die Finanzkontrolle übernehmen und die Ordnungs- und Rechtmäßigkeit überprüfen. Wir als HDP werden aufmerksam beobachten und prüfen, ob das Geld wirklich für die Flüchtlinge auf der Basis menschlicher Bedürfnisse und ohne jegliche Diskriminierung ausgegeben wird.
Die Drohungen auf Aufhebung der Immunität haben begonnen und reichen mittlerweile bis zum Entziehen der Staatsbürgerschaft. Sie selbst sind gleichzeitig Jurist, meinen Sie, dass diese Drohung in Kurdistan und in der Türkei umgesetzt werden kann?
Rechtlich ist es tatsächlich möglich. In der Geschichte der Republik wurden diese Maßnahmen immer wieder mal beschlossen. Nâzım Hikmet, zum Beispiel, wurde aus der Staatsbürgerschaft entlassen, wie auch beinahe alle Revolutionäre nach dem Militärputsch vom 12. September 1980. Der Staat hat diese Maßnahmen bis in die jüngere Geschichte angewandt, um bestimmte Segmente der Gesellschaft zu liquidieren. Die Staatsbürgerschaft bedeutet nämlich gleichzeitig ein Recht auf politische Organisierung innerhalb des Staates und die Anerkennung als Bürger. Je autoritärer und faschistischer ein Staat wird, desto mehr verlangt er Gehorsam von der Wirtschaft, Justiz und in den sozialen und politischen Bereichen. Alle gesellschaftlichen Segmente, denen er die staatsbürgerlichen Rechte nicht zugestehen will, schließt er von der Institution aus. In der Praxis ist diese Maßnahme jedoch nicht umsetzbar, weil die Bevölkerungsgruppe, die sie als Terroristen bezeichnen, mittlerweile fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Türkei ausmacht. Es ist nicht möglich, ein Drittel der Bevölkerung als Terroristen einzustufen und ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Abgesehen davon muss es aus rechtlicher Perspektive sehr gravierende Gründe wie tatsächlichen Staatsverrat und schweren Verrat an den Interessen des Volkes gegeben haben, um überhaupt jemandem die Staatsbürgerschaft entziehen zu können. Wenn wir nun eine objektive Bewertung vornehmen, müsste ein Großteil der AKPler aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden, weil sie diejenigen sind, die dieses Land am häufigsten verraten haben. Daher sehe ich keine Möglichkeit, dass diese Politik umgesetzt werden könnte.
Dasselbe gilt für die Aufhebung der Immunität. Die AKP hat im Parlament einen Antrag auf Verfassungsänderung gestellt. Aber die Stimmen von AKP und MHP [Partei der Nationalistischen Bewegung] reichen zusammen nicht aus, um eine Verfassungsänderung ohne Referendum durchzuführen. Daher wird sie die CHP [Republikanische Volkspartei] um Unterstützung bitten. Wenn diese die Unterstützung verwehrt, wird die AKP ihren Antrag zurückziehen müssen, weil sie wegen eines Paragraphen kein Verfassungsreferendum riskieren wird. Sie könnte versuchen, jedes Abgeordnetendossier einzeln durch die Kommission prüfen zu lassen und so die Immunität aufzuheben. Dann müssten aber die Immunitätsdossiers von AKP-, MHP- und CHP-Abgeordneten ebenfalls geöffnet werden und zur Diskussion stehen. Die AKP hält die Inhalte der Akten momentan jedoch geheim, teilt sie nicht mit der Öffentlichkeit. Niemand weiß, welche Abgeordneten aus welchen Gründen angeklagt werden. Nur unsere Akten werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aber wir haben nichts zu verbergen. Wir werden wegen Reden oder Meinungsäußerungen angeklagt. Falls die AKP uns zur Zielscheibe macht und eine Kampagne zur Aufhebung der Immunität beginnt, wird sie selbst daran untergehen. Es kann dazu kommen, dass auch die Immunität von AKPlern aufgehoben wird. Gerade deshalb zögert [Ministerpräsident] Davutoğlu mit der Durchsetzung des Vorhabens. Wir haben nichts, wovor wir uns fürchten müssen. Geht es nach uns, können sie die Immunität aller 550 Abgeordneten aufheben. Aber eine politische Haltung, die nur die Feindseligkeit gegen einige unserer Freunde zum Gegenstand hat, werden wir nicht akzeptieren. Falls auf diese Weise auch nur ein einziger unserer Freunde seines Amtes enthoben wird, werden alle 59 Abgeordneten der HDP gleichzeitig in organisierter und disziplinierter Weise Widerstand leisten. Abhängig von den politischen Entwicklungen in den nächsten Tagen werden wir unsere Entscheidung treffen.
Erdoğan meinte zuletzt, dass die Zerstörung von Amed-Sûr sein größter Traum sei. Nun will er das Eigentum und die historischen Werte der Bevölkerung verstaatlichen. Treffen Sie Gegenmaßnahmen für dieses staatliche Vorhaben?
In Sûr werden die Zerstörungsmaßnahmen mit Baggern und Bulldozern fortgesetzt. Weil niemand die Möglichkeit hat, das Gebiet zu betreten, wissen wir nicht, was da vor sich geht. Aber wie wir erfahren haben, werden die authentischen engen Gassen von Amed [Diyarbakır] zerstört und erweitert; im Rahmen eines Sicherheitskonzepts werden dort Polizeistationen und Kontrollpunkte errichtet. Eine Art historisches Gewebe wird dort vernichtet und stattdessen plant die AKP einen Wiederaufbau, der ihrer ideologischen Ausrichtung entspricht. Die Zerstörung der Kultur, Geschichte und Denkmäler der Bürger durch staatliche Gewalt zeigt, welchen moralischen Tiefpunkt die AKP erreicht hat. Die Rechtsinstitutionen und Anwälte legen gerade den nötigen Widerspruch ein. Die Lokalverwaltungen führen die juristischen Prozesse. Entscheidend werden aber die Sensibilität und der Wille des Volkes sein. Die Bevölkerung in Amed muss gegen diese staatlichen Maßnahmen entschlossenen Widerstand leisten. Sûr benötigt keine Modernisierung. Amed hat zahlreiche modernisierte Bezirke und Stadtteile. Es gibt massenhaft seelenlose, identitätslose Betonklötze. Was Sûr ausmacht, ist sein historisches kulturelles Erbe jenseits der Modernität. Zu sagen, es würde abgerissen, um etwas Neues zu errichten, fügt sich in die verkommene Moral der kapitalistischen Moderne ein. Der Traum Erdoğans zeigt offen, was für ein barbarischer Verfechter des Kapitalismus er ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, jeder Mensch aus Amed hat den Traum, die AKP zu Fall zu bringen. Und eines Tages werden wir diesen Traum verwirklichen. Wir werden die AKP wie auch die kolonialistische Mentalität aus unserer Heimat vertreiben. Wenn wir das geschafft haben, werden wir Sûr so authentisch, wie es war, wieder aufbauen.