Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage

Die gesellschaftliche Frage1

Abdullah Öcalan

1. Das Problem von Macht und Staat

Ich muss nochmals betonen, dass einerseits Geschichte ›Gegenwart‹ ist, andererseits jedes Element der Gegenwart Geschichte. Der große Bruch zwischen Geschichte und Gegenwart folgt aus der Propaganda einer jeden aufsteigenden Zivilisation, durch welche sie sich zu legitimieren und sich den Schein der Ewigkeit zu geben versucht. Im wirklichen Gesellschaftsleben existieren keine solchen Brüche. Ein weiterer Aspekt, den ich betonen möchte, ist, dass die Konstruktion einer lokalen bzw. singulären Geschichte ohne ihre Universalisierung keinen Sinn ergäbe. Folglich ist das Problem von Macht und Staat, welches seit deren Errichtung existiert, mit sehr kleinen Differenzen auch ein gegenwärtiges. Diese Differenzen ergeben sich durch zeitliche und räumliche Veränderungen. Wenn wir den Begriffen Differenz und Transformation einen solchen Inhalt geben, wird der Wahrheitsgehalt unserer Interpretationen eindeutig größer. Man sollte sich der Nachteile bewusst sein, die die Unterschätzung von Differenzen, Transformation und Entwicklung mit sich bringt. Genauso wie eine fehlende universalgeschichtliche Perspektive verblendend wirkt, verschleiert ein Geschichtsverständnis, welches den Differenzen und der Transformation keinen Platz einräumt und die Geschichte als eine Art ewige Wiederholungskette behandelt, die Wirklichkeit. Es ist sehr wichtig, diese beiden Reduktionismen zu vermeiden.

Die erste Feststellung über Macht und Staat aus gegenwärtiger Perspektive ist, dass sie sich eine unheimliche Ausdehnung über und in der Gesellschaft verschafft haben. Bis zum sechzehnten Jahrhundert wurde Herrschaft in ihrer prächtigen und angsteinflößenden Art eher außerhalb der Gesellschaft konstruiert. Die Zivilisation wurde in verschiedenen Zeiten Zeuge von zahlreichen unterschiedlichen Herrschaftsformen. Der Staat als offizieller Ausdruck der Macht hatte seine Grenzen sorgfältig gezogen. Man hoffte: Je klarer die Grenzen zwischen dem Staat und der Gesellschaft gezogen würden, desto größer sollte ihr Nutzen sein. Selbst in Bezug auf Macht als ein innergesellschaftlicheres Phänomen waren die Grenzlinien klar erkennbar. Die Position der Frauen gegenüber den Männern, der Jungen gegenüber den Alten, der Stammesmitglieder gegenüber dem Stammesoberhaupt, der gläubigen Gemeinschaft gegenüber dem Vertreter der Religion bzw. der Konfession war durch sehr klare Regeln und Sitten bestimmt. Von ihren Tonfällen bis hin zu ihren Gangarten und Sitzweisen waren die Autorität von Macht und das Herrschen und Beherrschtwerden ausführlichen Regeln unterworfen. Zweifellos ist es nachvollziehbar, dass Macht und Staat, die sich der Gesellschaft gegenüber in Unterzahl befanden, ihre Autorität auf diese Weise errichteten, um ihr Dasein spürbar zu machen. Diese Regeln fungierten als Legitimationsmittel und boten entsprechende Bildung und Dienste.

