Ein Einblick in die Selbstverwaltung der Geflüchteten in Kurdistan

Vergesst die UN!

Dilar Dirik

In von der PKK unterstützten Camps in Kurdistan lehnen die Geflüchteten die Opferrolle ab und haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, indem sie ihr eigenes autonomes System schaffen. Lasst uns einen Blick auf eine andere Geflüchtetengeschichte werfen, ohne in die entmenschlichenden und brutalen Diskussionen einzusteigen, die die sogenannte Flüchtlingskrise beherrschen. Eine Geschichte von Autonomie, Vermittlung, Selbstverwaltung und Empowerment. Drei Geflüchtetencamps illustrieren diese radikale Alternative zum Status quo.Zwiebelgarten im Camp Newroz im Kanton Cizîrê. Foto: A. Bender

Maxmur

Unsere Reise beginnt in Maxmur, 40 Minuten Fahrtzeit südlich von der irakisch-kurdischen Hauptstadt Hewlêr (Arbil). Selbst heute bezeichnen die Camp-Bewohner_innen ihre Existenz als »ein Wunder«. Es wurde in den 1990er Jahren errichtet, nachdem die türkische Armee kurdische Ortschaften zerstört und hunderttausend gewaltsam vertrieben hatte, die Massakern und Zwangsassimilation entkamen. Fern des mit Werbeplakaten türkischer Firmen dekorierten US-befeuerten Systems in Hewlêr fühlst du beim Betreten des von PKK-Guerillas beschützten Maxmur-Camps eine gänzlich andere Atmosphäre: ein kommunales Leben.

Aufgrund seiner explizit politischen Natur wurde das Camp, das offen die PKK unterstützt, vom türkischen und dem irakischen Staat wie auch von der Hewlêr regierenden PDK (Demokratische Partei Kurdistans) über die Jahre hinweg mehrmals verlegt und wiederholt kriminalisiert, überfallen und teilweise zerstört. Die UN haben das Lager wegen ihrer Politik nie über die Grundbedürfnisse hinaus angemessen unterstützt.

In der Anfangszeit wurden auf diesem wüstenähnlichen, lebensfeindlichen Stück Land viele Kinder durch Skorpione getötet. Trotz aller Angriffe etablierten die Menschen mit der Zeit ein grundsätzlich autonomes System und verwandelten das Land in eine fruchtbare grüne Ansiedlung. Jede Nachbarschaft hier bildet eine Kommune, jede mit einer autonomen Frauenkommune. Das Bildungssystem, einschließlich der Lehrpläne, die Gesundheitsversorgung, die Wirtschaft etc. sind selbstbestimmt und unabhängig von der KRG (Kurdistan Regional Government) im Irak. Die gesamte Infrastruktur wurde kollektiv aufgebaut. »Jede_r hat hier einen Stein in jedem Haus gesetzt«, heißt es in der Geschichte Maxmurs.

Der Ischtar-Frauenrat wurde 2003 gegründet, um die Forderungen und Bedürfnisse der Frauen zu repräsentieren. Die Frauenakademie »Sehîd Jîyan« (benannt nach einer bei einem Aufstand von der PDK getöteten Frau des Lagers) unterrichtet im Lesen und Schreiben, in Selbstverteidigung (philosophisch und bewaffnet), Welt-, Regional- und Frauengeschichte, demokratischem Konföderalismus, Ökologie und anderem.

