Eine internationale Entführung:

Der Fall Öcalan

Kaveh Ghoreishi, Journalist

Als die türkische Regierung Ende 1998 im Namen der NATO massiven Druck auf Syrien ausübte, um Abdullah Öcalan auszuweisen, war nicht absehbar, dass diese Handlung und die damit verbundene kurdische Frage in den kommenden Jahrzehnten zu einem zentralen Thema im Mittleren    Osten werden würden. Die Auswirkungen von Öcalans Flucht aus Syrien auf die kurdische Frage von heute sind bedeutend. 25 Jahre nach seiner Entführung im Rahmen eines internationalen Komplotts ist es wichtig zu untersuchen, wie sich die Lage der Kurd:innen im Nahen Osten und weltweit entwickelt hat. Auch ist interessant zu analysieren, wie Öcalans Aufenthalte in Moskau, Athen, Rom und Nairobi seine politische Theorie beeinflusst haben. Dieser Essay unternimmt den Versuch, Öcalans Reise nach Europa und ihre Auswirkungen auf die aktuelle Situation der Kurd:innen zu beleuchten.

Im September 1998 eskalierte die Türkei ihren medialen Krieg gegen Syrien. Der damalige türkische Staatspräsident Süleyman Demirel (1924–2015) erklärte im September, dass seine Geduld mit dem Nachbarland am Ende sei. Wenige Tage später, im Oktober, wurden ein großes Truppenaufgebot und Panzer der türkischen Armee an der Grenze zu Syrien stationiert.

Öcalans Odyssee in Europa beginnt

Am 9. Oktober 1998 verließ Abdullah Öcalan aufgrund des zunehmenden Drucks von NATO-Mitgliedern und Ländern wie den USA, Großbritannien und Israel freiwillig Syrien und reiste in einem Linienflugzeug nach Athen in Europa aus. Die Reise nach Europa war nicht die einzige Option, die Öcalan nach seiner Ausreise aus Syrien hatte. Eine ernsthafte Möglichkeit, die ihm von der Partei vorgeschlagen wurde, war die Rückkehr nach Kurdistan und die Reorganisation der Partei gegen kolonialistische Regierungen im Mittleren Osten wie die Türkei. Um jedoch »eine Eskalation des Krieges zu vermeiden«, entschied sich Öcalan für einen komplizierten Weg durch die europäischen Hauptstädte, um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu finden.

Diese Reise stieß bereits auf der ersten Etappe auf ein Hindernis. Auf einem der Athener Flughäfen wurde Öcalan nicht wie erwartet von einem hochrangigen »Freund« der griechischen Regierung empfangen, sondern von einem Geheimdienstbeamten, der ihm mitteilte, dass er nicht nach Griechenland einreisen dürfe. Öcalan reiste sofort nach Moskau und lebte eine Zeit lang heimlich unter dem Schutz von Wladimir Schirinowski (damals Vorsitzender der LDPR, der Liberaldemokratischen Partei Russlands) in einer seiner Residenzen. Es dauerte nicht lange, bis internationale Sicherheitsorganisationen den Aufenthaltsort des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans in Russland ausfindig machten.

In dieser Situation geriet die russische Regierung unter den Druck der NATO und der USA, Öcalan auszuweisen. Die Aussicht auf einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Möglichkeit, Gas in die Türkei zu exportieren, spielten dabei eine besondere Rolle. So beschloss Moskau unter Präsident Jewgeni Primakow und Premierminister Boris Jelzin, Öcalan auszuweisen, obwohl die Duma mehrheitlich (298 Stimmen) für sein Asyl gestimmt hatte (Anfang November 1998). Diesmal luden Vertreter:innen der Kommunistischen Partei Italiens unter dem linken Ministerpräsidenten Massimo D'Alema Öcalan mit vagen Versprechungen ein. Er wurde in Rom in eine Wohnung einquartiert, in der er wie in einem Gefängnis festsaß, obwohl dies nicht direkt beabsichtigt war.

