Vor den Kommunalwahlen in der Türkei

Die Politik des Dritten Weges1 der Demokratischen Partei (DEM-Partei)
wird die politische Transformation bewirken

Tayip Temel, Stellvertretender Generalsekretär der DEM-Partei

Die Türkei ist ein Land, in dem Politik alles ist, aber politiklose Zustände aufgezwungen werden. Als Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) ist Politik für uns in erster Linie die Arbeit und der Kampf zum Wohle der Gesellschaft. Politik darf nicht im Interesse einer kleinen Gruppe oder um die Gesellschaft zu ersticken gemacht werden. Sie muss im Wesentlichen demokratischen Charakter haben. Die demokratische Natur der Regierungen ist davon abhängig. Andernfalls kann es keine Lösung für irgend etwas geben. Was wir als demokratische Politik bezeichnen, ist das Recht jeder und jedes Einzelnen, sich auszudrücken und sich zu verteidigen.

Die herrschenden Kräfte in der Türkei haben den Krieg gegen alle Völker, insbesondere gegen die Kurd:innen, erklärt. Politik, ein Instrument zur Befreiung der Gesellschaft, wurde praktisch zu einem Verbrechen gemacht. Das prägendste Merkmal der türkischen Geschichte der letzten Jahrhunderte ist die »Angst vor Politik«. Die Angst vor der Politik des Anderen ist fast der einzige Reflex, der den Staat alarmiert. Diese Angst hält seit Jahrhunderten jede:n Andere:n von der Politik fern und wird wie ein lebendiger Mechanismus am Leben erhalten. Die erzeugte Angst verhindert das Sprechen; sie verhindert die Diskussion. Der offensichtlichere Name und die Codierung dieser Angst ist die »Kurdenangst«.

Der Staat hat in allen Krisensituationen versucht, insbesondere die Kurd:innen als ständige innere Feinde zu identifizieren und sie aus dem politischen Raum zu verbannen. Und jede Regierung, die im letzten Jahrhundert an die Macht gekommen ist, hat die Sackgassen im Zusammenhang mit den Kurd:innen aufeinander gestapelt und das Problem wie einen Schneeball vergrößert.

Die kurdischen Bemühungen, sich an der Politik zu beteiligen, wurden ständig mit Gewalt beantwortet, und die Ablehnung der Politik hat jede Form des Sprechens und der Diskussion verhindert. Letztendlich wurde eine Mentalität geschaffen, die den Dialog vermeidet, sich nicht für gemeinsame Lösungen einsetzt und von einem Hass auf Demokratie und Freiheit geleitet wird.

Die Flucht vor dem sozialen Frieden, den nicht nur unsere Region, sondern eigentlich die gesamte Menschheit so dringend braucht wie Brot und Wasser, reduziert alles auf ein Sicherheitsproblem. Die Blockaden demokratischer Politik verwandeln das Problem in ein internationales Problem. Wir wissen jedoch, dass demokratische Politik auf Zustimmung und nicht auf Zwang basiert! Daher bietet sie die Möglichkeit der Befreiung.

Die Hingabe an die Entwicklung der demokratischen Politik, die wir als den Verlauf unserer Partei und ihrer Tradition betrachten, ist eine Tradition, die wir als Bereitschaft betrachten, jeden Preis zu zahlen. Denn unsere demokratische politische Geschichte, oder vielmehr unsere Suche nach politischer Betätigung, ist auch Teil der Prüfung, der dieses Land gegenüber Demokratie, Frieden und Freiheit unterzogen wird. Daher muss der unerschütterliche Einsatz der Kurd:innen und unserer Partei für demokratische Politik mit all seinem Aufwand richtig verstanden und gelesen werden.