»Wissen bedeutet Bewusstsein«, erklärt Aryen, die an der Akademie unterrichtet. »Es gab Zeiten in Mesopotamien, in denen die Gesellschaft von Frauen organisiert wurde. Diese Zeit war sehr viel ethischer und egalitärer als die heutige. Wir wollen durch die Wiederbelebung der Werte, die uns als Frauen genommen wurden, Widerstand leisten, indem wir Frauen mit Stärke und ethisch-politischem Selbstbewusstsein erziehen.«

Wer auch immer die Unsichtbarkeit gewöhnlicher Frauen im ultrapatriarchalen Hewlêr erlebt hat, trifft hier auf einen sehr unterschiedlichen Frauentyp: selbstbewusst, durchsetzungsfähig und glücklich – ein maßgeblicher Indikator dafür, wie ein systemrelevantes Umfeld das Leben von Frauen beeinflusst. Obwohl das Camp angeblich unter dem Schutz der UN steht, war es allein die PKK, die die Menschen evakuiert und verteidigt hat, als der ISIS letztes Jahr angriff. Alle Erwachsenen im Lager wissen, wie mit einer Waffe umzugehen und abwechselnd Nachtwache zu halten ist.

Şengal

Unser nächster Halt führt uns in die Şengal-(Sindschar-)Berge, die Stätte des jüngsten Massakers an den êzîdischen Kurd_innen.

»Dies ist definitiv das letzte Massaker an den Êzîd_innen«, sagen die Leute hier. »Wenn wir in die Diaspora verstreut werden, wird das auf jeden Fall unser Ende sein. Wir werden aufhören, als eine Gemeinschaft zu existieren. Deswegen ist der einzige Weg zu überleben, uns zu organisieren.«

Was viele nicht realisieren, die die soziologischen Faktoren von Vertreibung nicht begreifen, ist, dass die Verbindung zu einem bestimmten Stück Land für viele Gemeinschaften ein existenzielles Element ist. Vertreibung bedeutet oft die unumkehrbare Auslöschung von Geschichte.

»Aufgrund von Verrat und mangelnder Organisierung wurden wir zu Opfern«, erklärt ein Mitglied des Gründungsrats von Şengal, der im Januar 2015 auf der Grundlage von Abdullah Öcalans System der demokratischen Autonomie gegründet wurde. »Jetzt wissen wir, wenn wir uns nicht um uns kümmern, wird es niemand tun.«

Schätzungsweise 40 000 Menschen leben zurzeit in Zelten im Gebirge. »Anfangs liefen wir von Zelt zu Zelt, um die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Schrittweise begannen wir, eine Selbstorganisation durch verschiedene Komitees für Dienstleistungen, Kultur, Gesundheit, Bildung, Wirtschaft etc. aufzubauen, um Alltagsbelange zu regeln, aber auch langfristige Ziele. Frauen und Jugend organisieren sich autonom. Sehr schnell waren wir der PDK ein Dorn im Auge, die sich zurückzog, als das Massaker begann«, fügte er hinzu. Während die PDK die Straßen für andere blockiert, verteilt sie hier internationale Hilfe aus dem Ausland in eigenem Namen.

Dêrik

Unser letzter Halt ist das Newroz-Camp, das im August 2014 in Dêrîk (Al-Malikiyah) gegründet wurde, nachdem mehr als 10 000 Êzîd_innen durch den »humanitären Korridor« über die schwindende irakisch-syrische Grenze von Şengal nach Rojava geflüchtet waren. Der Korridor war von den YPG/YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) aus Rojava und PKK-Guerillas erkämpft worden. Während meines ersten Besuchs im Lager im Dezember 2014 hatte das von der Türkei und der PDK – Letztere kontrollierte den Grenzübergang auf irakischer Seite – über Rojava verhängte vollständige Embargo jeglicher humanitären Hilfe, inklusive Lebensmitteln und Decken, und sogar Büchern den Übergang verwehrt. Aufgrund politischen Drucks, besonders nach dem Widerstand von Kobanê, stellen nun einige internationale Organisationen begrenzte Hilfe bereit. Aber das Embargo dauert an. Die Geflüchtetenbehörde der Vereinten Nationen (UNHCR) versuchte das Camp entsprechend ihrem universellen Konzept neu aufzubauen, ungeachtet der Tatsache, dass dort bereits ein selbstbestimmtes System praktiziert wurde. Konfrontiert mit dem Widerstand der Lagerversammlung, war die UNHCR gezwungen, deren Forderungen zu respektieren, und liefert nun materiellen Bedarf, den die Menschen selbst verteilen.