Als Öcalan am 12. November 1998 in Italien eintraf, drohte ihm die Vollstreckung eines deutschen Haftbefehls1. Die italienischen Behörden brachten den Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans zunächst vom Flughafen Fiumicino in Rom in ein Militärkrankenhaus (Celimontana) und anschließend in eine streng bewachte Wohnung in der Nähe von Rom (Ostia). Unmittelbar nach seiner Ankunft am Flughafen stellte er einen Asylantrag. Während seines Aufenthalts in Italien wurde die Anwesenheit Öcalans in der Europäischen Union unter den Mitgliedstaaten kontrovers diskutiert. In den Worten des damaligen griechischen Außenministers Georgios Papandreou war Öcalan eine »heiße Kartoffel«2, die niemand haben wollte. Die Türkei verstärkte den Druck und kündigte schließlich am 15. November offiziell einen Wirtschaftsboykott gegen Italien an.

Einige Menschenrechtsorganisationen rieten Italien und anderen Ländern, den PKK-Vorsitzenden nicht aufzunehmen. In einem beispiellosen Akt der Unverfrorenheit forderte Human Rights Watch, Öcalans Asylantrag in Italien abzulehnen3. Die Bemühungen von Anwält:innen und die Lobbyarbeit der kurdischen Diaspora blieben erfolglos, und schließlich wurde Öcalan am 16. Januar 1999 gezwungen, Italien in einem Privatflugzeug zu verlassen und nach Russland zurückzukehren, wo er erneut vor verschlossenen Türen stand.

Am 20. Januar wurde Öcalan zunächst zwangsweise nach Tadschikistan überstellt, am 28. Januar jedoch nach Moskau zurückgebracht. Am 29. Januar reiste er erneut nach Athen und landete nach einer Übernachtung im Haus der damals bekannten griechischen Schriftstellerin Vola Damianako4, 12 Kilometer von Athen entfernt, schließlich am 30. Januar 1999 auf dem Flughafen der weißrussischen Hauptstadt Minsk, wo ihm jedoch die Einreise verweigert wurde. Am nächsten Tag, dem 1. Februar 1999, musste Öcalan aus der weißrussischen Hauptstadt nach Athen zurückkehren. Am Flughafen wurde er vom Chef des griechischen Staatssicherheitsdienstes empfangen. Nachdem er Öcalan gewarnt hatte, dass er nur eine Nacht im Land bleiben dürfe, schickte er ihn auf die Insel Korfu5.

Öcalans Entführung aus Nairobi und die antikurdische mediale Hetze

Öcalan befand sich, wie er selbst sagt, in einer eigenartigen Situation. Die Europäer hatten nicht den Mut, ihn im Herzen der Europäischen Union zu verhaften, und genau aus diesem Grund schickten ihn die Sicherheitsbehörden am 2. Februar 1999 nach Kenia, einem Hinterhof des Mossad und der CIA. Schließlich verließ Öcalan die griechische Botschaft in Nairobi nach einem vorher festgelegten und aufgezwungenen Plan und wurde unter dem Schutz von Dutzenden kenianischen und wahrscheinlich auch internationalen Militärs zum Flughafen dieser Stadt gebracht. Dies war die letzte Szene der Entführung Öcalans, in der der große griechische Botschafter in Nairobi Krokodilstränen für Öcalan und die kurdische Frage vergoss. Statt des ihm versprochenen Flugzeugs, das ihn nach Holland bringen sollte, bestieg Öcalan ein ähnlich aussehendes Flugzeug, das einem türkischen Milliardär gehörte und ihn direkt in die Türkei brachte.

Die Entführung dieser charismatischen kurdischen Persönlichkeit hat weltweit ein großes Medienecho hervorgerufen. Ohne ins Detail zu gehen, ohne die Rechtsverletzungen der westlichen Länder in Frage zu stellen, ohne zu hinterfragen, warum Öcalans Asylrecht verletzt wurde, stellten mehr oder weniger alle Mainstream-Medien seine Verhaftung einseitig und im Einklang mit dem Narrativ der Sicherheitsinstitutionen und Geheimdienste als eine Operation zur Festnahme eines Kriminellen oder Terroristen dar. Sie führten einen medialen Krieg gegen die Kurd:innen. Gleichzeitig versuchten die Medien, das »unzivilisierte« Gesicht der kurdischen Diaspora zu zeigen, die in verschiedenen europäischen Hauptstädten die Botschaften der Länder angegriffen habe, welche der Beteiligung an Öcalans Entführung beschuldigt wurden.