Die Suche der Kurd:innen nach demokratischer Vertretung begann 1990 mit der Gründung der Arbeitspatei des Volkes (HEP) und wurde auf ihrer 34-jährigen Reise ständig mit Verbotsverfahren und Verboten konfrontiert. Fast alle Parteien wurden geschlossen oder umbenannt. Freiheits und Demokratie Partei (ÖZDEP), Partei der Demokratie des Volkes (HADEP), Demokratische Volkspartei (DEHAP), Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP), Partei des Friedens und der Demokratie (BDP), Demokratische Partei der Regionen(DBP), Demokratische Partei der Völker (HDP), Grüne Linkspartei (YSP) … Die Liste wird sicherlich erweitert! Am 7. Juni 2015 änderte die HDP das politische Gleichgewicht in der Türkei, stand jedoch am 7. Juni 2021 der Bedrohung der Schließung gegenüber, und obwohl dies nicht geschah, schwebt diese Bedrohung nach wie vor wie ein Damoklesschwert über ihr. Am 14. Mai 2023 mussten wir uns den Parlaments- und Präsidentsschaftswahlen mit der Grünen Linkspartei YSP stellen. Später beschlossen wir, mit der Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (HEDEP) als letzten Schritt der Veränderung und Transformation fortzufahren, aber der Name HEDEP wurde vom Kassationsgericht abgelehnt, der sich in eine Institution verwandelt hat, die die Kurd:innen von der demokratischen Politik ausschließt. Jetzt machen wir als DEM-Partei weiter.

Wir sprechen von einer politischen Tradition, in der sich die Namen von drei Parteien innerhalb eines Jahres geändert haben. Das ist im Grunde genommen, wo die Politik jetzt steht: Parteien, die »trotzdem demokratische Politik, trotzdem Dialog, trotzdem Verhandlungen, trotzdem friedliche Lösungen« fordern, werden verboten, ihre Namen werden nicht akzeptiert oder sie werden durch Komplotte und Angriffe gestoppt. Die Abgeordneten des Volkes werden gewaltsam aus dem Parlament entfernt, ihre gewählten Gemeinden werden von Zwangsverwaltern übernommen. Es gibt Bombenanschläge auf ihre Versammlungen, ihre Provinz- und Bezirksorganisationen. Die Aktivitäten ihrer Parteien werden verboten. Wir stehen vor zahllosen Hindernissen und Angriffen, gegen die selbst das Wort »Unterdrückung« nicht ausreicht.

In diesem Land wurden Hindernisse geschaffen, um die Kurd:innen etwa 45 Jahre lang nicht ins Parlament gelangen zu lassen. Auch wenn die Wahlhürde von 10 Prozent als die höchste der Welt bezeichnet wird, ist sie in Wirklichkeit eine »Kurdenausschlussklausel«. Aber unsere politische Tradition hat mit großen Opfern und harter Arbeit alle Hindernisse überwunden, die demokratischer Politik in den Weg gelegt wurden, und Geschichte geschrieben. Jetzt sind wir bei der DEM-Partei angekommen, wir sind in einem reifen politischen Alter. Die DEM-Partei wurde gegründet, um demokratische Politik aufzubauen, die Wege zur Demokratisierung der Politik zu öffnen. Sie trat an, um die Politik aus den Händen der Mächtigen zu nehmen und sie zu einem Instrument der Befreiung zu machen, das es jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft ermöglicht, Politik zu betreiben. Gegen die Verhandlungsverweigerung und die ausschließende Haltung der beiden dominierenden Blöcke seit der Gründung der Republik hat die DEM-Partei gezeigt, dass die Option der Menschen nicht alternativlos ist, und sie setzt dies fort und entwickelt es weiter. Unsere Aufgabe besteht darin, die Gesellschaft zu verteidigen, uns für das Gemeinwohl einzusetzen, die Werte zu bewahren und, was noch wichtiger ist, Neues aufzubauen. Die DEM-Partei glaubt, dass mit dem Verzicht auf eine staatszentrierte Perspektive die Möglichkeiten für Lösungen zunehmen werden. Die Ignoranz einem bestehenden Problem gegenüber bedeutet auch die Ablehnung der Gesellschaft, und das ist einer der Hauptgründe für die vielfachen Krisen, die wir durchmachen. Die DEM-Partei betrachtet Herrn Öcalan als Hauptakteur in der »Kurdenfrage«, ist sich jedoch als Partei auch ihrer Rolle für die Lösung bestehender Probleme bewusst.

Zusammengefasst: Unsere Partei ist bestrebt, eine demokratische, freiheitsliebende, egalitäre, gerechte, ökologische, geschlechtergerechte und solidarische Gesellschaft aufzubauen, die sich pluralistisch, partizipativ und verhandlungsbereit für eine politische Verantwortung einsetzt. Wir verteidigen die universellen Menschenrechte ohne Diskriminierung, achten die Rechte der Natur und aller Lebewesen, kämpfen gegen Militarismus, stehen für Arbeit und soziale Gerechtigkeit ein und sind ökologisch, friedlich und demokratisch ausgerichtet. Unsere Partei ist das Ergebnis des Zusammenschlusses von Kräften, die gemeinsam für die Beseitigung aller Formen von Druck, Ausbeutung und Diskriminierung kämpfen und eine menschenwürdige Lebensweise etablieren wollen. Unser Ziel ist es, eine demokratische Volksmacht zu errichten.

