Die Familien der Gefallenen

Die verborgene Revolution 
der êzîdischen Frauen

Ein Interview der Feministischen Organisierung »Gemeinsam Kämpfen!«
mit Xoxê Cindî Hesen (Mutter von Cangorî1 Dijwar) und Hilwar Feqîr (Cousine von Cangorî Dijwar), Mitglieder der Organisation der Malbatên Cangoriyên, der Familien der Gefallenen.

 

Im April 2023 reiste eine Frauendelegation aus Deutschland nach Şengal (arab. Sindschar), um den Aufbau und die Revolution der êzîdischen Frauen dort kennen zu lernen. Sie sprachen auch mit zwei Mitgliedern der Organisation der Malbatên Cangoriyên, der Familien der Gefallenen, vor Ort.

Im April 2023 machte sich eine Frauendelegation vom Dachverband des êzîdischen Frauenrats e. V. in Deutschland (SMJÊ2) und der Feministischen Organisierung: »Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie« (GK) auf den Weg in das êzîdische Hauptsiedlungsgebiet Şengal im Norden des Irak. Am 19. Januar 2023 erkannte der Deutsche Bundestag die Massaker am êzîdischen Volk durch den selbsternannten Islamischen Staat, die am 03.08.2014 begannen, offiziell als Genozid an. Doch konkrete Konsequenzen, wie etwa die Anerkennung und die Unterstützung des Demokratischen Autonomierats Şengal sowie der êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ3 und YJŞ4, können diese Organisationen nicht erkennen. Genau diese Strukturen sind es, die der türkische Staat fortlaufend als vermeintliche Legitimation seines Drohnenkrieges auf die Region anführt. Die deutsche Bundesregierung ignoriert sowohl die demokratische Selbstvertretung wie auch die Angriffe auf sie vollständig. Dieses Interview ist das zweite im Kurdistan Report veröffentlichte von dieser Delegation5 und soll einen Beitrag dazu leisten, die immense Kraft, den unzerstörbaren Willen zur Selbstbestimmung und das beeindruckende Wiedererlangen des Selbstbewusstseins der êzîdischen Frauen und Gesellschaft zu zeigen und somit den Aufbau und die Frauenrevolution sichtbar zu machen.

Die Interviewenden sprachen mit Xoxê Cindî Hesen (der Mutter von Cangorî Dijwar) und Hilwar Feqîr (einer Cousine von Cangorî Dijwar), beide Mitglieder der Organisation der Malbatên Cangoriyên, der Familien der Gefallenen. Sie erläutern die Entstehung, Bedeutung und die Praxis ihrer Arbeiten im Şengal. Dem unermesslichen Leid der êzîdischen Bevölkerung durch die an ihnen verübten Massaker und Genozide gaben sie mit der Gründung ihrer Selbstverteidigungseinheiten eine starke Antwort. Gleichzeitig bedarf es einer organisierten Struktur, die den Familien der Gefallenen, die ihr Leben im Kampf um die Befreiung Şengals geopfert haben, in allen Belangen zur Seite steht. Die Erinnerung an die Gefallenen und ihre Würdigung ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur vor Ort und wird konsequent und mit kreativen Formen gelebt. Das überarbeitete Interview ist hier im Folgenden nachzulesen.

Wir möchten heute mit euch über die Organisation der Cangoriyên-Familien im Şengal sprechen. Mögt ihr euch zunächst einmal kurz vorstellen?

Xoxê Cindî Hesen: Mein Name ist Xoxê Cindî Hesen, ich bin 58 Jahre alt und bin die Mutter von Cangorî Dijwar. Ich bedanke mich dafür, dass ihr euch über Grenzen hinweg die Mühe gemacht habt, uns zu interviewen, um die Arbeiten des Komitees für die Gefallenen zu verschriftlichen und festzuhalten.

