latin amerikaHintergründe der Friedensgespräche zwischen FARC-EP und Staat

Frieden und Ökologie in Kolumbien

Metin Yeğin

Die offiziellen Gespräche zwischen der FARC-EP und der kolumbianischen Regierung hatten bereits begonnen. Wir waren auf Kuba in Havanna an einem Ort, der für unser Treffen ausgesucht worden war. Kommandant Ricardo Téllez sprach zu uns. In der Weltpresse ist er als Sprecher der FARC-EP bekannt. »Wir sind in eine andere Etappe des Dialogs getreten. Nach geheimen und prüfenden Treffen haben wir uns nun als Ergebnis all dessen an einen Tisch gesetzt. Wir und die kolumbianische Regierung hatten die Vereinbarung erreicht, die Gespräche ohne Unterbrechung fortzusetzen, um den sozialen Problemen Kolumbiens ein Ende zu bereiten. (...) Wir wollen, dass diese Diskussionen von allen Organisationen in Kolumbien geteilt werden. Wir wollen, dass die Schüler, Dorfbewohner, Indigenen, Studierenden, Vermittler, Journalisten, Intellektuellen und Künstler dies teilen«, sagte er und definierte den ersten Gegenstand der Diskussion als »neoliberalen Zustand«.

Der »neoliberale Zustand«, den Ricardo Téllez zu Beginn der Verhandlungen erwähnte, ist das Problem ganz Lateinamerikas, und wie wir wissen, das der ganzen Welt. Doch muss man auch erwähnen, dass der Neoliberalismus, bevor er überhaupt erst so benannt wurde, auf der Welt zuerst in Chile mit dem militärisch-faschistischen Diktator Pinochet begonnen hatte. Aus diesem Grund sind die Auswirkungen des in Lateinamerika früh beginnenden Neoliberalismus mit seinen verheerenden Folgen viel stärker. Obendrein ist in Kolumbien, weil es als Land nahezu vollständig den USA ausgeliefert wurde, die Kluft in der Einkommensverteilung am größten und es gehört zu den Ländern mit der größten Ungleichheit bei der Landverteilung. Während 57 % der Bevölkerung auf weniger als 3 % des Landes zu leben versuchen, besitzen die reichsten 3 % über 70 % der Anbauflächen. Während das reichste Prozent der Bevölkerung 45 % des Vermögens besitzt, ist die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen in den Händen von nur 37 Grundbesitzern.

In Kolumbien ist – auch historisch gesehen – der Widerstand der Bevölkerung gegen diese Ungerechtigkeiten sehr radikal. »Radikalität« ist nicht nur gleichbedeutend mit bewaffnetem Widerstand. Gegen die Ausbreitung der von den USA angeführten imperialistisch-kapitalistischen Verhältnisse ab den 1930ern entstanden radikal-kommunistische autonome Kommunen, die mit den lokalen traditionellen Strukturen zusammengewachsen sind. In der Zeit bis 1950 bauten die Organisationen der kleinen Grundbesitzer, der Dorfbewohner und Landarbeiter gegen die vom Staat unterstützten Repressionen und Gewaltakte eine starke Verteidigung auf. Diese »Selbstverteidigung« der autonom-kommunalen Gemeinden beruhte auf Bauernorganisationen, die kollektive, kommunale Landwirtschaft betrieben. Diese versuchten mit der Stärkung ihrer Organisierung und der Ausbreitung in andere Regionen, autonom-kommunale Gebiete gegen die Repression und Gewalt zu schaffen. Unter der Kontrolle dieser »Selbstverteidigungsgruppen« standen, insbesondere zu Anfang der 1960er, viele Gebiete in Süd- und Zentralkolumbien. Im Jahr 1964 gab es beispielsweise mehr als 16 autonome Gemeinden. Die Gemeinden waren friedlich, doch für die Latifundisten (Großgrundbesitzer) stellten sie immer eine direkte Gefahr dar. Gleichzeitig bargen sie eine Gefahr für die kapitalistischen Verhältnisse, die eine schnelle Ausbreitung im Land anstrebten, und insbesondere für die USA. Die beiden eigentlich auf den Tod zerstrittenen Parteien im Land, die Konservativen und die Liberalen, kamen vor allem aufgrund der finanziellen Unterstützung der Vereinigten Staaten zusammen und griffen die wichtigste der autonomen Gemeinden, die Gemeinde Marquetalia, an. Der beginnende Widerstand gegen diesen Angriff am 27. Mai 1964 gilt als Gründungstag der FARC-EP. Der Krieg beruht somit von Anfang an auf dem Widerspruch zwischen der Kommune und den neuen kapitalistischen Verhältnissen.

