500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne. Teil 2:

Enteignung und Kolonialismus in der (Frühen) Neuzeit

Eine Reihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus | www.i-dk.org
Fenna Joken und Thomas Maier


Dies ist der zweite Teil einer Artikelreihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus. Im ersten Teil dieser Reihe sind wir bereits auf die Ausbeutung und Unterdrückung der dörflich-agrarischen Gesellschaft und den massiven Widerstand dagegen eingegangen. In diesem Teil betrachten wir Aspekte der Zuspitzung der Ausbeutung der bäuerlichen Gesellschaft, insbesondere am Beispiel Großbritanniens, und deren direkte Verbindung zur Kolonialisierung als Teil des historischen Prozesses.

Im Heiligen Römischen Reich1 verliefen die Prozesse der Aus­beutung werktätiger Menschen anders, trotzdem aber wirk­ten sich die Herrschaftsmethoden der später führenden kapitalistischen Großmacht Großbritannien2 auch auf diese Prozesse im Heiligen Römischen Reich aus.

Wir wollen in dieser Artikel-Reihe im Kurdistan Report den Blick auf die letzten 500 Jahre der Angriffe auf die Gesellschaft darlegen und alte sowie neue Perspektiven auf das demokratische Potenzial der deutschen Gesellschaft aufmachen. Wir sind überzeugt, dass wir auf dieser Grundlage in der Lage sein werden, die demokratische Moderne aufzubauen.

In der Geschichte waren überall auf der Welt die Basis der Selbstversorgung und Selbstverwaltung der dörflich-agrarischen Gesellschaften der Boden, die Luft und das Wasser in ihrer Umgebung sowie die Werte, die Sicherheiten und die Beziehungen in ihren Gemeinschaften. Auf all diese Bereiche versuchten und versuchen auch heute noch die Herrschenden einen Zugriff zu bekommen. Dabei können wir eine stetige Zuspitzung und Vertiefung dieser Zugriffe erkennen. Mit dieser Zuspitzung beginnt eine Ausweitung des Machtbereichs der Herrschenden über die ganze Welt. Wir können beobachten, wie die verschiedenen Herrschaftsmethoden in unterschiedlichen Regionen der Welt wiederholt, angepasst und auf andere Gesellschaften übertragen wurden und werden. Neben der unvorstellbaren Gewalt, die die Herrschenden gegen die Gesellschaft einsetzen, entwickelten sich in der Frühen Neuzeit (um 1500) und mit der kapitalistischen Moderne (um 1800) ab dem 16. Jahrhundert Herrschaftsmethoden wie ein Bestrafungs- und Kontrollsystem, Lohnarbeit, aber auch Methoden der Spaltung und vor allem Rassismus.

Von der Enteignung zunächst der europäischen Bäuer:innen, über die Enteignung der Bäuer:innen auf der ganzen Welt, über den weltweiten Sklavenhandel bis zum Zugriff auf das Selbstbild und die Identität der Individuen weltweit, stehen die verschiedenen Machtverhältnisse wechselseitig in Beziehung und zementierten in den letzten 500 Jahren ein globales System, dass wir als die kapitalistische Moderne bezeichnen.

Mit der Allmende wird die Selbstverwaltung »gerodet«

Um die Macht der Herrschenden zu festigen, wurde die Abhängigkeit der Bevölkerung vom Staat vorangetrieben, durch die gezielte Zerstörung ihrer außerstaatlichen Lebensweise. Der Einfluss z.B. des frühen Frankenreichs auf die Bevölkerung war begrenzt, denn nur beim direkten Kontakt mit den Vertretern des Staates konnte die Unterdrückung durchgesetzt werden. Etwa dann, wenn nach der Ernte Soldaten kamen, um die Abgaben einzufordern. Die meiste Zeit im Jahr konnte die Bevölkerung ihrer lokalen Lebensweise nachgehen. Mit der Zerstörung dieser Lebensweise wurde versucht, die Bevölkerung längerfristig und umfassender zu unterdrücken. Die Mittel dazu waren die Fällung von Obst- und Nussbäumen, die Überführung von gemeinschaftlich genutztem Land (Allmende) in Privateigentum, die Verstaatlichung von Holz-, Jagd- und Fischerrechten, Zwang zu bestimmten Anbaumethoden und die Zerstörung demokratischer Selbstverwaltungen. Damit wurde auch ihre intensive Verbindung zur Natur angegriffen.

