Die allgemeine Lage der Wirtschaft in der Türkei

Ein gezielter Verarmungsprozess

Ahmed Pelda, Wirtschaftswissenschaftler und Schriftsteller


Betrachten wir die aktuellen Daten der türkischen Wirtschaft, so können wir feststellen, dass die Türkei, nach den Daten des letzten Jahres, Platz 6 der Länder mit der höchsten Inflationsrate belegt. Den offiziellen Daten der Statistikbehörde TÜİK zufolge liegt die aktuelle Inflationsrate bei 65 Prozent. Dasselbe TÜİK gibt jedoch an, dass die von der Bevölkerung empfundene Inflationsrate bei 129 Prozent liege. Bei der Berechnung des Mindestlohns für Arbeiter:innen und Angestellte sowie der Renten legt der Staat die offizielle Inflationsrate zugrunde und passt auf dieser Grundlage die Zahlungen an. Der Mindestlohn in der Türkei liegt jedoch stets unter der Armutsgrenze. Mit anderen Worten: Jede:r Mindestlohnempfänger:in ist ärmer als ein:e arme:r Bürger:in. Während die Armen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, haben die Mindestlohnempfänger:innen Schwierigkeiten zu überleben. Wenn mehrere Personen in einer Familie nicht arbeiten und nicht solidarisch sind, reicht ein Mindestlohngehalt in Wirklichkeit nicht aus, um die Wohnungsmiete zu decken, ganz zu schweigen vom Bedarf an Essen, Trinken und Mobilität.

Ein weiterer derzeit diskutierter Punkt ist die kontinuierliche Aufwertung ausländischer Währungen gegenüber der Türkischen Lira. Dies bedeutet, dass in der Türkei hergestellte Produkte auf ausländischen Märkten billiger werden. Andererseits sind die Preise der aus dem Ausland importierten Produkte in Türkische Lira höher. Infolgedessen muss die Türkei im Vergleich mehr Waren produzieren, um ein bestimmtes Produkt auf ausländischen Märkten zu kaufen oder durch den Verkauf auf ausländischen Märkten Devisen einzunehmen.

In der Türkei schrumpft der Inlandsmarkt in dem Maße, wie die Produktionskosten steigen. Dieser Kostenanstieg wird jedoch nicht durch die Lohnkosten verursacht, sondern durch die Preise für den Einkauf von Material. Die Türkei kauft Produkte und Material aus dem Ausland, die sie verarbeiten und wieder exportieren muss, um wieder einzukaufen und weiterhin produzieren zu können. So müssen beispielsweise Motoren, Software, Präzisionsinstrumente, Ferngläser, Linsen und langlebige Stähle sowie Hochtechnologie in der Rüstungsindustrie im Ausland beschafft werden. Ohne diese würde die türkische Rüstungsindustrie vollständig zum Erliegen kommen. Auch in anderen Bereichen der Industrie besteht eine absolute Abhängigkeit von Importen aus dem Ausland. Gleichermaßen gibt es in der Agrarindustrie große Abhängigkeiten – so müssen einige Arten von Saatgut, Pestiziden, Düngemittel und landwirtschaftliche Geräte importiert werden. Der ständige Anstieg der Devisenpreise macht so die Produktion fast unmöglich.

Die Immobilienpreise steigen ebenfalls im Einklang mit der Inflation und den Wechselkursen. Mittlere und kleine Unternehmen, die als Motor der türkischen Wirtschaft gelten, haben aufgrund der steigenden Kosten für Mieten, Transport und die Herstellung von Produkten, insbesondere in den Großstädten, große Schwierigkeiten. Die einzige Grundlage, auf der sie sich über Wasser halten können, sind Niedriglöhne. In der Türkei, wo die Kurd:innen früher als billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen, ist der Zuzug von Geflüchteten eine große Chance für die Unternehmen. Diese können ganz abgesehen vom Mindestlohn die Arbeitskräfte leicht ausbeuten, indem sie nicht registrierte Arbeiter:innen unter prekären Bedingungen beschäftigen. Mit anderen Worten, indem sie nicht registrierte Arbeiter:innen als Tagelöhner:innen beschäftigen, ohne Verträge, ohne Rechte. Sie zahlen dadurch keine Versicherungen und Steuern für sie. Die zuständigen Institutionen des Staates verschließen wissentlich die Augen vor dieser Situation. Weil es für die Unternehmen keine andere Grundlage zum Überleben gibt. Trotzdem steigt die Zahl derjenigen, die Konkurs anmelden und Insolvenz beantragen, von Tag zu Tag.