Der Neoliberalismus ist, ironisch und paradox, einer der Gründe für die Bereitschaft der kolumbianischen und der US-amerikanischen Regierung zum »Frieden«. Die neoliberale Ökonomie, deren eine Hauptachse die schnelle Plünderung der Natur darstellt, gelüstet es nach den Gebieten, die unter Kontrolle bzw. dem Einfluss der Guerilla stehen.

Die sehr wichtigen Erdöl-, Erdgas-, Silber- und reichen Mineralreserven, die auf den von der FARC-EP- und der ELN-Guerilla kontrollierten Gebieten zu finden sind, machen den transnationalen Monopolen den Mund wässrig. Außerdem ist hier auch die Hauptquelle der weltweiten pharmazeutischen Industrie, ein Teil des Regenwaldes, zu finden. Gleichzeitig ist der Amazonas die Quelle des Wassers, das in naher Zukunft wohl der weltweit wertvollste Rohstoff sein wird; dazu die geplanten großen hydroelektrischen Staudämme und Kraftwerke. So sitzt die Guerilla heute in der einen Hinsicht im großen Profitgebiet des Kapitalismus, in der anderen Hinsicht im Herzstück der Ökologie für die Menschheit.

Die »Landreform«, die historisch gesehen eines der Hauptthemen des Aufstandes war, bildete den ersten wesentlichen Gegenstand der Friedensverhandlungen in Kolumbien und wurde unter dem Haupttitel »eine ganzheitliche Agrarentwicklungspolitik«, unter Ausklammerung einiger Punkte, akzeptiert und unterschrieben. Diese Vereinbarung war für die FARC-EP ein Anfang in Richtung einer radikalen Transformation für Gleichheit und Demokratie in der Realität des Landlebens und in der Landwirtschaft. Neben der Landreform sind gegen die neoliberale Agrarpolitik und die Hegemonie von Unternehmen der Aufbau und die Unterstützung von Kooperativen für die Verteilung der Produkte von Kleinproduzenten und das Ankommen dieser Produkte auf dem Markt vorgesehen. Dem durch die große Armut in der Region entstandenen Hunger wurde der Kampf angesagt.

Die FARC-EP hat diese Garantien erhalten, aber ihr wichtigstes Anliegen ist trotzdem bestehen geblieben. Denn paradoxerweise ist einer der Gründe, warum man sich auf diesen Punkt der Landreform geeinigt hat, die Forderung des neoliberalen Kapitals nach »Frieden«. Denn die Unternehmen der Latifundisten bzw. der Großgrundbesitzer, die aufgrund der Existenz der Guerilla nicht in der Lage waren, sich frei zu bewegen, sind nun in die Landwirtschaft mit einbezogen und für die transnationalen Monopole, die in Kolumbien sowie in Brasilien, Argentinien und Paraguay ihre genmanipulierte Landwirtschaft betreiben, stellen diese Gebiete Neuland dar. Dies wird also die Grenzen, wie zum Beispiel des Biotech-Unternehmens Monsanto, über die drei oben erwähnten Staaten erweitern. Wieder baut sich eine ökologisch paradoxe Situation auf. Der auf der einen Seite von den Verwüstungen des Krieges befreite Boden kann nun unter den noch stärkeren Einfluss von GVO-Soja, GVO-Mais und GVO-Raps gelangen. Gleichzeitig werden die für die Erzeugung von Biokraftstoffen neu produzierten Eukalyptuswälder den ganz natürlichen Reichtum in noch größere Gefahr bringen.