Hilwar Feqîr: Ich heiße Hilwar Feqîr, bin 25 Jahre alt und die Cousine von Cangorî Dijwar. Auch ich bedanke mich für eure Mühen, den Weg auf euch genommen zu haben, um Şengal sowie die Arbeiten, die die Gesellschaft hier leistet, näher kennen zu lernen und um das Leid, das den Êzîd:innen im Genozid angetan wurde, öffentlich bekannt zu machen.

Warum organisiert ihr euch für die Familien der Gefallenen?

Xoxê Cindî Hesen: Während des Genozids sind viele êzîdische Menschen ermordet worden, aber viele haben auch Widerstand geleistet. All diejenigen, die kämpfen konnten, haben versucht, den »IS« zurückzudrängen und sich nicht zu ergeben. Da haben wir schon die ersten Märtyrer:innen gehabt, die sich für ihr Volk geopfert haben und sich nicht nur auf die Flucht begeben haben. Gegründet wurde das Komitee 2015, weil es zu dem Zeitpunkt einfach mehrere Cangoriyên gab.

Die Notwendigkeit, ein Komitee für die Familien-Angehörigen der Cangoriyên zu gründen, war einfach groß. Der Umstand, dass viele Êzîd:innen zu Kämpfer:innen wurden, hat in einer Notsituation stattgefunden. Sie waren gezwungen, sich selbst und ihr Volk zu schützen und haben sich daher dem Kampf angeschlossen. Daneben gab es ja weiterhin ihre Familie, ihre Väter, ihre Mütter, ihre Geschwister. So eine Entscheidung war schwierig zu treffen, weil sie verpflichtet waren, für die Familie da zu sein und sich andererseits auch opferten, im Kampf eventuell ihr Leben zu lassen.

Diejenigen, die sich dem Kampf anschließen wollten, haben dann den Weg beschritten, mit den Familien in Austausch zu gehen. Aber auch darüber hinaus war es wichtig, die Familien weiterhin aufzufangen. Denn die Tochter oder den Sohn herzugeben, also einem militärischen Posten zu übergeben, erfordert ja Kraft und Durchhaltevermögen und vor allem viel Entschlossenheit.

Neben unseren eigenen Kämpfer:innen für die militärische Selbstverteidigung war es sehr wichtig, den Kampf auch in anderen Bereichen zu unterstützen. Das heißt, während die Töchter oder die Söhne an der Front kämpften, haben die Ehefrauen, Schwestern und Mütter auch andere Arbeiten verrichten müssen. Und es gab ja auch die Kinder. Um diese Menschen aufzufangen, zu stärken und sie zu motivieren, um zu vermitteln, dass dieser Kampf notwendig ist und nicht nur im Interesse einzelner Familien geleistet wird, sondern im Interesse des ganzen Volkes, der Ethnie, der Religion, dafür mussten wir diesen Weg auf uns nehmen.

Es gibt sowieso einen Zusammenhalt in der Familie. Der Schritt zu solch einem Komitee für die Cangoriyên hat den Zusammenhalt gestärkt. Familien, die ihre Kinder verloren haben, sind auch seelisch betroffen, das heißt, für die Seelsorge, für die Trauerbewältigung, ist die Gründung des Komitees gut gewesen, aber zum Beispiel auch, um gesellschaftlich weitergehende Forderungen zu stellen. Das war am Anfang ganz befremdlich für uns, aber wir mussten das neu entdecken. Und dadurch haben wir die Notwendigkeit für weitere Angelegenheiten gesehen, ob politische oder gesellschaftliche, die Religion betreffend oder solche zur Trauerbewältigung und alles, was damit einhergeht. Wir befinden uns in einem Prozess und haben dieses Komitee gegründet.

Für welchen Bereich seid ihr verantwortlich?

Xoxê Cindî Hesen: Es gab in ganz Şengal Gefallene, das heißt, dieses Komitee für die Angehörigen der Gefallenen ist für ganz Şengal verantwortlich, nicht für eine kleine Region oder einen Stadtteil. Wir richten unsere Arbeiten auf alle Angehörigen, alle Familien aus.