In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, dass die Erdoğan-Regierung den Konkurs mittlerer und großer Unternehmen regelrecht verboten hat. Sie übt Druck auf die Unternehmer:innen aus und hält sie davon ab, offiziell Konkurs anzumelden. Denn sie wissen, dass sich dies in Wellen ausbreiten und die gesamte Wirtschaft treffen würde. Es wird dem insolventen Unternehmen aber für eine gewisse Zeit stillschweigend gestattet, seinen Tätigkeitsbereich zu verkleinern und seinen Zahlungsverpflichtungen wie Steuern, Versicherungen, Kredite usw. nicht nachzukommen. Die zuständigen Institutionen des Staates verschließen auch hier wissentlich die Augen vor dieser Situation.

Darüber hinaus nimmt das Volumen der informellen und illegalen Wirtschaft zu. In dieser Schattenwirtschaft werden keine Steuern gezahlt, keine Versicherungen abgeschlossen, keine verbindlichen Verträge mit Arbeiter:innen und Angestellten abgeschlossen; Schulden werden unter dem Vorwand der Krise nicht beglichen und Geld wird lieber auf dem Markt der Kredithaie als bei den Banken geliehen. Tatsächlich sind die nichtoperativen Einnahmen der Unternehmen des realen Sektors höher als ihre operativen Einnahmen. Unternehmer:innen verleihen das Geld, das sie normalerweise für die Produktion, also ihre eigentliche Tätigkeit, verwenden würden, gegen Zinsen an Geldverleiher:innen, investieren in Immobilien oder versuchen, durch Marktspekulation und den Kauf und Verkauf irgendwelcher Produkte Geld zu verdienen.

Die Schattenwirtschaft wird immer dominanter

Aber auch Aktivitäten, die als kriminelle Machenschaften definiert werden können, speisen die Wirtschaft in erheblichem Maße, z.B. Drogen-, Waffen-, Benzinhandel. Die Türkei ist die Region, in der sich die Transitrouten aus Lateinamerika zum Mittelmeerraum, vom Nahen Osten bis nach Afrika kreuzen. Die Türkei ist offen geworden für Mafiöse Gruppen, radikale islamistische Gruppen, Geheimdienste, für die Aktivitäten von Militärs, Polizist:innen und Bürokrat:innen, die aus verschiedenen Ländern fliehen, sowie für russische Oligarch:innen. Die Türkei ist ein sicherer Hafen für diejenigen, die in ihren eigenen Ländern und Regionen nicht Fuß fassen können, und diese Möglichkeiten werden bewusst von der Regierung, dem Geheimdienst und der Sicherheitsbürokratie geschaffen. Sie sind sogar Partner bei vielen dieser Aktivitäten. Die illegalen Gold- und Geldströme durch Reza Zarrab1 und die Komplizenschaft der staatlichen Verwaltung in diesem Zusammenhang wurden aufgedeckt und offengelegt. Aserbaidschanische, kirgisische, kasachische und russische Oligarch:innen, arabische Ölscheichs, bewaffnete Banden und Waffenhändler:innen sowie die Balkan- und die tschetschenische Mafia finden in der Türkei Unterschlupf.

Um das Kapital der Golfstaaten anzulocken, wurden wiederum riesige Ländereien und touristische Einrichtungen, Hotels und Unternehmen in großen Metropolen und touristischen Regionen verkauft. Staatliche Unternehmen werden in den Staatsfonds eingegliedert und an diese Gruppen verkauft. Natürlich stimmen die veröffentlichten Preise und Zahlen nie mit den tatsächlich verwendeten Geldbeträgen überein. Diese Geldmobilität deckt zwar bis zu einem gewissen Grad den Devisenbedarf der Türkei, sie wird aber durch die Mafia und Kredithaie auf dem Markt verbreitet, und nicht erfasste Gelder werden in die Bücher gebracht. Infolgedessen werden nicht realisierte Produktions- und Handelstätigkeiten in Rechnung gestellt, so als ob sie existierten. Dies spiegelt sich in den Statistiken wider und zeigt, dass in der türkischen Wirtschaft Kapazitäten vorhanden sind. Das Volumen der Wirtschaft ist jedoch wesentlich geringer, als es diese Statistiken nahelegen.