Die tiefgreifende Transformation der Autorität von Macht und Staat in der europäischen Zivilisation beruhte auf ihrem Bedürfnis, alle Poren der Gesellschaft immer schneller zu durchdringen. Es kann von zwei Hauptfaktoren die Rede sein, die bei der horizontalen und vertikalen Expansion der Macht eine Rolle spielten. Der erste davon ist die Vergrößerung der auszubeutenden Massen. Ohne eine entsprechende Vergrößerung der Verwaltung war die Ausbeutung nicht mehr realisierbar. Genauso wie eine größer werdende Herde mehr Hirten braucht, stellt auch die Aufblähung der Staatsbürokratie einen eindeutigen Beweis für dieses Phänomen dar. Die Regierung, die nach außen hin ihre Verteidigungskräfte außerordentlich verstärkt hatte, spürte zudem im Inneren die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu unterdrücken. Kriege haben schon immer Bürokratie erzeugt. Die Armee selbst ist die größte bürokratische Organisation. Der zweite Faktor bestand in dem größer werdenden Bewusstsein und dem zunehmenden Widerstand der Gesellschaft. Einerseits die Tatsache, dass die europäische Gesellschaft die tief verwurzelte Ausbeutung nicht erlebt hatte, andererseits ihr stetiger Widerstand zwangen die Macht und den Staat dazu, sich zu vergrößern. Der Kampf der Bourgeoisie gegen die Aristokratie und der der Arbeiterklasse gegen beide führten in Europa zu einem tiefer reichenden Aufbau von Macht und Staat. Die Staatswerdung der Bourgeoisie wahrscheinlich als der ersten Mittelklasse in der Geschichte führte eine große Änderung der Position der Macht und des Staates herbei. Die Staatswerdung einer aus dem Schoß der Gesellschaft stammenden Masse und die damit zusammenhängende Machtzunahme zwangen die Bourgeoisie zu einer Organisierung innerhalb der Gesellschaft.

Die Bourgeoisie als Klasse war zu groß, um ihre Herrschaft über die Macht und den Staat äußerlich zu etablieren. Es war klar, dass diese Klasse nach ihrer Staatswerdung sich im Inneren in einem gesellschaftlichen Konflikt wiederfinden würde. Der Klassenkampf kündigte diese Wahrheit an. Liberalismus ließ als bürgerliche Ideologie nichts unversucht, um eine Lösung dieses Problems zu finden. Was sich aber im Laufe der Zeit ereignete, waren eine Ausweitung des Staates und der Macht und eine Weiterentwicklung des bürokratischen Krebsgeschwürs. Je größer der Staat und die Macht in einer Gesellschaft sind, desto größer ist auch der Bürgerkrieg. Das grundsätzlichste Problem, das sich in der europäischen Gesellschaft entwickelte, war von Anbeginn an dieser Art. Die großen Kämpfe für Verfassung, Demokratie, Republik, Sozialismus und Anarchismus hingen eng mit der Entstehungsweise von Macht und Staat zusammen. Gegenwärtig stellen an eindeutige konstitutionelle Regeln gebundene Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie das beliebteste Gegenmittel gegen dieses Problem dar. Anstatt einer nachhaltigen Lösung wird vielmehr eine Überwindung der alten Kampfphase versucht, indem der Staat und die Gesellschaft zu einer Einigung bezüglich der Macht gezwungen werden. Das Problem von Macht und Staat wurde nicht gelöst, sondern es wurde ihm nur Nachhaltigkeit verliehen.

Wenn man das Ganze näher betrachtet, sieht man, dass mithilfe diverser Formen von Nationalismus, Sexismus, Religionismus und Szientismus Gesellschaft, Macht und Staat zunehmend ineinander verschränkt und durch die zu etablierende Vorherrschaft des Paradigmas, jeder sei sowohl Macht als auch Gesellschaft, sowohl Staat als auch Gesellschaft, das Fortbestehen des Nationalstaats gewährleistet werden soll. So wird einerseits im Inneren der Klassenkampf unterdrückt, andererseits nach außen die Verteidigungsposition stets offen gehalten. So glaubt man, die Lösung im bürgerlichen Nationalstaat gefunden zu haben. Dies ist die bedeutendste der weltweit eingesetzten Methoden zur Unterdrückung von Problemen anstatt ihrer Lösung. Die faschistische Qualität des nationalstaatlichen Daseins als maximaler Staat und Macht war am deutlichsten während des deutschen Faschismus zu sehen.