Vermeintlich verantwortliche internationale Institutionen haben diese Menschen häufig sterben, hungern und leiden lassen, indem sie sich staatlicher Politik unterwarfen. Währenddessen schaffen sich die Geflüchteten, denen alles genommen wurde, ein würdiges und kraftvolles Leben.

Alan Kurdî

Im September schaffte es das Foto des im Meer ertrunkenen und am Strand angespülten kleinen Kindes Alan Kurdî aus Kobanê, das stumme Gewissen der Menschheit zu berühren. Mein Genosse, der kurdische Aktivist Mehmet Aksoy, schrieb: »Manchmal steht das Schicksal eines Kindes schon 100 Jahre, bevor es geboren ist, fest. Wir sprechen nicht von einem göttlichen Schicksal, wir sprechen von historischen Kräften, Politik, Macht, Hegemonie, wirtschaftlicher Ausbeutung und Kolonialismus.«

Was Körper wie den von Alan Kurdî so brutal wertlos macht, ist diese Ordnung, die Staatsgrenzen höher bewertet als menschliche Wesen.
Was können wir in einer von Nationalstaaten diktierten Welt von einem System wie den UN erwarten, das nur die Vertretung von Staaten respektiert, die die Massaker von heute verschulden, Genozide, ethnische Säuberungen, Massenvertreibungen, Armut, Krieg und Zerstörung, um nur einiges zu nennen, weil es sie per Definition erfordert, besonders wenn man bedenkt, dass sein Kern aus den größten waffenverkaufenden Staaten der Welt gebildet wird?
Es ist eine Strategie der internationalen Ordnung, um den rassistischen Status quo aufrechtzuerhalten, wenn vertriebene Menschen als abhängige, apolitische Subjekte dargestellt werden, während ein chauvinistischer Diskurs in Aufnahmeländern geführt wird, die selbst auf Imperialismus, Rassismus, Kolonisierung, Raub, Ausbeutung, Krieg, Mord und Vergewaltigung aufgebaut wurden. Allerdings erzählen Maxmur, Dêrik und Şengal, gestärkt durch die PKK-Ideologie, die das Nationalstaatssystem ablehnt, eine andere Geschichte.

Sabriye, eine Mutter aus Maxmur, erklärt: »Sie fürchten uns, weil wir auf unseren eigenen Füßen stehen. Wir haben unsere Rettung niemand anderem anvertraut, wir haben unser Schicksal selbst in die Hand genommen und unsere eigene Selbstverteidigung und unser eigenes Gesellschaftssystem geschaffen. Wir haben das Leben süßer gemacht, indem wir uns selbst organisieren.«

Weit mehr als Wohltätigkeit brauchen Geflüchtete Genossinnen und Genossen, die Ursachen für Vertreibung (wie fremde Invasionen und Waffenhandel) bekämpfen helfen und die Autonomie der Betroffenen unterstützen. Letzten Monat hat Alan Kurdîs Vater Abdallah zur politischen Anerkennung der Rojava-Administration aufgerufen: »Ich bin dankbar für Euer Mitgefühl für mein Schicksal. Das hat mir das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Aber ein wesentlicher Schritt, um diese Tragödie zu beenden und ihre Wiederkehr zu vermeiden, ist die Unterstützung unserer Selbstorganisierung.«

Die Welt hat für Alans Vater geweint, wird sie seine Politik ebenso unterstützen?


Dilar DirekDilar Dirik ist Doktorandin an der Universität Cambridge mit wissenschaftlichem Schwerpunkt auf der kurdischen Frauenbewegung. Unter anderem ist sie Kolumnistin bei Kurdish Question http://kurdishquestion.com/. Auf ihrem Blog »Jin, Jiyan, Azadî« finden sich weitere Texte von ihr.