Angesichts von Kartellen, Großunternehmen, mafiösen Gruppen, Lobbyist:innen und der mit ihnen verflochtenen Politik schwinden die Hoffnungen in der Wirtschaft wie in allen Bereichen der Gesellschaft. Es wird zwar erwartet, dass man sich organisiert, dass man gemeinsam handelt, dass man die gewerkschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen stärkt, aber in der Realität ist das nicht der Fall. Denn die politische Polarisierung wird bewusst verschärft und die Gesellschaft gespalten. Ebenso ist das Anwachsen von sozialen Clustern zu beobachten, die sich um kriminelle Gruppen und Profiteure bilden und sie sowohl legitimieren als auch nähren.

Insbesondere in den Großstädten entwickeln sich aufgrund der hohen Kosten und des unsicheren Umfelds, das durch die oben genannten Faktoren verursacht wird, verschiedene Suchbewegungen. Kleine und mittlere Unternehmer:innen, Fachkräfte, in arbeitsintensiven Produktionen tätige Arbeiter:innen und Handwerker:innen wandern ab. Fachkräfte, Selbstständige und einige Kapitalist:innen wandern beispielsweise nach Europa und Amerika ab, andere in ihre ursprüngliche Heimat oder in nahe gelegene Regionen. So gibt es viele, die nach Kurdistan zurückkehren, um in Textilien, Dienstleistungen und Logistik zu investieren.

Da die Lohnkosten in Kurdistan niedrig sind, sind es auch die Miet- und Immobilienkosten. Dies ist ein Anreiz für Investitionen, die eine arbeitsintensive Produktion erfordern. Es wird erwartet, dass die Bereitschaft zu Investitionen in den Bereichen Landwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Viehzucht usw. zunehmen wird. Wenn es keine staatlich bedingten politischen, bürokratischen und militärischen Zwänge und Hindernisse gibt, besteht eine gute Versorgungsbasis für den Bedarf der Türkei, Kurdistans und des Nahen Ostens im Hinblick auf das wirtschaftliche Potenzial.

Eine weitere Gruppe, die zur Migration neigt, sind die Arbeitskräfte. Menschen, die in den Metropolen nur schwer überleben können und deren Gehälter nicht einmal mehr für die Grundbedürfnisse wie Miete, Lebensmittel und Mobilität ausreichen, suchen nach einer Möglichkeit, in ihre Heimatstädte zurückzukehren. Sie versuchen, sich in ihren Dörfern, Städten und Bezirken oder in nahe gelegenen Städten niederzulassen. Wegen der Zerstörung und Brandstiftung kurdischer Dörfer durch den türkischen Staat und der verheißungsvollen Attraktivität der großen Städte und Metropolen gab es über lange Jahre eine Migrationsbewegung in den Westen (der Türkei; Anm. d. Übers.). Die westlichen Metropolen haben aber in der Zeit der Wirtschaftskrise an Attraktivität verloren. Im Falle einer Stabilisierung können die Kurd:innen in ihr Land zurückkehren, und ähnliche Wanderungsbewegungen zum Schwarzen Meer, in den Mittelmeerraum und nach Zentralanatolien werden für die Herstellung des Bevölkerungsgleichgewichts von Vorteil sein.

Wirtschaft und Politik sind militarisiert

Die staatliche Führung kann sich dafür jedoch nicht begeistern. Sie will vor allem, dass das großstädtische Kapital stark bleibt und dies weiterhin auf der Grundlage billiger Arbeitskräfte. Der Staat will, dass Geflüchtete, Kurd:innen und türkische Arbeitskräfte diesem Zweck dienen. Dafür trifft er bestimmte Vorkehrungen. Militarismus, Rassismus und Polarisierung spielen dabei eine wichtige Rolle. Dies ist eine strategische Entscheidung des türkischen Staates. Die Spaltung und Feindseligkeit der Gesellschaft und der Konflikt zwischen den Lagern festigen die Macht der politischen Akteure. Anstatt beispielsweise die Quelle der wirtschaftlichen Probleme in den politischen Akteuren, die an der Macht sind, in der antidemokratischen Struktur des Staates und den kapitalfreundlichen Praktiken zu sehen, wird die politische Struktur am entgegengesetzten Pol, die Opposition, dafür verantwortlich gemacht. Der politische Gegner wird als Handlanger ausländischer Mächte und als Quelle der Krisen präsentiert.