Ich möchte auch ein besonderes Thema im Zusammenhang mit der Partei und der Politik ansprechen. Der sogenannte »Kobanê-Prozess« gegen die HDP dauert an. Was mit einem einzigen Tweet begann, entwickelte sich zu einer Falle, in der jede Aussage, jede Handlung und jeder Atemzug zum Verbrechen gemacht wird. Dieser Prozess, der bereits jetzt in die Geschichte eingegangen ist, wird ein weiteres beschämendes Kapitel in der türkischen Geschichte darstellen. Er ist ein Beispiel für einen hektischen Angriff, eine Leugnung und eine Säuberungsaktion sowie den Widerstand dagegen.

Die Türkei nach den Parlamentswahlen 2023: Die Bestrebungen zur Institutionalisierung von Faschismus und Populismus! In der Region und im Land ereignen sich bedeutsame Entwicklungen. Die Krise der kapitalistischen Moderne und die Suche nach einer Richtung vertiefen sich mit der Ausbreitung von Gewalt im Nahen Osten. Die politischen Spannungen nehmen zu, wenn die globalen hegemonialen Kräfte ihre Schachzüge über Energiekorridore entwickeln. Es wird hilfreich sein, die Kriege Ukraine-Russland, Israel-Palästina und der Türkei, des Iran sowie der internationalen und regionalen Kräfte gegen die Kurd:innen in diesem Zusammenhang zu betrachten.

Der Nahe Osten ist das Zentrum, in dem die konkreten Auswirkungen dieses Machtkampfes und der sich entwickelnden Dynamiken aufgrund von Energiequellen, geostrategischen und historisch-kulturellen Werten zu sehen sind. Diese Konflikte und Widersprüche in der Region stoßen auf eine große Verunsicherung. Die zunehmenden Kriege haben alle Bereiche, insbesondere die Menschenrechte und das demokratisch politische Feld, geschwächt. Dies macht den Kampf für eine gerechtere, gleichberechtigtere Welt und Existenz nicht nur unverzichtbar, sondern macht diejenigen, die für Freiheit kämpfen, um so wichtiger. Diese Entwicklungen sind auch bestimmende Faktoren in den lokalen Strukturen. In den nächsten Monaten werden weltweit etwa 2 Milliarden Menschen in rund 70 Regionen an Wahlen teilnehmen. Leider reichen Wahlen allein nicht für die Demokratie aus. In vielen Regionen, wie in der Türkei, ist die Demokratie, der Wille des Volkes und sogar die gemeinsame Kultur der Menschheit gefährdet. Wir stehen vor einer Zeit der multiplen Krisen, in der die Wirtschaft unsicher ist, die Machtstrukturen den Nationalismus und den Rassismus befeuern, neue Energiekonflikte beginnen und die geschürten Spannungen rapide zunehmen.

Die Regierungskrise in der Türkei ist offensichtlich. Und nicht nur das: es gibt auch eine tiefe Krise in vielen sozialen, politischen und moralischen Bereichen. Wir sprechen von so tiefgreifenden und offensichtlichen Krisen wie noch nie. Die Krise vertieft sich durch die Androhungen gegenüber den Menschen, indem Verbrechen im Namen des Nationalismus begangen werden, und durch die Versuche, die Krise mit dem Verbot von Parteien zu lösen. Es ist eine einfache Regel: Was man sät, das erntet man! Auf der einen Seite haben wir den Kobanê-Prozess, auf der anderen Seite den Fall Can Atalay2 und die Krise zwischen dem Verfassungsgericht und dem Obersten Gerichtshof, auf der anderen Seite werden rassistische Wellen zur Norm in der Gesellschaft, es gibt Diskussionen über das Kalifat, während gleichzeitig tiefe Armut und Hunger herrschen und Millionendollar-Raubüberfälle und Mafia-Geschäfte weiterhin stattfinden. Aber die eigentliche Krise des Staates ist das seit 100 Jahren geleugnete kurdische Problem und die heutige Isolation, die zu einem aktuellen Problem geworden ist.