Das erste Exemplar des Nationalstaats zeigte sich im holländischen und englischen Widerstand gegen das spanische Reich. Der Nationalstaat verschaffte seiner eigenen Macht einen Legitimationsgrund, indem er die ganze Gesellschaft gegen eine äußere Macht mobilisierte. Die europäische Entwicklung hin zu nationalen Gesellschaften wies also anfangs relativ positive Züge auf. Allerdings kam dieser Nationwerdung bereits von Anbeginn an offensichtlich die Aufgabe zu, die Ausbeutung und Unterdrückung der einen Klasse durch die andere zu verschleiern. Der Nationalstaat trägt sicherlich den Stempel der Bourgeoisie. Er ist das Staatsmodell dieser Klasse. Später führten die Feldzüge Napoleons dazu, dass dieses Modell, das in Frankreich an Stärke gewonnen hatte, sich in ganz Europa ausbreitete. Die Rückständigkeit der deutschen und italienischen Bourgeoisien und die Schwierigkeiten, die sie bei ihren Bemühungen um die nationale Einheit erlebten, brachten eine nationalistischere Politik mit sich. Einerseits die äußere Besatzungsgefahr, andererseits die andauernden Widerstände der Aristokratie und der Arbeiterklasse brachten die Bourgeoisie dazu, sich an ein chauvinistisch-nationalistisches Staatsmodell zu klammern. Angesichts der Niederlage und Krise standen viele Länder, vor allem Deutschland und Italien, am Scheideweg: ›Entweder soziale Revolution oder Faschismus‹. Das faschistische Staatsmodell ging aus diesem Dilemma als Sieger hervor. Vielleicht haben Hitler, Mussolini und Konsorten verloren, aber ihr System setzte sich siegreich durch.

Der Nationalstaat lässt sich im Wesentlichen als Identifizierung der Gesellschaft mit dem Staat und des Staates mit der Gesellschaft beschreiben – was übrigens auch die Definition des Faschismus ausmacht. Natürlich kann weder der Staat zur Gesellschaft noch die Gesellschaft zum Staat werden. Nur totalitäre Ideologien können eine solche Behauptung aufstellen. Die faschistische Qualität dieser Behauptung ist allgemein bekannt. Der Faschismus als Staatsform ist stets ein Ehrengast des bürgerlichen Liberalismus. Er ist die Regierungsform in Krisenzeiten. Da die Krise strukturell ist, ist auch diese Regierungsform strukturell. Sie trägt den Namen nationalstaatliche Regierung. Sie stellt den Höhepunkt der Krise des Finanzkapitalzeitalters dar. Der Staat des kapitalistischen Monopols, das gegenwärtig auf globaler Ebene auf seinem Höhepunkt angekommen ist, ist in seiner reaktionärsten und despotischsten Phase im Allgemeinen faschistisch. Auch wenn vom Niedergang des Nationalstaats die Rede ist, wäre es naiv, zu glauben, an seiner Stelle würde eine Demokratie konstruiert werden. Vielleicht ist der Aufbau sowohl makro-globaler als auch mikro-lokaler faschistischer Formationen an der Tagesordnung. Im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Zentralasien und Kaukasien ereignen sich beachtenswerte Entwicklungen. In Südamerika und Afrika stehen neue Erfahrungen unmittelbar bevor. Europa verfolgt die Strategie, sich durch Reformen vom nationalstaatlichen Faschismus zu entfernen. Wie es mit Russland und China weitergehen wird, ist noch ungewiss. Der Superhegemon USA steht im Austausch mit jeglicher Staatsform.

Das Problem von Macht und Staat befindet sich offensichtlich in einer seiner schlimmsten Phasen. Das Dilemma ›entweder demokratische Revolution oder Faschismus‹ ist an der Tagesordnung und seine Lösung nach wie vor lebenswichtig. Weder die regionale Organisation des Systems noch die zentrale UN-Organisation sind noch funktional. Das Finanzkapital, das in der globalsten Phase der Zivilisation seinen Höhepunkt erreichte, stellt diejenige Kapitalfraktion dar, die die Krise am meisten schürt. Das politisch-militärische Gegenstück zum Monopol des Finanzkapitals ist intensivierter Krieg gegen die Gesellschaft. Dies ist weltweit an vielen Fronten bereits Realität. Welche politischen und wirtschaftlichen Formationen aus der strukturellen Krise des Weltsystems hervorgehen werden, lässt sich nicht durch Prophezeiung, sondern durch intellektuelle, politische und moralische Bemühungen feststellen.