Nachdem das vormalige Narrativ aus den Medien verschwunden war und die kurdische Bewegung als »terroristisch« stigmatisiert wurde, eroberten die Kurd:innen die Straßen zurück und begannen diese ab dem 16. Februar 1999 politisch zu nutzen. Die Straßen, die für Öcalans Empfang vorgesehen gewesen waren, wurden Orte des Protests und des Zorns der kurdischen Diaspora in vielen europäischen Städten. Während der Proteste wurden Hunderte kurdische Aktivist:innen verhaftet und vier kurdische Demonstrant:innen in Berlin von Angehörigen der israelischen Botschaft erschossen6. Gleichzeitig begannen die Medien, vor allem in Deutschland und den Niederlanden, die kurdische Diaspora zu kriminalisieren. Von »Wut und Rebellion der Kurden« war die Rede. Der Spiegel sprach vom »Kurdenkrieg in Deutschland«7. Britta Böhler, eine der Anwält:innen Öcalans, sagte: »Wenn man den Medien glauben würde, könnte man meinen, Europa sei voll von kurdischen Kriminellen und Banditen, die jede Stadt, die sie betreten, zerstören und eine Müllhalde hinterlassen.«

Aus der Wut erwachsen neue Widerstandspotentiale – Die Lehren aus dem Komplott

Die Ereignisse rund um die Entführung Öcalans haben nicht nur Europa, sondern auch viele Städte des Mittleren Ostens und Teile Kurdistans politisch grundlegend verändert. Die Proteste aus Solidarität mit dem PKK-Vorsitzenden in Rojhilat (Ostkurdistan/Westiran) und Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) markieren einen historischen Wendepunkt. Nicht nur die Ära der Dominanz der klassischen Parteien in der kurdischen Gesellschaft ging zu Ende, sondern auch neue Parteien mit modernen und universellen Werten nahmen ihre Arbeit auf. Beobachter:innen zufolge haben die Demonstrant:innen, die gegen die Situation Öcalans protestierten, die seit fast drei Jahrzehnten erstickte und unterdrückte Gesellschaft Rojhilats in Kurdistan wieder politisiert.

Vor allem aber haben die Ereignisse Öcalans Denken entscheidend geprägt. Der Hinweis auf die allmählichen, aber grundlegenden Veränderungen in seinem Denken während seiner Haftzeit dürfte den Leser:innen bekannt sein. Öcalan selbst erklärte in der Einleitung zu seinem mehrbändigen Manifest der demokratischen Zivilisation: »Die Lektionen, die ich aus meinem dreimonatigen Abenteuer zwischen Athen, Moskau und Rom gelernt habe, sind zweifellos von historischem Wert. Die kapitalistische Moderne ist ein zentraler Begriff dieser Gefängnisschrift. Dass es mir gelang, sie hinter einer Unzahl von Masken und Rüstungen zu erkennen, hängt eng mit diesem Abenteuer zusammen. Hätte es dieses Abenteuer nicht gegeben, wäre ich entweder bei einer klassischen, primitiv-nationalistischen Verteidigung des Nationalstaats hängen geblieben, oder hätte, wie in Hunderten anderen Fällen – einschließlich derer, die einen Staat gründeten – geschehen, mein Leben als Vertreter einer klassischen linken Bewegung beendet. Keinesfalls hätte ich diese Analysen vornehmen können.« (Zivilisation und Wahrheit: S. 25)

Während dieser wenigen Monate in Europa hat Öcalan nicht nur das Wesen des vermeintlich demokratischen Staates und der kapitalistischen Moderne erkannt, sondern gelangte auch zu der Erkenntnis, dass ein Nacheifern dieser »Lösungsmodelle« keinen Schritt in Richtung der Freiheit der kurdischen Gesellschaft bedeuten würde. Im besten Falle würde dieser Weg zu einer schlechten Kopie eines westlich-liberalen Nationalstaates im Mittleren Osten führen.

Die europäische Verantwortung am Krieg in Kurdistan und Öcalans Paradigmenwechsel

Der Umgang westlicher Staaten und so genannter Menschenrechtsorganisationen mit dem Fall Öcalan war nicht nur undemokratisch und gegen grundlegende menschliche Werte gerichtet, sondern letztlich auch tödlich. Zum Zeitpunkt der Entführung Öcalans waren bereits mindestens 20.000 Menschen (vor allem kurdische Zivilist:innen) durch Angriffe des türkischen Staates und in geringerem Maße durch Kämpfe zwischen der PKK und der türkischen Armee ums Leben gekommen. Diese Zahl stieg nach 1999 kontinuierlich an, so dass heute von 50.000 Toten die Rede ist. Wenn man bedenkt, dass eine europäische Friedensinitiative, wie sie Öcalan anstrebte, diese Opfer hätte verhindern können, ist die Verantwortung der europäischen Staatengemeinschaft für die Zahl der Toten nicht von der Hand zu weisen.