Das êzîdische Volk ist dafür bekannt, dass es viele, weit über hundert Genozide erleiden musste. Aber nie wurde etwas verschriftlicht, nie wurde ansatzweise etwas dagegen gemacht, bis wir den letzten Genozid von August 2014 erlebt haben. Natürlich gab es auch immer wieder êzîdische Menschen, die sich gewehrt haben und Angriffe zurückdrängen konnten. Aber es ist immer bei einzelnen Aktionen geblieben. Es gab keine organisierte Kraft, keine offizielle Vertretung, die im Interesse des êzîdischen Volkes handelte und eigenständig Schutz gewährte.

Êzîd:innen wurden in Städten entführt und ermordet, aber es musste nie dafür Rechenschaft abgelegt werden. In den Kriegen beispielsweise, waren auch êzîdische junge Männer verpflichtet, dem irakischen Militär beizutreten. Aber wenn sie irgendwo gefallen sind, wurden die Leichname den Familien nie übergeben. So gab es keine würdevolle Beerdigung, keine würdevolle Trauer. Als so klein wurde die êzîdische Gesellschaft immer angesehen. Diese staatliche Unterdrückung hat immer stattgefunden.

Mit der Zeit haben wir natürlich unsere Augen öffnen können. Das Spiegelbild ist der Genozid von Şengal 2014 gewesen. Da wir unsere gefallenen Kämpfer:innen würdigen und für ihre Angehörigen da sein können, halten wir unsere gemeinsame Würde aufrecht. Denn durch die Genozide hat man versucht, uns die Würde zu nehmen. Aber der Schmerz war so groß, dass wir dem ein Ende setzen wollten. Wenn es in der Geschichte êzîdische Kämpfer:innen gab und sie gefallen sind, wurde das bisher nicht offiziell bekannt gegeben, und dadurch haben sie auch keine Anerkennung erfahren. Deshalb haben wir im letzten Genozid für uns den Bedarf gesehen, uns einheitlich zu organisieren und neben unseren Kämpfer:innen auch für die Arbeiten der Familien eine Organisation zu gründen. Das ist das Komitee der Cangorî-Familien.

Meine eigene Geschichte ist ein Beispiel dafür. Mein Ehemann ist als Soldat im Irak-Iran-Krieg verstorben, als er noch sehr jung war. Ich hatte nur einen einzigen Sohn und eine Tochter. Als Mutter habe ich sie allein großgezogen. Aber seitens des Staates habe ich keine Anerkennung bekommen. Dass der irakische Staat sich um die Hinterbliebenen kümmert, gibt es für die êzîdische Community nicht. Man benachteiligt uns. Das allein war ein Kampf: Als eine alleinstehende Frau zwei Kinder in dieser Region großzuziehen und zu versorgen.

Übernehmt ihr ausschließlich für die êzîdischen Cangorî-Familien Verantwortung oder auch für Menschen anderer Ethnien und Glaubensrichtungen?

Xoxê Cindî Hesen: Das Cangorî-Komitee ist nicht nur für êzîdische Kämpfer:innen da. Es ist für alle Kämpfer:innen da, die ihr Leben für die Befreiung der êzîdischen Bevölkerung gelassen haben. Es können zum Beispiel Kämpfer:innen aus anderen Ländern gewesen sein oder auch aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Da machen wir keine Unterschiede. Die gefallenen Kämpfer:innen auf dem Territorium, auf dem Boden Şengals, sind wie unsere eigenen Kinder. Wir würdigen sie alle, und für ihre Familien sind wir natürlich auch da und sind ihnen behilflich, unterstützen sie, stärken sie, fangen sie auf.

Könnt ihr einige konkrete Beispiele eurer Arbeiten geben?

