Hintergründe der Nicht-Einladung Rojavas zu den Genfer Verhandlungen
Das US-amerikanisch-russische Tauziehen um die KurdInnen in Syrien
Can Çiçek, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.
Die dritten Genfer Verhandlungen galten schon vor ihrem Beginn als gescheitert. Zu groß waren die Diskrepanzen zwischen den geäußerten Zielen und der Praxis. Fehlende Legitimation der teilnehmenden Kreise und der exkludierten Parteien, interne Widersprüche der sogenannten syrischen Opposition und sich verschiebende militärische Machtverhältnisse haben Genf III erneut in unbestimmte Ferne gerückt. Auch wenn sich die internationalen Mächte weiter für das baldige Stattfinden von Genf III aussprechen, lässt die Rhetorik der verschiedenen Akteure große Skepsis aufkommen. Während sich sowohl die russische als auch die US-amerikanische Seite einer Rhetorik bedienen, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert, sorgen die Töne der regionalen Kräfte ebenfalls für gegenseitigen Unmut. Iran und Saudi-Arabien haben angekündigt, ihre diplomatischen Beziehungen einzustellen. Indessen sorgt die Türkei mit Angriffen auf die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) für neue militärische und politische Aggressionen. Die größte Unvereinbarkeit ist bei der Nicht-Einladung politischer VertreterInnen aus Rojava [Westkurdistan] festzustellen; von einer Ausladung bzw. Exkludierung der KurdInnen zu sprechen, wäre wahrscheinlich zutreffender.
Vielen schien die Meldung, die KurdInnen würden bei den Gesprächen von Genf III anfänglich nicht teilnehmen, sehr überraschend. Mit der kurdenfeindlichen AKP-Regierung war ein williger Sündenbock gefunden. Die internationalen Medien begründeten die Entscheidung mit der Haltung der Türkei, die eine kurdische Teilnahme an Genf III nicht tolerieren wollte. In persönlichen Gesprächen und Telefonaten drückten US-amerikanische wie russische DiplomatInnen und RegierungsvertreterInnen ihr Bedauern aus, dass die KurdInnen keine Einladung erhalten hatten. Doch versicherten beide Seiten, sich dafür einzusetzen, dass die KurdInnen im Laufe der Gespräche zum Verhandlungstisch hinzukommen könnten. Nichts als leere Floskeln, wie später kurdische VertreterInnen diplomatisch akzentuiert und indirekt verlautbaren ließen. Zu meinen, sie hätten aus der Historie keine Lehren gezogen und würden immer noch zum Spielball internationaler Mächte werden, käme einem Verkennen ihrer politischen und gesellschaftlichen Werte gleich, die nicht erst im Kampf gegen die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates (IS) und andere islamistische Gruppierungen geschaffen wurden. Es ist nichts Neues, dass sich die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und Iran gegen eine Teilnahme der KurdInnen stellen, ebenso wie es die von diesen Staaten kontrollierten Gruppen halten werden, die den Deckmantel »Opposition« tragen. Doch sind sich selbst Laien des US- und russischen Einflusses innerhalb des Entscheidungsprozederes der Vereinten Nationen bewusst. Sollte zwischen diesen beiden Kräften Einigkeit über die Teilnahme der KurdInnen bestehen, hätte selbst hypothetischer Protest sämtlicher regionaler Mächte keine größere Konsequenz zur Folge gehabt.
Die Ereignisse hinter den Kulissen, in deren intensiven diplomatischen Verkehr paradoxerweise vor allem die kurdische Seite in Vertretung der Administration von Rojava und der größten politischen Partei Rojavas, der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), involviert war, lassen darauf schließen, dass sich die verschiedenen Mächte, vor allem die USA und Russland, im Vorfeld darauf geeinigt hatten, die KurdInnen nicht als aktiven Part in die Verhandlungen einzubinden. Grund für diese Annahme bieten neben der Art und Weise, wie die Einladung der einzelnen Parteien zu Genf III erfolgte, die politischen Interessen Russlands und der USA, die nur sehr bedingt mit den Zielen der Revolution von Rojava kompatibel erscheinen.
Rojava gilt es an dieser Stelle im gesamtregionalen Kontext des politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses im Nahen und Mittleren Osten zu bewerten. Denn Rojava statuiert nicht nur für Syrien, sondern für die gesamte Region ein absolutes Novum. Gegen die fragilen, zumeist von einer konfessionell-ethnisch privilegierten Herrscherklasse regierten Nationalstaaten in der Region stellt Rojava ein multiethnisches und -konfessionelles Gesellschaftsmodell dar, das auf basisdemokratischen, ökologischen und geschlechterbefreienden Prinzipien und Werten basiert. Konträr zu Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterdrückung bestimmter Gesellschaftsgruppen, Sektierertum, ethnischem und konfessionellem Chauvinismus, Ökonomie- und Gewaltmonopol der Zentralregierung steht Rojava für Pluralismus, individuelle und kollektive Freiheit, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gleichheit und Geschwisterlichkeit zwischen sämtlichen Bevölkerungsgruppen. Kontradiktorisch zur sogenannten syrischen (arabisch-sunnitischen) Opposition speist Rojava seine Legitimation durch die freiwillige Partizipation der dort lebenden Bevölkerung am gesellschaftlichen Leben und an den politischen Entscheidungsprozessen. Vor allem der basisdemokratische und dezentrale Charakter der Rojava-Administration macht das Projekt unattraktiv für internationale Großmächte wie die USA und Russland. Weder Frankreich und Großbritannien nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens noch die USA als Träger der westlichen Tradition in der Region noch Russland haben Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt. Vielmehr wird nach realpolitischer Tradition Interessenpolitik betrieben, die auf der Einflussnahme auf die jeweiligen lokalen Akteure basiert.