Es ist wichtig, einen speziellen Abschnitt über die Isolation zu öffnen: Im vergangenen Jahr war die Isolation das wichtigste Thema, und das wird auch in diesem Jahr so sein. Der kurdische Vordenker, Herr Abdullah Öcalan, ist einer kaum zu beschreibenden absoluten Isolation ausgesetzt. Seit 2014 wurden nur 5 Familienbesuche zugelassen. Das letzte persönliche Treffen fand am 3. März 2020 mit seinem Bruder statt. Seit dem ersten Tag konnte er nur zweimal (am 27. April 2020 und am 25. März 2021) telefonisch sprechen. Im Jahr 2023 blieben alle 110 Anfragen von Anwälten und für 59 Familienbesuche unbeantwortet. Von diesen waren 14 Anwalt- und 10 Familienanfragen aufgrund eines Erdbebens. Obwohl in einer solchen Situation Besuchsmöglichkeiten gesetzlich verpflichtend sind, wurden keine Familien- oder Anwaltsbesuche zugelassen. Wie im letzten veröffentlichten Bericht zu İmralı festgestellt wurde, »ist İmralı ein Ort, an dem grundlegende Rechte und Freiheiten ständig außer Kraft gesetzt werden, alle Verbindungen zur Welt abgebrochen sind, die Gerichtsorgane ihre Neutralität und Unabhängigkeit verloren haben, rechtswidrige Handlungen und Entscheidungen mit Straflosigkeit behandelt werden, Besuche von Anwälten, Familien und Vormündern in einem Maße verboten sind, das in der Welt einzigartig ist, und Anwalts- und Familienverbote geheim gehalten werden, die Anwaltschaft nicht ausgeübt werden kann, seit 3 Jahren weder rechtliche noch humane Nachrichten erhalten werden können, keine rechtliche Überprüfung erfolgt ist, die rechtliche Sicherheit und Vorhersehbarkeit fehlen, und ein Ort, der unter außergewöhnlichen Bedingungen von einem außergewöhnlichen Regime regiert wird.«

Die Isolation ist eine subtile Anwendung der Staatsräson und der globalen hegemonialen Kräfte gegenüber den Menschen. Die Insel İmralı und die Isolation stellen nicht nur ein schwarzes Loch des Rechts dar, sondern auch die Summe aller Rechtsverletzungen. Die Isolation hat ihre Besonderheiten und unterscheidet sich in der Anwendung. Selbst wenn wir uns nur die verschärfte Isolation ansehen, können wir sagen: Die Staatsräson schwankt zwischen Aufstieg und Fall. Daher muss eine Entscheidung getroffen werden: Wenn der Staat es schafft, den Verfall zu stoppen und Vernunft und eine Politik für das Leben    zum Maßstab zu nehmen, wird es einen »prächtigen Aufschwung« geben. Aber wenn er seinen Krieg gegen das Volk, gegen Frauen und die Natur fortsetzt, wird ein »Zerfall« unvermeidlich sein. Die Isolation zu brechen und die Freiheit für Herrn Öcalan zu fordern, wird derzeit in fast 120 Gefängnissen durch Hungerstreiks fortgesetzt. Die Mahnwachen dauern an, und aus Wan und Qers haben sich zwei Demozüge mit dem Langen Marsch für die Freiheit auf den Weg gemacht. Trotz der vergangenen Jahrzehnte hat die kurdische Bevölkerung beschlossen, zu zeigen, dass sie die Praxis, die ihr und Herrn Öcalan aufgezwungen wurde, nicht akzeptieren wird. Wir sind in einer Zeit, in der es nicht ausreicht, die Freiheit nur zu fordern, sondern auch notwendig ist, sie durchzusetzen.

Die Frage der Isolation ist mittlerweile so offensichtlich geworden, dass es im Wesentlichen eine Frage der Lösung oder Lösungslosigkeit, des Kriegs oder des Friedens, der Demokratie oder der Autorität ist. Beachten Sie, dass der Zeitpunkt, an dem die Isolation begann und verstärkt wurde, der Zeitpunkt ist, ab dem die Autoritarismus zunahm, der Zeitpunkt, ab dem der Krieg verschärft wurde, der Zeitpunkt, ab dem das Recht zunehmend missachtet und ab dem sogar das Verfassungsgericht ignoriert wurde.Heute gibt es Isolation, weil der Staat sich vor der Lösung drückt. Der Staat möchte auf diese Weise alle Errungenschaften der Kurd:innen beseitigen, daher greift er Rojava an. Insbesondere in Kurdistan versucht der Staat, eine alternative Hegemonie aufzubauen und die politische Kultur der Region über Parteien wie HÜDA PAR3 zu verändern.

