Anstelle des traditionellen politischen Elitismus und des bewaffneten Kampfes dringen jetzt neue Phänomene vor: große Volksbewegungen
Neue Perspektiven für das Baskenland
Samara Velte, Journalist und Schriftsteller
2014 sollte das Jahr der kleinen Nationen Westeuropas sein: Schottland stimmte im September über die Unabhängigkeit ab, und Katalonien läuft geradeaus zu einem Selbstbestimmungsprozess ohne die Unterstützung der spanischen Regierung. In beiden Fällen ist das Ziel die Unabhängigkeit und das Mittel eine Volksabstimmung.
Nun beginnt auch das Baskenland, in diese Richtung zu schauen. In der Vergangenheit waren die wichtigsten Referenzen für die baskische Unabhängigkeitsbewegung eher Fälle wie Nordirland oder Kurdistan, wo der politische Prozess massiv vom bewaffneten Konflikt überschattet wurde. Man sprach von Märtyrern, von Opfern des Konflikts und von der Notwendigkeit, die tief gespaltene Gesellschaft zu versöhnen, bevor man sich überhaupt überlegen konnte, was man aus dieser Gesellschaft in der Zukunft machen wollte.
Im Oktober 2011 gab die Organisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, »Baskenland und Freiheit«) bekannt, dass sie entschieden hatte, ihre bewaffneten Aktivitäten zu beenden; wenige Monate später übergab sie einen Teil ihrer Waffen an internationale Beobachter, als Beweis ihrer Absichten. Sie forderte alle Parteien auf, sich im politischen Prozess zu engagieren. Doch die spanische Regierung blieb unbeweglich und hielt an ihrem jahrzehntelangen Dogma fest: Bis sich ETA komplett auflöst, wird Madrid nichts tun.
Im Baskenland ist diese Haltung bekannt. Inzwischen lösen Madrids Worte nur noch Skepsis aus: Wenige glauben, dass die spanische Regierung jemals vorhatte, auch nur einen Millimeter von ihrer militärisch-repressiven Strategie gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung abzuweichen. Im Gegenteil: Der Staat hat die wichtigsten Versuche, die Forderungen der Ezker Abertzalea (»Patriotische Linke«) in die politische Arena zu bringen, niedergeschlagen, bevor die Vorschläge überhaupt öffentlich wurden. So wurden sämtliche Parteien der Ezker Abertzalea bis vor knapp vier Jahren illegalisiert und die wichtigsten politischen Figuren und Ideologen wie Arnaldo Otegi verhaftet, eingesperrt und, oftmals, gefoltert.
Otegi selbst behauptete vor einem Monat – in einem Interview, das er der Zeitung »Berria« vom Gefängnis aus gab –, dass die baskische Gesellschaft »nie an einen nationsaufbauenden Prozess denken wird, solange sie sich nur mit den Folgen des Konflikts beschäftigt«. Möglicherweise basiert Madrids Strategie auch darauf: Während in Katalonien über Demokratie, Grundrechte und Fortschritt diskutiert wird, fragen sich die Basken immer noch, was mit ihren fast 800 politischen Gefangenen und mehreren hundert Flüchtlingen passieren soll.
Trotz allem wächst seit einigen Jahren auch eine neue Generation im Baskenland heran, die nicht so sehr an der Vergangenheit hängt, sondern neue Vorschläge für das kulturell und politisch unterdrückte Volk fordert. Dabei geht es natürlich nicht darum, die Gefangenen und Opfer des Konflikts zu vergessen, sondern vielmehr eine neue baskische Gesellschaft zu schaffen, die ideologisch weniger von Madrid abhängt. Anstelle des traditionellen politischen Elitismus und des bewaffneten Kampfes dringen jetzt neue Phänomene vor: große Volksbewegungen unter der Parole »Wir sind ein Volk, wir wollen entscheiden« und mehrere Beispiele zivilen Ungehorsams als politische Forderung für Selbstbestimmung.
Die sichtbarsten Symbole dieser neuen Bewegungen waren in den letzten Jahren die Organisation Gure Esku Dago (»Es liegt in unserer Hand«) und die sogenannten Askeguneak (»Freie Räume«). Erstere organisierte am 8. Juni 2014 eine 123 Kilometer lange Menschenkette quer durch das Baskenland; mehr als 150 000 Menschen nahmen daran teil. Am 8. November, dem Tag vor Kataloniens inoffizieller Abstimmung über die Unabhängigkeit, mobilisierte Gure Esku Dago 10 000 Menschen, um ein riesiges Mosaik zusammenzustellen: Das Bild, von der Luft aus gesehen, zeigte eine Wahlurne. Im kommenden Jahr will die Gruppe größere Initiativen organisieren, um so viele Bürger wie möglich zu mobilisieren; dabei findet sie Unterstützung durch mehrere politische Persönlichkeiten aus verschiedenen Parteien, obwohl die Organisation selbst parteiunabhängig ist.
Die sogenannten Askeguneak erschienen als kollektive Antwort auf die Razzien, die die spanische Regierung gegen – vor allem – die junge Unabhängigkeitsbewegung im Baskenland durchführt. Um den Protest öffentlich zu machen, wird die Person, die verhaftet werden soll, an einen öffentlichen Ort gebracht, und hunderte oder tausende Leute sind aufgerufen, sich um sie herumzusetzen und eine »menschliche Mauer« zu formen. Oft ziehen sich dabei alle Menschen Masken über, damit es der Polizei schwerer fällt, die Angeklagten zu identifizieren. Diese Art von zivilem Ungehorsam hat inzwischen in mehreren Städten stattgefunden und sich schon fast in eine reguläre Antwort auf Polizeigewalt verwandelt.
Diese beiden Beispiele weisen auf ein Umdenken in der baskischen Unabhängigkeitsbewegung hin. Man hat sich entschieden, weniger nach Madrid zu schauen und sich mit mehr Autonomie zu organisieren. Und dabei stützt man sich vor allem auf eine Säule: auf die Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung, der selbstbestimmt leben will.
Samara Velte ist Journalist und Schriftsteller aus dem Baskenland. Der Artikel wurde zuerst in PolitikART, einer zweiwöchentlichen Beilage der in Europa erscheinenden Tageszeitung Yeni Özgür Politika, am 26.11.2014 veröffentlicht.