Durch den Zwang, jedes Jahr bestimmte Mengen für die Abgabe zu produzieren, waren die Menschen genötigt, den Böden mehr abzuverlangen als deren Regeneration zuließ. Ernteausfälle und Hungersnöte wie z. B. im Jahr 1315 und den Folgejahren waren die Folge dieser Machtpolitik, denen die Gesellschaft ohne ihre Allmende, ohne ihr Jagdrecht und ohne ihre traditionellen Anbaumethoden ausgeliefert war. Viele mussten ihr eigenes Land, von dem sie sich nicht mehr ernähren konnten, verlassen und sich an anderer Stelle in neue Abhängigkeiten, wie Leibeigenschaft oder Lohnarbeit, begeben.

Enteignung und Bestrafung

Die Enteignung der europäischen Bäuer:innen vollzog sich in Großbritannien sehr systematisch. Ackerland wurde eingehegt, das heißt enteignet und umzäunt, Kleinbäuer:innen gewaltsam vertrieben, Landpächter verdrängt. Am Ende des 16. Jahrhunderts gab es in Großbritannien zwölf Mal so viele Besitzlose wie einhundert Jahre zuvor.

»Land-, kredit- und beschäftigungslos und außerstande, gewinnbringende Arbeit zu finden, blieben diese neuen Proletarier dem Leben auf der Straße überlassen, wo sie der erbarmungslosen Grausamkeit einer Straf- und Arbeitsgesetzgebung ausgesetzt waren, die an Härte und Abschreckungspotenzial in der Geschichte der Neuzeit bis dato unübertroffen war.«3

Viele landlos gewordene Menschen wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die Umwandlung umherziehender Bettler:innen in wirtschaftlich verwendbare Untertanen sollte durch Methoden der Arbeitserziehung erreicht werden. Der Leitsatz für die eingerichteten Arbeitshäuser lautete: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«

Einerseits sind also sehr viele Menschen durch die Einhegung landlos gemacht worden, andererseits verpflichtete man die Landlosen zur Zwangsarbeit. Gerade in England waren sehr viele Menschen ohne Arbeit, ohne Land und landeten in Gefängnissen, die völlig überfüllt waren. Es kam immer wieder zu Phasen, in denen die Gefängnisse >geleert< wurden und die Insass:innen in englische Kolonien deportiert und dort zu Zwangsarbeit gepresst wurden. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde diese Schuldknechtschaft gesetzlich verankert und so die Deportation legitimiert.

Wir können also sagen, dass es eine gezielte Strategie der Herrschenden in England war, sich der vielen aufrührerischen und unzufriedenen Menschen, die eine Gefahr für die bestehende Ordnung darstellten, zu entledigen und sie gleichzeitig als Schuldmägde und -knechte zu versklaven, um ihre Kolonien aufzubauen. Wir können annehmen, dass England in der Kolonialisierung deshalb eine Vormachtstellung einnehmen konnte, weil die Herrschenden gezielt die enteigneten Bevölkerungsmassen in den Kolonien eingesetzt haben.

Im etwa gleichen Zeitraum (1607) gründete die Virginia Company ihre erste Siedlung in Amerika: Jamestown. Francis Bacon, welcher maßgeblich an der Entstehung der neuen Strafgesetze in Großbritannien beteiligt war, hatte ebenfalls in die Virginia Company investiert. Er war es auch, der die nächste Herrschaftsmethode innerhalb der neuen Verhältnisse etablierte durch die Deportation von Strafgefangenen in die soeben gegründeten Kolonien. Er meinte,

»die sicherste Methode zur Vermeidung von umstürzlerischen Aktivitäten […] ist sie körperlich zu entfernen«. »Denn wenn der Brennstoff bereitsteht, ist es schwer vorherzusagen, wann der Funke kommen wird, der ihn in Brand steckt.«

Im Zusammenhang mit dem Bettlergesetz von 1597 entstand so die Praxis, straffällige Vagabunden in die Kolonien zu deportieren.

Bestrafung und Kolonialisierung

Dieser Prozess dehnte sich auch auf Irland, Afrika, die Karibik und Amerika aus. Dort wurden die bekannten Methoden der Enteignung, Bestrafung und Kontrolle wiederholt und durch neue, den hiesigen Gegebenheiten entsprechende, ergänzt. 1563 stieg England in den Sklavenhandel ein. Bereits 1555 brachte John Lok die ersten ghanaischen Sklaven nach England, damit sie die englische Sprache lernten, um sie schließlich in Ghana als Übersetzer für Sklavenhändler einzusetzen. Und auch die deutsche Handelsfamilie der Fugger, welche die Niederschlagung der revoltierenden Bäuer:innen 1525 maßgeblich finanzierte, investierte bereits in den Sklavenhandel. Nur wenige Jahre nach der Landung Kolumbus‘ in Amerika erreichten Vertreter der Fugger 1499 mit 13 Schiffen Brasilien und annektierten es für die portugiesische Krone.