Der Staat versucht einerseits, politische, soziale und wirtschaftliche Spannungen aufrechtzuerhalten, andererseits aber auch als regionale Macht durch Energiekorridore und Gewaltexport jeder versuchten Gegeninitiative Einhalt zu gebieten. Die Machtverhältnisse im Staat haben sich in den letzten neun Jahren stark verändert. Unter der Führung von Ergenekon gab es einen intensiven NATO- oder eurasischen Flügelwettbewerb. In diesem neuen Prozess scheint die MHP insbesondere in Justiz und Polizei an Stärke zu gewinnen und Druck auf die AKP auszuüben. Die gesamte Tonlage der Justizkrise und der Putschcliquen wird von der MHP bestimmt. Während mafiöse Gruppen an Einfluss in der Staatsführung gewinnen, gibt es innerhalb des Staates einen harten Wettbewerb um »Territorien«. Jetzt steht uns eine sehr wichtige Zeit mit den Kommunalwahlen. Die Entwicklungen der nächsten Zeit werden wichtig sein.

Die Kommunalwahlen am 31. März 2024: Alles beginnt von Neuem!

Die Bedeutung der lokalen Demokratie als Maßstab für »die Demokratie« hängt mit den Bereichen zusammen, in denen sie erreicht und sichtbar gemacht wird. Durch einen Blick auf die lokale Ebene kann man das demokratische Verständnis eines Landes erkennen. Die These, dass die Existenz lokaler Demokratie und die Politik des Staates von einander getrennt sein können, hat in der Praxis kaum eine Entsprechung. Nein, ein Land ist so demokratisch wie die lokalen Strukturen. Denn diese Beziehung ist eine notwendige Beziehung. Die heutigen Nationalstaaten sind sich dessen bewusst und haben das Verhältnis zwischen der Freiheitlichkeit der lokalen Regierungen und der Gesellschaft gut analysiert. Ausgehend von der Tatsache, dass Bildung, Gesundheit, Institutionen, Strukturen, Straßen, Natur ein Problem der Befreiung sind, kann man sehen, welche Bedeutung lokale Verwaltungen haben. Wir können das Lokale nicht unabhängig von Natur, Menschen, Institutionen und ihrer Demokratisierung betrachten.

Die Interpretation der lokalen Demokratie ist in den Parteien der Türkei unterschiedlich. Zum Beispiel ist die Regierung grundsätzlich dagegen. Denn die Türkei wurde durch AKP-MHP ideologisch umgestaltet, und dieser Umwandlungsprozess dauert an. Diese Transformation wird auf der Grundlage der türkisch-islamischen Synthese vertieft. Nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft unterliegt einer ideologischen Transformation, und dieser Prozess hat bereits eine gewisse Stufe erreicht. Anstelle von säkularer nationaler Identität wird türkischer Islam-Nationalismus eingeführt, und beide führen zum Faschismus.

Die AKP passt sich den veränderten Bedingungen des Dritten Weltkrieges an, bewertet ihre geopolitische und geostrategische Position und versucht, sich anzupassen, Hindernisse zu überwinden und sogar davon zu profitieren. Die AKP hat in letzter Zeit intensiv die USA ins Visier genommen. Sie wartet auf die Ergebnisse der bevorstehenden Wahlen in den USA und führt eine Anti-Biden-Kampagne durch. Für die AKP und ihren Koalitionspartner MHP ist eine zentrale Agenda die Verschärfung des Krieges. Dieser Krieg hat zwei Aspekte. Einer betrifft den Krieg in der Autonomen Region Kurdistan, der andere betrifft Rojava. Für die nahe Zukunft wird ein erneuter Großangriff auf Rojava signalisiert, aber die globalen Dynamiken werden hier entscheidend sein.