Xoxê Cindî Hesen: Seit Gründung des Komitees sind wir für alle Familien da. Es gibt Seminare, es gibt Sitzungen, wir tagen regelmäßig und besprechen das weitere Vorgehen. Wenn es Gefallene gibt, werden ihre Familien besucht. Sie werden aufgefangen, wir kümmern uns um die Familien. Als Vertreterinnen im Komitee der Cangorî-Familien haben wir in der Gesellschaft natürlich auch eine ganz andere Rolle und andere Aufgaben und Pflichten. Ich bin nicht die einzige betroffene Mutter, es sind viele mehr. Aber gesellschaftlich sehen wir das auch so: Wenn ich die Mutter eines gefallenen Kämpfers bin, dann bin ich gleichzeitig die Mutter aller Widerstand leistenden Kämpfer:innen, also derjenigen, die weiterhin kämpfen und das Ziel erreichen wollen. Wir sehen uns nicht als Einzelfamilien, die betroffen sind. Das Schicksal ist das Schicksal aller Êzîd:innen, das darf man nicht reduziert betrachten. Mit dem Schweiß und Blut der Kämpfer:innen haben wir uns das erkämpft und so ist dieses Komitee entstanden. Und genau so wertschätzend geht auch die Gesellschaft mit den Angehörigen gefallener Kämpfer:innen um. Daher haben wir natürlich auch eine Mission, die wir ausführen.

Ihr habt Seminare erwähnt, zu welchen Themen finden diese statt?

Xoxê Cindî Hesen: Die Seminare beinhalten Bildung aus soziologischer Sicht: Es geht um den Aufbau der aktuellen Gesellschaften. Aber man muss sich auch mit der Geschichte auseinandersetzen, um rückblickend die Genozide nachvollziehen zu können und zu verstehen. Wir haben immer nur mündlich erzählt bekommen, dass Genozide stattgefunden haben. Meine Großeltern haben uns das anhand kleiner Geschichten erzählt, beispielsweise über die Enthauptung von zwölf jungen Männern in Şengal. So vielen Ungerechtigkeiten, in Einzelfällen, aber auch mit großen offensiven Vernichtungsversuchen, war die êzîdische Community immer wieder ausgesetzt. Das Beispiel der zwölf Männer zeigt, dass man in die Geschichte zurückschauen muss, um die Zusammenhänge zu verstehen. Sonst kannst du dich nicht organisieren. Nur diejenigen, die ihre Geschichte verstanden haben, die die Zusammenhänge der Kriege verstanden haben, haben diese Möglichkeit.

Durch die Betrachtung unserer eigenen Geschichte erkennen wir auch die äußerlichen Eingriffe seitens des Staates besser. Wir befinden uns im Irak, also ist die irakische Regierung eigentlich für diese Region zuständig, aber sie hat diese Region nie anerkannt. Darum haben wir auch keine richtige Teilhabe am Leben. Die eingeschränkte Infrastruktur hier ist ein Beispiel der Politik gegenüber Êzîd:innen, die verhindern soll, dass wir groß werden. Ein solch umfassendes System, wie es beispielsweise ein Staat mit all seinen Mechanismen ist, wird den Êzîd:innen nicht gewährt. Sei es politisch, sei es gesellschaftlich, in allen Bereichen.

[Kürzung der Interviewerinnen: An dieser Stelle spricht Xoxê Cindî Hesen davon, dass das êzîdische Volk ursprünglich sehr groß in seiner Zahl war und dementsprechend weitläufiges Land bewohnt hat. Um dies zu verdeutlichen, gibt sie ein geschichtliches Beispiel: Vorfahr:innen berichten davon, dass êzîdische religiöse Würdenträger jährlich alle êzîdischen Regionen besucht haben. Die Reise wurde an einem bestimmten Tag begonnen, und jedes Dorf wurde besucht. Das wurde traditionell jedes Jahr wiederholt. Die Würdenträger trugen eine heilige Tawus-Figur (dt. Pfauen-Figur, stellt den êzîdischen Engel-Pfau dar) aus Laliş mit sich, um mit den Êzîd:innen in Bakur (Nordkurdistan, tr. Staatsgebiet), die an einer Reise nach Laliş gehindert wurden, gemeinsam zu beten und ihnen den Segen zu bringen. Die Reise sei so lang gewesen, dass sie ca. 365 Tage, also ein ganzes Jahr, gedauert habe. So groß war die Anzahl der Êzîd:innen in Bakur].