Im Zeitalter des Finanzkapitals, des virtuellsten Kapitalmonopols der kapitalistischen Moderne, ist die Gesellschaft einem historisch beispiellosen Zerfall ausgesetzt. Das politische und moralische Gefüge der Gesellschaft wurde zerschmettert. Was geschieht, ist ein ›Soziozid‹ – ein schwerwiegenderes gesellschaftliches Phänomen als Genozid. Die vom virtuellen Kapital beherrschten Medien fungieren als eine Waffe, die einen größeren Soziozid durchführt als im Zweiten Weltkrieg. Wie kann man die Gesellschaft gegen die Medien verteidigen, die sie mit ihren Nationalismus-, Religionismus-, Sexismus-, Szientismus- und Artismuskanonen (Sport, Serien usw.) vierundzwanzig Stunden am Tag unter Beschuss nehmen?

Die Medien sind wie eine Art zweite analytische Intelligenz in der Gesellschaft wirksam. So wie die analytische Intelligenz an sich weder gut noch böse ist, sind auch die Medien an sich ein neutrales Mittel. Wie bei jeder anderen Waffe auch, wird ihre Rolle von denjenigen bestimmt, die sie einsetzen. Die Hegemonialmächte verfügen nicht nur stets über die effektivsten Waffen im wörtlichen Sinne, sondern sie herrschen auch über die Waffe der Medien. Da sie die Medien wie eine zweite analytische Intelligenz einsetzen, gelingt ihnen die Neutralisierung der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit. Mithilfe dieser Waffe wird eine virtuelle Gesellschaft konstruiert. Die virtuelle Gesellschaft stellt eine weitere Form des Soziozids dar. Auch der Nationalstaat zählt zu den Formen des Soziozids. In beiden Fällen wird die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit beraubt und in ein Werkzeug des sie lenkenden Monopols verwandelt. Die Unterschätzung der gesellschaftlichen Natur ist äußerst gefährlich; der Raub ihrer Gesellschaftlichkeit setzt die Gesellschaft unbegrenzten Gefahren aus. Wie das Zeitalter des Finanzkapitals kann auch das des virtuellen Monopols nur mit einer Gesellschaft koexistieren, die aufgehört hat, sich selbst zu sein. Das gleichzeitige Entstehen dieser beiden Phänomene ist kein Zufall, da sie miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft, die der Nationalstaat ihrer Gesellschaftlichkeit beraubte (damit sie sich für den Nationalstaat hält) sowie die von den Medien verführte Gesellschaft sind im wahrsten Sinne des Wortes besiegte Gesellschaften, aus deren Trümmern man andere Sachen konstruiert. Es steht außer Zweifel, dass wir eine solche gesellschaftliche Ära erleben.

Wir leben nicht nur in der problematischsten Gesellschaft, sondern auch in einer, die ihren Individuen nichts bietet. Die Gesellschaften, in denen wir leben, haben nicht nur ihr moralisches und politisches Gefüge verloren, sondern werden zudem in ihrer Existenz bedroht. Sie sind nicht nur mit einem Problem konfrontiert, sondern der Gefahr ihrer Vernichtung ausgesetzt. Wenn die Probleme sich gegenwärtig trotz der ganzen Wirkmächtigkeit der Wissenschaft vergrößern und vertiefen und in eine Art Krebs verwandeln, dann stellt der Soziozid nicht nur eine Hypothese, sondern eine reelle Gefahr dar. Die Behauptung, die Macht des Nationalstaats beschütze die Gesellschaft, schafft die allergrößte Illusion und lässt diese Gefahr Schritt für Schritt wahr werden. Die Gesellschaft ist nicht nur mit Problemen, sondern mit ihrer eigenen Vernichtung konfrontiert.

 Fußnote

1 Aus: Soziologie der Freiheit. (= Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III). Münster 2020. S. 124-129.


 Kurdistan Report 232 | März / April 2024