Die Aufständischen aus den Gefängnissen Großbritanniens wurden in großer Anzahl als sogenannte Schuldknechte und -mägde in die Kolonien deportiert. Viele revoltierten bereits auf der Überfahrt, und ebenso flohen viele Zwangsarbeiter:innen von den Plantagen der Virginia Company. Waren sie geflohen, trafen sie auf die indigenen Gemeinschaften der Umgebung und wurden von diesen aufgenommen. In der Folgezeit organisierten Indigene, die europäischen Schuldknechte und -mägde und entflohene Sklav:innen gemeinsame Aufstände gegen die Plantagenbesitzer. Gefangene, Seeleute und Natives taten sich dabei zusammen, um Waffen und Werkzeuge aus den Vorratslagern der Virginia Company zu schmuggeln. In Jamestown desertierte während des Winters 1609/10 etwa jeder siebte Schuldknecht.

Kolonialisierung und Spaltung

Die Antwort der Herrschenden auf die desertierenden und aufständischen Arbeiter:innen in den Kolonien war eine Ausweitung der Strafgesetze, welche 1610 zur »Abfassung der Göttlichen, Moralischen und Militärischen Gesetze«4 führte, an denen auch Francis Bacon als Berater beteiligt war. Sie bestanden aus 37 Artikel, von denen 24 die Todesstrafe vorsahen. Sie waren vor allem militärischer Natur. Einer der Hauptzwecke war es, Schuldknechte, Indigene aus Amerika und Sklav:innen aus Afrika voneinander fernzuhalten. Die Gesetze autorisierten den eingesetzten Gouverneur der Kolonie Sir Thomas Gate dazu, das Kriegsrecht zu verhängen, um die Kolonie zu disziplinieren und die Gewinne der Aktionäre zu sichern.

Doch auch in Virginia (Jamestown) entflohen Leibeigene und Sklav:innen nach wie vor gemeinsam und gingen in den Widerstand. Dies führte in den Jahren 1661 und 1662 zu einer weiteren Reihe von repressiven, spalterischen Gesetzen, in denen Leibeigene für die Zeit der Abwesenheit des Herren für die Sklav:innen verantwortlich erklärt wurden. 1664 wurden außerdem sogenannte »Mischehen« unter Strafe gestellt.

Der Widerstand der Arbeiter:innen kam 1675-76 in der Bacon-Rebellion zum Ausbruch. Im September kämpften Sklav:innen und Leibeigene gemeinsam gegen die Sklaverei. Sie brannten Jamestown nieder und plünderten die Ländereien. Es handelte sich um etwa 400 bewaffnete Sklav:innen und Leibeigene. Bei den Verhandlungen mit der englischen Seite wurde versucht, die Gruppe zu spalten, indem den Leibeigenen bessere Bedingungen versprochen wurden. Einige nahmen das Angebot an, andere desertierten, wieder andere wollten den Kampf fortsetzen. 80 Sklav:innen und 20 Leibeigene blieben unter Waffen. Letztlich mussten sie kapitulieren.

Um ihr System zu stabilisieren, trennten die Herrschenden zeitweise die Leibeigenen (in der Regel europäische Schuldknechte und -mägde) von den Sklav:innen. Diese Spaltung wurde auf Barbados in dem umfassenden Sklaven- und Leibeigenenkodex von 1661 festgeschrieben, der zum Vorbild von ähnlichen Kodexen für andere Inseln wurde. Die Plantagenbesitzer versagten den einen uneingeschränkten Privatbesitz, während sie den anderen Schutz vor Gewalt und Ausbeutung gewährten. Die europäischen Schuldknechte wurden als eine Arbeiterelite aus Handwerkern, Aufsehern und Milizionären eingesetzt, die bewaffnet bei der Niederschlagung von Aufständen eingesetzt wurde.