Xoxê Cindî Hesen: Sprechen wir heute von Êzîd:innen in Bakur, so gibt es sie quasi nicht mehr – durch die Genozide, die das Osmanische Reich ausgeübt hat, und die heute noch immer durch den türkischen Staat andauernden Angriffe.

Welche Rolle spielen die Jugend und die Frauen in euren Arbeiten? Haben sie besondere Aufgaben?

Hilwar Feqîr: Es gibt unterschiedliche Arbeiten, die getätigt werden, und es sind unterschiedliche Generationen vertreten. Die Mütter, die ein gewisses Alter erreicht haben, eine gewisse Reife und Erfahrung mitbringen, sind für die jüngeren Generationen da, wenn es Schwierigkeiten gibt. Die Älteren sind die Wegweiser:innen. Das heißt, sie zeigen ihre Perspektiven auf, weil sie ihre Erfahrung in der Gesellschaft den etwas Jüngeren mitteilen können. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kommen sie zusammen und entscheiden, wie agiert werden kann.

Ganz konkrete Aufgaben des Komitees sind zum Beispiel auch, dass es (wenn es bei den Posten selbst keine Kapazitäten gibt) die Wäsche der Kämpfer:innen mit nach Hause bringt, sie wäscht und sie den Kämpfer:innen dann wieder zur Verfügung stellt oder auch, Essen für sie zuzubereiten.

Einerseits sollen die, die gerade die Posten bewachen und sich gegen die Angriffe aufstellen, in moralischer Hinsicht gestärkt werden. Genauso, wie eben die Familien der Gefallenen besucht werden. Die Mütter aus dem Komitee können tagelang, wochenlang in den Familien bleiben, um sie moralisch zu stärken, um die ersten Trauergefühle, die ja sehr intensiv sind, aufzufangen und Seite an Seite mit den Angehörigen zu stehen. Natürlich kann es noch intensiver sein, je nachdem, ob es mehrere Cangoriyên sind oder einzelne Kämpfer:innen.

Wir als Angehörige der Cangoriyên stehen Schulter an Schulter mit unseren Kämpfer:innen, die sich der Aufgabe widmen, die êzîdische Gesellschaft gegen die aktuell stattfindenden Angriffe seitens der irakischen Regierung oder des Erdoğan-Regimes zu schützen. Wenn du als junge Schwester eines Cangorî die Kontrollposten aufsuchst und anwesend bist, auch selber bewaffnet bist, stärkt das die Kämpfer:innen, weil wir diesen Tod nicht als normalen Tod sehen: Man hat im Namen der Gesellschaft sein Leben gelassen, hat für die Gemeinschaft gekämpft und sich geopfert. Das gibt ihnen Stärke. Für uns sind unsere gefallenen Kämpfer:innen nicht tot. Vielmehr sind sie der Kern dessen, was unseren Kampf ausmacht.

Die Mütter sind oft des Schreibens nicht mächtig, sie können sich nur mündlich äußern und die Geschichten der Gefallenen erzählen. Daher ist es zum Beispiel eine spezielle Aufgabe der jungen Frauen, die Geschichten der Cangoriyên festzuhalten. Sie verschriftlichen und veröffentlichen sie. So wird den Cangoriyên ein Gesicht verliehen, ein Name gegeben. Einerseits, um ihrer würdevoll zu gedenken und andererseits auch, um sie in der Geschichte der Êzîd:innen im Kampf um ihre Rechte, um ihr Existenzrecht, zu verewigen.