In diesem Rahmen gilt es auch die US-amerikanische und russische Annäherung an die KurdInnen in Syrien zu bewerten. Erinnert sei an dieser Stelle die Aussage der Obama-Administration nach dem Beginn der IS-Angriffe auf Kobanê, wonach es kein strategisches Interesse aus US-amerikanischer Sicht darstelle. Ungeachtet der kurz zuvor durch die USA initiierten Anti-IS-Koalition. Die KurdInnen, allen voran die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und Volksverteidigungseinheiten (YPG) haben sich als schlagkräftigste Gegner des IS und anderer islamistischer Gruppen etabliert. In diesem Sinne trägt die Kooperation zwischen den USA und den KurdInnen aus Syrien überwiegend militärischen Charakter. Zumal das von Rojava repräsentierte Gesellschaftsmodell eine Alternative zum US-geführten kapitalistischen Weltsystem darstellt. In dieser Nische praktiziert die Rojava-Administration im Rahmen des Chaos in der Region eine gekonnte und geschickte Politik, die sich in Teilen und temporär mit den Interessen der USA und auch Russlands überschneidet, ihr Überleben sichert und die Forcierung des Aufbaus ihres Systems vorantreibt.
Der gemeinsame Nenner der KurdInnen mit den USA ist vergleichsweise größer als der mit Russland. Dabei spielt vor allem die Befreiung von Azaz (von der Al-Nusra-Front kontrolliert) und Cerablus (Dscharabulus; vom IS kontrolliert) eine bedeutende und eigentlich entscheidende Rolle. Zwar verhalten sich die USA derzeit distanziert zu den Befreiungsbestrebungen der Demokratischen Kräfte Syriens der genannten Regionen, die zwischen den beiden Rojava-Kantonen Afrîn und Kobanê liegen. Doch ist diese Distanz vor allem durch die ideologischen Differenzen zur kurdischen Freiheitsbewegung und dem von ihr vertretenen Paradigma des »Demokratischen Konföderalismus« fundiert. Im globalen Kontext würde durch die Anbindung Afrîns an Kobanê ein neuer kurdischer Gürtel von Kerkuk bis in die Nähe des Mittelmeers entstehen und damit eine neue Erdöl- und Erdgasroute. Vor allem Letzteres versucht Russland seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges zu verhindern. Dennoch ist auch Moskau beim Buhlen um die KurdInnen bemüht, seinen Einfluss auf die KurdInnen im Allgemeinen und auf die KurdInnen in Syrien im Besonderen zu stärken. So betrachtet auch Russland sie als potentiell wichtigen Partner im Kampf gegen die von der türkischen AKP-Regierung unterstützten islamistischen Gruppierungen wie den IS, die Al-Nusra-Front, die Islamische Front oder Ahrar Al-Sham, die gleichzeitig dem von Moskau unterstützten Assad-Regime feindselig gegenüberstehen.
Die heutigen AkteurInnen der kurdischen Politik haben aus der Historie gelernt. Das vom Verrat von Großmächten geprägte Buch der kurdischen Geschichte ist mit viel Blut geschrieben worden. Die kurdische Freiheitsbewegung vertritt in ihrer Philosophie, dass die Gesellschaft nur durch die absolute Loslösung vom herrschenden Weltsystem aus den Zwängen der Unterdrückung und Gefangenschaft befreit werden kann. Die KurdInnen werden sich in keiner Weise zum Spielball einer internationalen Großmacht machen lassen und werden an ihrem Prinzip des dritten Weges, der Alternative zum Status quo, festhalten. In diesem Sinne kann die Nicht-Einladung der KurdInnen zu Genf III mit der beschriebenen Haltung begründet werden. In einer Zeit, in der der Westen erneut von der russischen Feindschaft spricht und Russland das als Vorgehen wie im Kalten Krieg bewertet, werden sowohl die USA als auch Russland bestrebt sein, ihren Einfluss auf die KurdInnen zu stärken und die kurdische Bewegung auf ihre Seite zu ziehen.
Im Falle von Genf III sollte dies darüber zu realisieren versucht werden, dass arabisch-stämmige VertreterInnen des Bündnisses Demokratischer Rat Syriens (MSD) eine persönliche Einladung erhielten, während anderen Parteien wie der Riad-Gruppe eine freie Zuteilung ihrer Plätze gestattet wurde. Man wollte das Bündnis des MSD spalten und dadurch den Druck auf die KurdInnen verstärken. Die VertreterInnen aus Rojava erklärten jedoch, das nicht zu akzeptieren und dass ohne die KurdInnen keine Lösung im Konflikt erzielt werden könne. Zumal Rojava das einzige wirkliche Lösungsmodell darstelle. Entgegen dem Spiel der USA und Russlands, die KurdInnen (eventuell) im Nachhinein an den Gesprächen zu beteiligen, erklärten die VertreterInnen der Rojava-Administration, die unter Ausschluss der VertreterInnen der Völker Syriens getroffenen Entscheidungen in keiner Weise zu akzeptieren und für sich auch nicht als bindend zu verstehen. Darüber müsse man sich nun im Klaren sein. Genauso, wie allgemein klar sein dürfte, dass eine bleibende Lösung im Syrienkonflikt nur unter Einbindung der kurdischen Seite und der Demokratischen Selbstverwaltung von Rojava erfolgen kann.