Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
der »Erdo-Wahn« hat endgültig die deutsche Innenpolitik erreicht. Die Reaktion des türkischen Staatspräsidenten auf zwei Satirebeiträge im deutschen Fernsehen über seine Person hat zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik geführt, die in eine grundsätzliche Debatte über die Fragen »Was darf Satire?« und »Wie steht es um unsere Pressefreiheit?« mündeten.
Doch die wohl wichtigste Erkenntnis aus der gesamten Debatte ist die des derzeitigen Machtverhältnisses in den Beziehungen zwischen der Bundesregierung und dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Der Verdacht, dass Merkel und Co. aufgrund der Abhängigkeit von der Türkei in der vermeintlichen Flüchtlingskrise vor der AKP und ihrem Führer Erdoğan kuschen, steht ohne Zweifel im Raum. Selbstverständlich bringt diese Machtkonstellation auch die Gefahr mit sich, dass die Bundesregierung und die deutsche Justiz in der kommenden Zeit verstärkt gegen kurdische Strukturen in Deutschland vorgehen werden, um die AKP-Regierung zufriedenzustellen. Bereits jetzt befinden sich sieben kurdische Politiker in deutschen Gefängnissen in U- bzw. Strafhaft. Für einen weiteren kurdischen Aktivisten, der Mitte April in Schweden festgenommen wurde, stellte die deutsche Justiz nun einen Auslieferungsantrag. Die deutsche Bundesregierung scheint also abermals gewillt, weiter einen aktiven Part aufseiten der türkischen Regierung im Krieg in Kurdistan einzunehmen.
Denn während hierzulande im besten Falle aufgrund der Böhmermann-Affäre die Zusammenarbeit mit der Türkei bei der »Flüchtlingskrise« in Frage gestellt wird, würde ein Blick auf Kurdistan ausreichen, um viel gewichtigere Gründe zu finden. Dort führt die AKP seit Wochen einen grausamen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Ganze Stadtteile werden aus der Luft bombardiert und vom Boden aus beschossen. Vielerorts flüchteten aufgrund der Angriffe bis zu 90 % der EinwohnerInnen der betroffenen Gebiete. Denn wer zurückbleibt, riskiert das Leben. Und in Zusammenarbeit mit islamistischen Kämpfern, die eigens für diesen Krieg von den türkischen Behörden aus Syrien angeworben wurden, begeht die türkische Armee Kriegsverbrechen in Kurdistan vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Doch die Weltöffentlichkeit wird derzeit von Politik und Medien mit anderen »Krisen« in Schach gehalten.
»Die einzigen, die sich vor dem Palast [Erdoğans] nicht niedergekniet haben, sind wir«, erklärte der HDP-Kovorsitzende Demirtaş anlässlich der anhaltenden Festnahmewellen gegen kurdische AktivistInnen in der Türkei und Nordkurdistan und der Debatte über die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament. Fakt ist, die kurdische Freiheitsbewegung ist derzeit die effektivste Kraft im Kampf gegen die Präsidialdiktatur Erdoğans und die stärkste Verfechterin einer demokratischen Vision in Kurdistan, der Türkei und dem gesamten Mittleren Osten. Und wenn die Regierenden hier und anderswo im Sinne ihrer Eigeninteressen mit diesem Regime kooperieren und ihm dadurch den Rücken stärken, müssen wir es als unsere Pflicht verstehen, in dieser Phase noch mehr zusammenzurücken, und den Widerstand dagegen stärken.
In diesem Sinne »Hoch die internationale Solidarität«.
Eure Redaktion