Es ist auch eines unserer Ziele, Aktivitäten zum Gedenken der Gefallenen zu organisieren. Das gibt es zum Beispiel in Form von Basketballturnieren oder Fußballturnieren, damit die junge Generation, die keinen eigenen unmittelbaren Bezug dazu hat, genauso aufgeklärt werden kann. Wenn es gemeinsame Veranstaltungen gibt und sie Aktivitäten zum Gedenken aufsuchen, erfahren sie, um was gekämpft wurde, wofür die Cangoriyên ihr Leben gelassen haben, dass sie nicht nur für ihre Familien, sondern für die ganze Gesellschaft gekämpft haben. Das sind zum Beispiel alles Aufgabenfelder der jungen Frauen. Gleichzeitig sind sie auch Mitglieder in TAJÊ6, der Frauenbewegung, und diese jungen Frauen sind auch Mitglieder im Rehabilitationszentrum für verletzte Kämpferinnen.

Diese Frauenorganisation versucht auf diplomatischem Wege die Behandlung verwundeter Kämpferinnen im Ausland zu organisieren, wenn die entsprechenden Möglichkeiten innerhalb des Irak nicht gegeben sind. Das ist ein gesondertes Arbeitsfeld innerhalb der TAJÊ. Man arbeitet politisch zusammen, und wenn es um die militärische Organisation YJŞ/YBŞ geht, übernimmt diese Frauenorganisation die diplomatischen Beziehungen zu Sitzungen im Parlament sowie mit politischen Parteien und Verbänden.

Genauso sind junge Frauen aber auch in der Presse vertreten. Es gibt nicht nur Sitzungen und Aktivitäten zum Gedenken, sondern es werden auch ausführliche Dokumentationen erstellt. Um über Cangoriyên zu berichten, über Angriffe zu berichten, sind sie im Komitee der Gefallenen aktiv und gleichzeitig Mitglied der êzîdischen Frauenpresse.

Was möchtet ihr abschließend hervorheben?

Xoxê Cindî Hesen: Es gibt keinen Menschen, der nicht von den Genoziden an den Êzîd:innen weiß. In diesem großen Ausmaß sind die Êzîd:innen mit ihrem Schicksal des »IS«-Angriffs über die sozialen Medien bekannt geworden. In der Vergangenheit haben auch in Bagdad Êzîd:innen gesiedelt und gewohnt. Angriffe und Genozide haben die êzîdische Community aus Bagdad vertrieben. Auch Mûsil (Mosul) war rein geschichtlich betrachtet eine große Stadt der Êzîd:innen. Heute sind wir als eine große Gemeinschaft in Şengal vertreten und wohnen hier, aber auch hier in Şengal hat man uns nie in Ruhe gelassen. Immer wieder waren wir politischen Angriffen und Unterdrückung ausgesetzt. Wir durften und dürfen keine Rechte im politischen und sozialen Leben haben – in jeglicher Hinsicht.

Die Cangoriyên, die wir hergegeben haben, haben wir nicht nur für die êzîdische Gemeinschaft geopfert – sie selbst haben sich nicht allein für die êzîdische Community geopfert – sondern zum Schutz des gesamten irakischen Territoriums. Denn die Gefahr war so groß, der »IS« war so brutal. Wir haben diese Aufgabe nicht nur für uns selbst übernommen, sondern sie gesamtgesellschaftlich, also auch für andere Ethnien und Gruppierungen im Irak, betrachtet. Mit diesem Blick sind unsere Kämpfer:innen in den Kampf gegangen und haben den »IS« zerschlagen, drumherum den »IS« verdrängt oder vertrieben, sodass Şengal heute mit den Händen êzîdischer Kämpfer:innen geschützt wird. Aber weiterhin finden Einschränkungen durch den irakischen Staat statt, die verhindern, dass wir das ausleben können, was sich hier im Şengal aufbauen wird. Damit meine ich unser Komitee und alle anderen Selbstverwaltungsstrukturen, die Selbstverwaltungsräte. Der politische Arm wird zum Beispiel nicht angemessen berücksichtigt, obwohl die Partei offiziell anerkannt ist.