1682 wurden weitere Gesetze erlassen, um die Menschen zu spalten: Versklavte Afrikaner:innen sollten Zeit ihres Lebens Sklav:innen bleiben, während Indigene zwölf Jahre lang als Leibeigene dienen und europäische Schuldknechte und -mägde nur vier bis fünf Jahre in befristeter Leibeigenschaft zubringen sollten. Außerdem wurden zunehmend europäische Schuldknechte und -mägde durch afrikanische Sklav:innen ersetzt. Ab den 1670ern wurden überall in den britischen Plantagenkolonien Gesetze erlassen, die die »christlichen« – das heißt zunehmend »weißen« – Kolonisten unterstützen und schützen sollten. Spätestens 1680 war die Ära des gemeinsamen Widerstands der Aufständischen aus drei Kontinenten als der wichtigsten revolutionären Kraft im atlantischen Raum vorbei.

Der Blick in die Geschichte

Der Blick in die Geschichte der Kolonialisierung zeigt, wie eng die Kämpfe gegen die Zerstörung der dörflichen Lebensweise überall auf der Welt zusammenhingen. Der Kampf gegen die Angriffe der Herrschenden wurde über den Atlantik hinweg auf allen drei Kontinenten gemeinsam geführt. Die Situation der Menschen in Westafrika tauchte in den Analysen der Widerstandsbewegungen in Großbritannien, die der Levellers und Diggers5, ebenso auf wie die Situation auf den Plantagen der ersten Kolonien Nordamerikas. Die Levellers organisieren sogar eine Flotte aus sechs Schiffen, die vor die Küste Westafrikas fuhr, um Sklavenschiffe zu befreien. Und auch die Menschen in Afrika und Nordamerika machten ihre eigenen Analysen über die Zustände in Europa.

Gleichzeitig wird deutlich, wie die Herrschenden eine gezielte Politik der Spaltung betrieben, nach dem alten römischen Motto von »Teile und Herrsche« und wie so der Grundstein für einen institutionalisierten Rassismus gelegt wurde, welcher es den Kolonisten ermöglichte, die Aufstände zu befrieden und ein System zu etablieren, welches auf der Aneignung der Arbeit versklavter und rassifizierter Menschen basiert. Die entstehenden Wissenschaften bzw. die Weiterentwicklung vorhandener, welche immer mehr das Weltbild der Religion ablösten, lieferten zudem die »wissenschaftlichen« Erklärungen, welche die Unterdrückung und Ausbeutung rechtfertigen sollten. Dass ausgerechnet Akteure wie Francis Bacon, der als Gründervater der modernen Wissenschaft gilt, gleichzeitig bei den Enteignungen und der Kolonialisierung eine zentrale Rolle spielte, zeigt, wie gezielt die verschiedenen Herrschaftsmethoden und ideologischen Leitlinien des Systems entwickelt und umgesetzt wurden.

Aus diesem System der Ausbeutung, das sich bald über die ganze Welt spannen sollte, entstand so der globale Markt und ein Wirtschaftssystem, das zwar vorgibt, keine Sklaverei mehr zu brauchen, um diesen Markt aufrechtzuerhalten, der aber immer noch überall auf den gleichen Methoden der Ausbeutung und Unterdrückung aufbaut: auf dem Ungleichgewicht der Macht des globalen Westens über den ausgebeuteten globalen Süden. Dieser Realität müssen wir uns in Europa bewusst sein. Die Lösungen aus dieser Krise können wir nur in Verbundenheit und aktiver Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen des globalen Südens erreichen. Nur in der Auseinandersetzung mit ihnen können wir die eigene Kolonialisierung erkennen und der Kollaboration mit den Herrschenden etwas entgegensetzen.


 Fußnoten

1 Das Heilige Römische Reich, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, galt vom Spätmittelalter bis 1806 als offizielle Bezeichnung für das seit dem 10. Jahrhundert bestehende Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser und bildete ein aus zahlreichen Territorien bestehenden Verband, aus dem dann 1871 als Nationalstaat das sog. Deutsche Reich gegründet wurde.
2 Das Königreich Großbritannien entstand erst 1707 (1. Mai) durch den »Act of Union« (»Vereinigungsgesetz«), den Zusammenschluss der Königreiche England und Schottland, wodurch der drohende Staatsbankrott Schottlands abgewehrt wurde.
3 Linebaugh, Peter / Rediker, Marcus: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Berlin / Hamburg, Assoziation A 2008. S. 31.
4 For the Colony in Virginea Brittania. Lawes Divine, Morall and Martiall, &c.
5 Während des englischen Bürgerkrieges (1642-1649) entstandene früh­demokratische Bewegungen.


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024