All diese Faktoren führten zu einem Paradigmenwechsel im Denken Öcalans. Bereits in seinen ersten im Gefängnis von İmralı geschriebenen Büchern begann er, eine neue Theorie zu entwickeln, in der der Nationalstaat in seiner klassischen und konventionellen Form keinen Platz mehr hatte. In diesen Jahren versuchte Öcalan, die Ökologiedebatte in den Mittelpunkt der Diskussionen in Kurdistan zu rücken, indem er die zerstörerischen Auswirkungen des in der Türkei vorherrschenden Neoliberalismus auf die Ökologie der Region und insbesondere auf die Ökologie Kurdistans analysierte. Im Jahr 2000 empfahl er Hunderten von kurdischen Bürgermeister:innen der nordkurdischen Städte, die Werke von Murray Bookchin zu lesen, insbesondere dessen Buch mit dem Titel »Die Ökologie der Freiheit«.

Gleichzeitig machte er die Frauenfrage zu einem zentralen Thema der Bewegung. Vorreiterinnen der kurdischen Frauenbewegung wie Sakine Cansız waren ohnehin seit der Gründung der PKK prägend für den Freiheitskampf. Diese beiden Bemühungen fielen zusammen mit seiner wiederholten Betonung der Notwendigkeit, die menschliche Geschichte und die kapitalistische Moderne neu zu lesen, um eine demokratische Moderne und eine demokratische Zivilisation zu erreichen. Das Ergebnis dieser Theorie gipfelte 2004 in dem mehrbändigen Manifest der demokratischen Zivilisation im Konzept des demokratischen Konföderalismus.

Die Theorie wird zum Leben erweckt und zur neuen Hoffnung der globalen Linken

Und der demokratische Konföderalismus konnte und kann weiterhin in der Realität erprobt werden. Trotz der Angriffe der NATO (der Türkei und der von ihr unterstützten Dschihadisten) und der täglichen Bombardierung der lebenswichtigen Infrastruktur von Rojava und Nordostsyrien werden in der Region die Ideen Öcalans mit Leben gefüllt. Der demokratische Konföderalismus wurde in einer Region (Syrien) aufgebaut, in der das Regime und die herrschenden Regime fast ein Jahrhundert lang daran gearbeitet haben, jede Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens zu zerstören, um eine starke nationale Zentralregierung zu errichten. Der demokratische Konföderalismus und seine Werte (insbesondere die Jîna-Revolution) strahlen auch über Rojava hinaus und sind zur dominierenden Stimme der Jîna-Revolution in Rojhilat und im Iran geworden.

Die Erfahrung des demokratischen Konföderalismus in den letzten zwölf Jahren hat nicht nur die politische Struktur aller Teile Kurdistans verändert, sondern ist auch zu einem klaren Beispiel für Hoffnung auf globaler Ebene geworden, wie linke Vordenker wie David Graeber oder John Holloway betonten. Vor dieser Theorie war die kurdische Frage in den Medien und akademischen Institutionen des globalen Nordens das Anliegen einer großen staatenlosen Minderheit, die wie die Palästinenser:innen den Traum von der Errichtung eines Nationalstaates verfolgte. In dieser Zeit wurden die Kurd:innen ihrer politischen Identität beraubt und auf die Rolle von Opfern der Großmächte des Mittleren Ostens reduziert. Der demokratische Konföderalismus hat die Kurd:innen von »rebellischen« oder »bemitleidenswerten und hilfsbedürftigen« Wesen in »politische Subjekte« verwandelt, die globale und neue Werte in das Feld globaler Auseinandersetzungen einbringen.

Der demokratische Konföderalismus – ein globales Thema

Die Entstehung der Theorie des demokratischen Konföderalismus und seine praktische Erfahrung in Rojava lassen sich nicht auf einen einzigen Faktor reduzieren. Das paternalistische Verhalten der westlichen Länder in der kurdischen Frage, die Entführung Öcalans und das Schließen aller Friedenstüren waren einige der wichtigsten Faktoren für die intellektuellen Veränderungen in seinem Denken. Diese Veränderungen führten nicht nur zu einer Ausweitung des Spektrums der Unterstützer:innen für eine Lösung der kurdischen Frage, sondern wurden auch zu einem Thema des philosophischen und kritischen Denkens.