Ich gebe ein weiteres Beispiel: Als Mûsil besetzt war, haben unsere êzîdischen Kämpfer:innen dem irakischen Staat die militärische Zusammenarbeit angeboten, gemeinsam für die Befreiung zu handeln. Das heißt, seitens der êzîdischen Kämpfer:innen gab es das Angebot: »Wir gehen den Kampf gemeinsam an.« Das wurde aber nicht angenommen, es wurde überhaupt nicht berücksichtigt. Trotzdem sieht man hieran, wie friedlich unsere Community ist: Im Kampf gegen den Feind »IS« wollten wir auch das Volk Iraks unterstützen, das unterdrückt und ebenso seiner Rechte beraubt ist.

In Şengal selber, das als Land der Êzîd:innen betrachtet werden kann, lässt uns der irakische Staat keine Ruhe. Wir sind auf unserem Territorium also Flüchtlinge im eigenen Land. Das ist nicht akzeptabel.

Hilwar Feqîr: Unser Kampf als Êzîd:innen hat uns sehr viel gekostet. Wir haben unsere Liebsten hergegeben. Wir haben so viele Opfer gebracht, um dem Schmerz ein Ende zu setzen, um nicht weitere Genozide und Angriffe über uns ergehen lassen zu müssen. Es hat uns viel gekostet: zum einen die Kämpfer:innen, die ihr Leben gelassen haben und zum anderen das Trauma, das der Genozid in der Gesellschaft verursacht hat, weil ihr das Recht auf Leben genommen wurde.

Aus meiner eigenen Familie habe ich zwei Kämpfer:innen im Widerstand verloren. Ein junger Mann aus meiner Familie ist aktuell in Gefangenschaft in Efrîn7. Im Kampf um die Befreiung Efrîns wurde er verwundet, dann vom türkischen Militär oder »IS«-Söldnern, die mit der Türkei kooperieren, gefangen genommen, und nun ist er seit fünf Jahren in der Gefangenschaft. Jede Familie hat viele Opfer geben müssen. Selbst wenn wir nur als einzelne Persönlichkeiten, als einzelne Individuen überleben sollten, wird der Kampf der Êzîd:innen weitergeführt werden. Der Feind hat uns mit dem Ziel uns gänzlich zu vernichten mit vielen Genoziden überzogen. Aber man sieht, die êzîdische Community hat sie überlebt. Uns gibt es weiterhin.

Im Kern haben wir eine friedliche Religion. Wir respektieren alle anderen Religionen, ganz so wie wir uns selbst wertschätzen und achten. Feindschaften sehen wir dort, wo andere eigene Mängel haben. Weil sie mit sich als Religion beispielsweise selbst nicht im Reinen sind, Verbote haben, die sie nicht verstehen. Weil folgendes in ihrer Kultur nicht gegeben ist: das, was so klar und rein ist, so friedlich ist, was menschlich denkt, der Natur verbunden ist, der eigenen Umgebung treu ist, ehrlich im Vertrauen, gerecht im Geben und Nehmen und einen respektvollen Umgang miteinander pflegt. Deshalb ermächtigen sie sich dazu, unser Volk und unsere Religion als unrein und ungläubig einzustufen und fühlen sich befugt, uns zu vernichten.