Die herrschenden Mächte lenken auch wirtschaftliche Investitionen in Richtung Militarismus. Investitionen in die Rüstungsindustrie, die Ausweitung des legalen und illegalen Waffenhandels, die Rekrutierung von Söldnern, Polizisten und Wachleuten, die Schaffung von paramilitärischen Kräften, zivilen Streitkräften, die Ausweitung des Geheimdienstnetzes, die Gründung von staatlich kontrollierten bewaffneten Organisationen und deren Realisierung von Konflikten und Provokationen in Syrien, Irak, Afrika, Zentralasien usw. werden ebenfalls zu einem Wirtschaftssektor. Denn die Finanzierung all dieser Kräfte ist von großer Bedeutung. Auch die zivile Bürokratie, das Parteiensystem, die parlamentarische Macht und die lokale Verwaltung werden damit in Gleichklang gebracht. Alle Funktionseinheiten des Staates, einschließlich seiner Wirtschaft und seines Haushalts, verlagern sich in Richtung Militarismus. Mit anderen Worten: Der Militarismus wird in der Administration des Landes institutionalisiert.

Der gesamte Mechanismus dient denen, die sich vom Militarismus ernähren. Insbesondere die Wirtschaft. Das liegt daran, dass die Akteure der militärischen Herrschaft, seien es Mafia, Militär, Polizei, Bürokrat:innen, Politiker:innen oder Mitglieder der Zivilgesellschaft, keinen Respekt vor Gesetzen und Regeln haben, denn die Finanzierung all dieser Kräfte ist von großer Bedeutung. Auch die zivile Bürokratie, das Parteiensystem, die parlamentarische Macht und die lokale Verwaltung müssen damit in Einklang gebracht werden.

Sie werden alle Ressourcen für ihre eigene Existenz nutzen. Es ist ein institutioneller Konsens, dass kriminelle Organisationen und ihre Komplizen, Bürokrat:innen, Politiker:innen, was auch immer sie sind, von der Justiz begünstigt und geschützt werden; dass Politiker:innen immer entweder an der Macht oder in der Opposition sind, aber immer eine Elite bleiben. Daher ist es undenkbar, dass sich diese herrschenden Gruppen mit einfachen Gehältern unter dem Dach des Staates zufriedengeben.

Innerhalb dieses Gefüges betrachtet jede Gruppe das von ihr beherrschte soziale Segment gleichzeitig als ihren Diener. Sie macht Menschen zu billigen Arbeitskräften in Fabriken oder Werkstätten, zu Soldat:innen oder Banden, die in Syrien und Kurdistan eingesetzt werden, zu Mafiamitgliedern, um Menschen zu bedrohen, zu Wähler:innen einer politischen Partei oder um durch Drohungen Stimmen zu sammeln.

Natürlich sind diese militarisierte Politik und Wirtschaft in der Türkei für das Kapital nicht attraktiv, weder im Inland noch auf internationaler Ebene. Viele der mit dem internationalen Kapital verbundenen Montageindustrien wurden bereits gestört, insbesondere durch den Rückzug von Investitionen der Autofabriken. Die Finanzkreise haben im türkischen Staat, in den Banken und in der Privatwirtschaft keine Gesprächspartner, die nach den Regeln der Wirtschaft handeln, so dass die Investitionstendenzen allmählich zurückgehen. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen beruhen auf persönlichen Beziehungen, Sondervereinbarungen, Feilschen und Erpressung.

Es sieht so aus, als ob die derzeitige Regierung sämtliche Teile der Wirtschaft vereinnahmen, das Parlament und die lokalen Führungen durch antidemokratische Wahlen aufrechterhalten und das Recht, die Gesetze und die Verfassung ihren Wünschen entsprechend gestalten will.

Aber eine Arbeit, die nicht mit der globalen Wirtschaft vereinbar ist, kann keine Regierung aufrechterhalten. Die einzige Trumpfkarte der Türkei für die Zukunft ist und bleibt daher die Vermarktung ihrer billigen Arbeitskräfte. Die Arbeitskosten in der Türkei sind heute billiger als in China und in vielen Ländern Asiens. Das ist attraktiv für Kapital. Allerdings spielt die derzeitige politische Struktur eine treibende Rolle. Wir dürfen gespannt sein auf die Umsetzung dieser Gleichung.

1Reza Zarrab ist ein iranisch-türkischer Unternehmer, der in viele illegale Aktivitäten, unter anderem Geldwäsche und Goldschmuggel, verwickelt ist. Er wurde 2013 im Zusammenhang mit einem großen Korruptionsskandal in der Türkei verhaftet, kam aber auf Initiative von Präsident Erdoğan frei und wurde 2015 sogar noch für seine »Exportleistungen« von der türkischen Regierung ausgezeichnet. 2016 wurde er in Miami (USA) verhaftet und sagte im Prozess als Kronzeuge gegen den ehemaligen Chef der Halkbank aus.


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024