Daher wird die einzige Agenda und der Wahlkampf der AKP-MHP für die Kommunalwahlen eine nationalistische Sprache sein, potentieller Lynchmord, der alles und jede:n terrorisiert, und Feindseligkeit gegenüber den Kurd:innen. Die Republikanische Volkspartei (CHP) versucht während dieser schmerzhaften Phase ihre Veränderungsfähigkeit zu beweisen. Aber wie zu sehen ist, stellen interne Probleme, vergangene Altlasten und staatliche Programme Hindernisse für diesen Wandel dar. Dabei ist Veränderung eine Frage des Mutes; wenn die CHP Veränderung will, muss sie mutig sein. Die İYİ Parti ist bestrebt, sich in der zunehmenden nationalistischen Koalition im Land zu integrieren. Sie ist auf der Suche danach, in ihr Umfeld zurückzukehren, nachdem die führenden Kader erfolgreich die Opposition unter nationalistischer Kontrolle gehalten haben. Aber die Basis glaubt nicht, dass sich die İYİ Parti verändert hat. Die Welle von Rücktritten in der Partei deutet darauf hin, dass die Partei in Zukunft in der Politik nur eine begrenzte Rolle spielen wird.

Parteien mögen sich verändern, die Namen mögen sich ändern, aber die Realität nicht. Der Wahlkampf vor den Kommunalwahlen wird im Wesentlichen zwischen zwei Blöcken geführt. Die eigentliche Lösung ist jedoch der Dritte Weg. Dieser Weg ist der Weg der Arbeitenden, derjenigen, die Freiheit fordern. Selbst die Vorwahlen, bei denen wir in über 90 Regionen mehr als 100.000 Stimmen erlangt haben, zeigen die konstruktive Natur des Dritten Weges. In dieser Hinsicht ist das einzige Rezept für die Rettung im neuen Jahrhundert der Türkei-Konsens, der auf Demokratie und gemeinsamer Vernunft beruht. Der einzige Ausweg für die Menschen der Türkei ist der historische kurdische Frieden. Eine demokratische, gerechte und freiheitliche Ordnung. Kurdistan Report 232 | März / April 2024

Bei den kommenden Wahlen sagen wir, dass der Schlüssel zum Sieg am 31. März der städtische Konsens ist. Wir wollen von lokaler Demokratie zum Stadtkonsens und von dort zum Türkei-Konsens gelangen. Unser Interesse liegt nicht darin, wer welche Gemeinde gewinnen wird. Wir werden ein starkes demokratisches Bündnis, einen starken städtischen Konsens schaffen und mit dem Türkei-Konsens krönen. Das ist der einzig mögliche Ausweg. Wir gehen mit einer Gründungshypothese in die Kommunalwahlen. Stadtkonsens ist das demokratische Modell für die Türkei. Wir sagen, der Weg von lokaler Demokratie zum städtischen Konsens führt zum Türkei-Konsens.

Und ja, unsere Partei, die mit diesem Anspruch antritt, wird sicherlich gewinnen. Es gibt Hindernisse, die Handicaps haben sich vertieft, Bedrohungen und Gefahren sind größer als je zuvor, aber in dieser Situation ist das Bedürfnis nach Freiheit, Frieden und Gleichheit gewachsen. Unsere Partei, unsere Politik, hat in dieser Hinsicht einen besonderen, herausragenden Platz. Nationalismus, Rassismus, Kriegsordnung, Ausbeutung und Plünderung, Hunger und Armut vertiefen nicht die Hoffnungslosigkeit, sondern vergrößern die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung. Mit diesem Verständnis sind wir zuversichtlich, dass wir zusammen mit unserem Volk gewinnen werden.

 Fußnoten

1»Dritter Weg«: 1: Nicht mit dem Staat. 2: Nicht gegen den Staat. 3. Aufbau eigener Strukturen für Selbstverwaltung.
2 Can Atalay ist Rechtsanwalt in der Türkei und bekannt durch die Übernahme der Vertretung von Erdbebenopfern, Verhafteten aus dem Gezi-Park Zusammenhang etc. Er wurde wegen seiner anwaltlichen Aktivitäten verhaftet und wird nicht aus dem Gefängnis entlassen, obwohl das türkische Verfassungsgericht seine Freilassung angeordnet hat.
3 Hüda Par (»Partei der Freien Sache«) ist 2012 gegründet worden und gilt Vielen als faktische Nachfolgerin der Hizbullah, die für zahlreiche »Morde unbekannter Täter« in den 1990er Jahren verantwortlich war und vor allem gegen die kurdische Bevölkerung gekämpft hatte.


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024