Kaum ein:e zeitgenössische:r Philosoph:in oder kritische Denker:in konnte gegenüber der Revolution in Rojava und der Jîna-Revolution im Iran gleichgültig bleiben. Der verstorbene Anarchist David Graeber, John Holloway, Alain Badiou, Étienne Balibar, Jacques Rancière und Michel Levy, Judith Butler, Slavoj Žižek, Michael Hart, Antonio Negri und Angela Davis sind nur einige der Philosoph:innen, die sich auf unterschiedliche Weise zur kurdischen Frage und ihrer Lösung durch den demokratischen Konföderalismus geäußert haben.

Neben Philosoph:innen und Akademiker:innen hat die Revolution in Rojava eine Brücke zwischen antisystemischen Gruppen und Bewegungen auf der ganzen Welt geschlagen, von den Zapatistas, die in ihrer letzten Erklärung die Notwendigkeit betonten, aus den Erfahrungen Kurdistans zu lernen, bis hin zu anderen kleinen und großen lateinamerikanischen Bewegungen. Denn die Revolution von Rojava ist das Wagnis eingegangen, eine politische Lösung zu suchen.

Tatsache ist, dass Öcalan und die Arbeiterpartei Kurdistans von Anfang an keine nationalistische Partei waren. Ihre Idee war, dass der Mittlere Osten nur durch den Kampf gegen den Kolonialismus einen Weg zur Befreiung finden kann, und aus diesem Grund definierten sie Kurdistan als die größte Kolonie im Mittleren Osten. Selbst in einem seiner letzten Interviews vor seiner Abreise aus Italien sagte Öcalan der Redaktion des deutschen Magazins Der Spiegel, dass er auf der Suche nach einer Art Konföderation und einem Modell und Vorbild für den gesamten Mittleren Osten sei.

Die Entführung Öcalans am 15. Februar 1999 war ein entscheidender Moment für die Kurd:innen. Dieses Ereignis veränderte den Kurs der kurdischen Bewegung auf revolutionäre und grundlegende Weise. Sie stellte nicht nur eine sehr fortschrittliche Alternative zur Idee einer nationalen Regierung dar, sondern konnte zu einem der hoffnungsvollsten und aktivsten politischen Diskurse weltweit werden.

Leider wurde das Ereignis der Entführung trotz seiner Bedeutung von kurdischen Journalist:innen, Historiker:innen und Akademiker:innen nicht vollständig verstanden. Auch die von der Arbeiterpartei Kurdistans dazu veröffentlichten Untersuchungen erscheinen mir unzureichend. Vor allem aber wurde die Entführung Abdullah Öcalans im Rahmen einer regelrechten internationalen Verschwörung, die für die westlichen liberalen »Demokratien«, die Institutionen der Zivilgesellschaft und insbesondere die Menschenrechtsorganisationen ein politischer Skandal ersten Ranges war und ist, in diesen Ländern nie untersucht. Weder Journalist:innen noch Forschungseinrichtungen haben sich mit diesem Thema beschäftigt.

Abdullah Öcalan ist seit 25 Jahren in der Türkei inhaftiert, aber die Auswirkungen seines Kampfes und seines Denkens außerhalb des Gefängnisses sind weiterhin groß. Viele glauben, dass die Türkei die kurdische Frage nicht lösen kann, ohne ihn als Ansprech- und Verhandlungspartner zu akzeptieren.

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des persischsprachigen Buches »Öcalan in Europa: Bericht aus Rom«, das im Jahr 2020 vom Autor im Roonak-Verlag in den Niederlanden veröffentlicht wurde. Das Buch enthält einen investigativen Untersuchungsbericht sowie mehrere Interviews, von denen einige erstmalig veröffentlicht wurden.

 Fußnoten

1 https://www.theguardian.com/world/1998/nov/28/kurds.iantraynor
2 https://www.spiegel.de/politik/oecalan-war-eine-heisse-kartoffel-a-93d82304-0002-0001-0000-000010630215
3 https://www.hrw.org/news/1998/11/20/italy-urged-prosecute-pkk-leader-ocalan
4 https://www.theguardian.com/world/1999/feb/21/kurds1
5 https://www.latimes.com/archives/la-xpm-1999-feb-19-mn-9634-story.html
6 https://www.theguardian.com/world/1999/feb/17/kurds3
7 https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1999-8.html


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024