Hier muss man auch den »Drogenhandel«, über den bis jetzt noch keine Vereinbarung getroffen wurde, aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Auf der einen Seite erwecken die transnationalen Monopole den Anschein, als beunruhige sie das Kapital des »Drogenhandels«. Im Grunde wünscht sich an keinem Ort der Welt das eine Kapital, mit einem anderen konkurrieren zu müssen. Das gilt umso mehr, wenn das konkurrierende Kapital so unberechenbar und undurchsichtig fließt, wie es beim Drogenverkehr der Fall ist. Das »legale« Kapital tut sich also seit jeher schwer mit dem »illegalen« Kapital aus dem internationalen Drogenverkehr. Dennoch sind seine Einwände gegen den starken Drang dieses illegalen Kapitals, sich zu legalisieren und mit dieser Legalisierung insbesondere das Bankensystem zu füttern, nur Augenwischerei. Auf der einen Seite unterstützt das transnationale Kapital den Krieg gegen den »Drogenhandel«, auf der anderen Seite schnappt es nach einem wichtigen Anteil davon. Allein die Existenz von [dem Schwarzgeld in den] Bankfilialen in sogenannten Steueroasen ist dafür Beweis genug.

Als wir den Kommandanten der FARC-EP Olmedo Ruiz nach dem Drogenhandel fragten, antwortete er: »Bei diesem Thema wollen die Herrschenden die Menschen wieder mit Täuschungen auf ihre Seite ziehen. Wir haben wiederholt erklärt, dass wir mit Drogenhandel nichts zu tun haben. Wir haben gesagt, dass die Dorfbewohner dies für ihren eigenen Bedarf anbauen.1 Denn der Staat zwingt sie dazu, er bietet ihnen keine Alternative zum Anbau an. Außerdem ist das nicht nur eine politische Angelegenheit, sondern eine soziale sowie ein Ergebnis dieses Systems. Wenn das System diesen Menschen einen Weg zum Anbau eines alternativen Produktes weisen würde, mit dem sie ihr Leben bestreiten könnten, dann könnte sich dies ändern. Und im Grunde sind es nicht die Dorfbewohner, sondern die Autoritäten und das System, die einen Nutzen daraus ziehen. Das System akzeptiert diesen Handel mit Drogen. Wissen Sie denn nicht, dass die Soldaten die Drogen transportieren? Wer trägt sie in andere Länder? Wir sagen, dass der Staat dies tut. Sie werden sehen, dass all diejenigen, die den Drogenhandel erlauben, innerhalb des Staates zu finden sind. Aus diesem Grund ist in der eigenen Strafverfolgung des Staates zu sehen, dass die politischen Parteien der Bourgeoisie, die Streitkräfte, die Armee, ihre Polizei, die Polizeichefs und Bürokraten in den Drogenhandel involviert sind. Auch die Staatsspitzen sind mit eingeschlossen.«

Eine Einigung in diesem Punkt und eine erfolgreiche Anwendung des Programms ist höchstens gleichbedeutend mit einer Verlagerung des Anbaus nach Peru, Bolivien und Ecuador, oder tiefer in den Amazonas hinein – wie es die letzten Jahre ohnehin geschehen ist. Deshalb ist es ein anderes Thema, wie man die seit hunderten Jahren bestehende Gewohnheit, Coca-Blätter ständig wie Tee zu nutzen, in einer Umwandlungsphase beseitigen will. Hier muss noch einmal daran erinnert werden, dass das Coca-Blatt keine Droge ist. Ein Umwandlungsplan, in dem »die Guerilla mit eingeschlossen ist«, kann vielleicht die einzige Chance sein, aber es steht außer Frage, dass es sich um kein einfaches Thema handelt. Solange die Nachfrage nach Kokain innerhalb der Bourgeoisie der USA und anderswo besteht und solange die extreme Ungleichheit, vor allem in den Vororten und Ghettos der Städte, bleibt, so lange wird sich der Drogenhandel auch nicht aus der Welt schaffen lassen. Wenn wir es ironisch ausdrücken wollen, wird sich an der Situation grundlegend nichts ändern, wenn der Macht symbolisierende Hummer-Jeep nicht verschwindet.