Wir leisten hier den Kampf. Wir werden unsere Organisationen und unsere Strukturen weiterhin stärken. Wir kämpfen nicht nur für uns, sondern im Interesse aller. Was in Şengal aufgebaut wurde, das ist mit viel Opfergabe angenommen oder erarbeitet worden. Wir sehen natürlich auch den Einsatz unserer Êzîd:innen aus Europa, überhaupt in allen anderen Ländern. Vor Jahrhunderten sind sie ausgewandert, Krieg um Krieg mussten sie fliehen, aber dass sie mit ihrer Natur, Religion und ihrem Volk so verbunden sind und auch über Grenzen hinweg den Kampf unterstützen, die Rechte der Êzîd:innen unterstützen – das sehen wir, und für diese Solidarität möchte ich mich bedanken. Und nicht nur bei den Êzîd:innen, sondern auch bei den Angehörigen anderer Volksgruppen, die sich solidarisieren, möchte ich mich bedanken.
 

 

Dijwar Feqîr (Merwan Bedel) war Êzîde. Er wuchs im Şengal auf, und als der »IS« Şengal am 3. August 2014 mit dem Ziel angriff, die êzîdische Glaubensgemeinschaft zu vernichten, war er einer der Ersten, die sich der Selbstverteidigung anschlossen. Er half wesentlich beim Aufbau der êzîdischen Selbstverteidigung YBŞ mit, wechselte später in die Diplomatie, führte viele Gespräche mit den verschiedenen Kräften der Region und mit irakischen Vertretern und wurde schließlich zum Ko-Vorsitzenden des Exekutivausschusses des Autonomierats Şengal gewählt. Sich dafür einzusetzen, dass die aus dem Şengal geflüchtete Bevölkerung zurückkehren kann, war ihm ein besonderes Anliegen. Von der êzîdischen Gemeinschaft wurde ihm großes Vertrauen entgegengebracht, denn er ließ sich trotz der permanenten Bedrohung nicht einschüchtern, sondern setzte sich mit ganzer Kraft für ein würdiges und selbstbestimmtes Leben der Menschen ein. (aus dem Communiqué der Volksbühne Basel zur Ermordung)

Cangorî Dijwar Feqîr, der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Şengal, ist am 7. Dezember 2021 von einer türkischen Killerdrohne in Xanesor gezielt ermordet worden. Er saß mit zwei seiner vier Kinder im Auto, als die Drohne ihn traf. Seine Kinder überlebten.

Zitat von Dijwar: Der größte Wert, den wir besitzen ist »Mensch zu sein«. Das kann man nicht kaufen und mit keinem Gold der Welt aufwiegen. Das Leben, die Sprache, unsere Gedanken, ein Bewusstsein zu entwickeln, sind die höchsten Güter. Das Gewissen ist die Stärke des Menschen und das muss geschützt, entwickelt und gestärkt werden – das gilt immer, egal, wo wir sind! (https://anfdeutsch.com/aktuelles/ich-glaube-an-die-idee-des-friedlichen-zusammenlebens-29723)

 

 

Fußnoten

1 Cangorî: kurdisches Wort, dt. Gefallene:r
2 SMJÊ – Sîwana Meclîsên Jinên Êzidî – Dachverband des êzîdischen Frauenrats e. V. (in Deutschland)
3 YBŞ – Yekîneyên Berxwedana Şengalê – Widerstandseinheiten Şengals
4 YJŞ – Yekîneyên Jinên Şengalê – Fraueneinheiten Şengals
5 Erstes Interview: »Der Aufbau von Frauen-Kooperativen im Şengal – Die verborgene Revolution der êzîdischen Frauen«, KR 229, S. 18 ff.
6 TAJÊ – Tevgera Azadiya Jinên Êzidî – Frauenfreiheitsbewegung der Êzîd:innen (im Şengal)
7 Efrîn – kurdische Stadt und Kanton im Westen der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, seit 2018 militärisch durch den türkischen Staat besetzt, siehe KR 197 »Aktuelle Bewertung – Machtkampf zwischen Atlantik und Eurasien um die Vorherrschaft im Mittleren Osten«, S. 4.


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024