Es ist schwieriger, den Frieden zu organisieren als den Krieg. Der [ehemalige] Guerillakommandant und Unterzeichner des Friedensabkommens in El Salvador, Roberto Cañas [López], erklärte dazu: »Stellt Euch vor, früher habt Ihr Basketball gespielt und später müsst Ihr auf einmal Fußball spielen.« Die Tatsache, dass der Guerillawiderstand und der darauffolgende politische Widerstand so unterschiedlich sind, macht deutlich, dass die Friedensverhandlungen, selbst wenn sie zu einem erfolgreichen Abschluss kommen, lediglich einen Anfang darstellen. Denn wenn man der zerstörerischen Wirkung der neoliberalen Politik keine alternative und revolutionäre Wirtschaftspolitik entgegensetzt, wird das Land größere Verluste erleiden als zu Kriegszeiten. Dieser Zustand hat sich auf frappante Art und Weise in Guatemala gezeigt. Wir sprachen mit dem Parlamentarier der URNG-Guerillabewegung, Miguel Ángel Sandovalile, der sagte: »Vor einer halben Stunde kam ein Genosse. Er sprach von der Bodenkommission und der Notwendigkeit eines Rechts für die landlosen Bauern. Eigentlich war dies in der Friedensvereinbarung enthalten. Es gibt also 13 Jahre nach dem Friedensschluss überhaupt keine Veränderung bei der Landverteilung.«

Darüber hinaus ist auch die Rückkehrmöglichkeit für die Menschen, die von ihrem Land vertrieben wurden, ein Problem für sich. Die Zahl der Rückkehrer liegt in El Salvador und Guatemala fast bei null. Einer der wichtigsten Gründe dafür liegt bei den verschiedenen Arten der Repression durch die Großgrundbesitzer, die die Rückkehr zu verhindern suchen. Aber gleichzeitig ist vielleicht auch das Fehlen eines ökonomischen Programms, das den Bauern ermöglicht, ihr Leben dort wieder fortzuführen, der Grund. Im Artikel zur »Agrarreform«, der von der FARC-EP und der Regierung unterzeichnet wurde, sind insbesondere die umfassenden Maßnahmen zur Organisierung der Verteilung der Produkte von Kleinbauern und das Vorhaben der Organisierung von Kooperativen Ergebnisse der bedeutenden Anstrengungen der FARC-EP, die sich der oben genannten Problematik bewusst ist. Trotz dieser Tatsache gibt es eigentlich noch einen anderen Ist-Zustand, der meiner Meinung nach noch maßgebender ist als die eben genannten zwei Gründe. Das ist der »soziale Wandel«. Auf der ganzen Welt kehrt nur ein Bruchteil der Menschen aus den Städten in die Dörfer zurück, aus welchen Gründen auch immer sie migriert sein mögen. Insbesondere für Jugendliche ist es trotz städtischer Slums und Armut schwer, sich von der Stadt zu lösen. Selbst bei der »Bewegung der Landlosen« (MST) in Brasilien, die dies ganz erfolgreich meisterte, nennt die häufigste Beschwerde der Familien die Neigung der Jugendlichen, in die Städte zu gehen. Man darf dabei die kapitalistische Hegemonie der Stadt nicht aus den Augen verlieren. Auch wenn es Menschen gibt, die zurück aufs Land wollen, so ist die Tendenz, die ländliche Existenz zu verkaufen, und das sehr oft für sehr wenig Geld, und in Richtung Stadt zu ziehen, doch sehr bedrückend. Dies impliziert den Verkauf des Landes an Agrarunternehmen und ein Andauern der sozialen und ökologischen Zerstörung. Nur ein radikales Programm, eine ganzheitliche Alternative wie eine »Dorfkommune«, könnte vielleicht für eine Verwirklichung der Rückkehr in die Dörfer sorgen.

Der Frieden erfordert eine gute Organisierung. Dazu äußerte der FARC-Kommandant Iván Márquez während der Verhandlungen: »Ein schlechter Frieden ist schlimmer als Krieg.«

Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden!

Fußnote:
Die Dorfbewohner bauen Coca an. Coca wird als natürlicher Tee gebraucht, es ist keine Pflanze, die eine Droge darstellt. In Lateinamerika gibt es ein Sprichwort: »Aus Coca kann man zwei schlechte Dinge machen, Coca-Cola und Kokain. Und beides machen nicht wir, sondern die USA.«


Metin Yeğin ist Autor, Filmemacher, Journalist, Arbeiter, Rechtsanwalt und Wanderer. Er studierte Filmwissenschaften an der Cambridge University. Beim Militärputsch 1980 in der Türkei wurde er verhaftet. In seinen Kolumnen für die Zeitungen Radikal, Özgür Gündem, Yeni Özgür Politika und andere internationale Zeitungen schreibt er über die Auswirkungen des Neoliberalismus in Lateinamerika und der Türkei sowie den Widerstand dagegen.